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Klinische Ergebnisse.
Gesammelt
in dem
Königlichen poliklinischen Institut der Universität
von
dessen Assistenzärzte
Dr. Ouarö jfijcnoclj,
und herausgegeben
VM
'
%_V: M.-/
von
Dr. iltorit; fjeinrirl) Komb erg,
Ritter des rothen Adlerordens dritter Klasse mit der Schleife, ordentlichem •
öffentlichem Professor der Heilkunde, und Direktor des Königlichen
poliklinischen Instituts der Friedrich - Wilhelms - Universität
zu Berlin.
Mit zwei Abbildungen.
Berlin, 1846.
Albert Förstner.
'•i . m *i Hwk ■ ut/ni (is h/iiiiUiln« MbUsil'itf
Digitized by the Internet Archive
in 2015
https://archive.org/details/b22327903
Seiner Excellenz
dem Königlichen Preussischen Wirklichen Geheimen
Staats- und dirigirenden Minister der geistlichen,
Unterrichts- und Medizinal- Angelegenheiten ,
Ritter des rothen Adlerordens erster Klasse,
Herrn Doctor Eichhorn,
aus inniger Verehrung und Dankbarkeit.
Vorwort.
Bei dem Antritte meines klinischen Lehramts über-
nahm ich eine dreifache Verpflichtung: gegen die Zu-
hörer, gegen die Staatsbehörde, gegen die Wissenschaft.
Meinen Zuhörern gegenüber setze ich die Treue
der Wahrheit allem Andern vor. Die Lücken, wo
sie vorhanden, aufzudecken, ist mein Bemühen, nicht
sie mit phantastischen Ausschmückungen zu verhüllen.
Ich halte es für unverträglich mit meinem Gewissen,
Erklärungen abzugeben , wo keine gegeben werden
können, wo die Zwischenglieder noch unbekannt sind.
Den Fortschritten der Medizin hat diese Erklärungs-
sucht geschadet, hat dem Dilettantismus freie Bahn
gemacht, während die exacten Wissenschaften mit ge-
bührender Strenge sie von sich weisen. Eben so
sehr liegt mir aber daran, den Weg anzudeuten, auf
welchem Thatsachen gewonnen werden. Die Zeiten
sind zum Glück vorüber, wo ein von der Menge
angestauntes Ahnungsgefühl den Nimbus strahlender
machte — in unsern Tagen kann und muss die Me-
thodik der Beobachtung, womit die propädeutische
Einübung der einzelnen Untersuchungsweisen nicht zu
verwechseln ist, einen Haupttheil des klinischen Unter-
richts bilden. Der Zuhörer darf jetzt Anspruch an den
Schlüssel zu den Bestimmungen des Lehrers machen,
und wird dieselben nicht mehr wie Sprüche vom py-
thischeu Dreifuss hinnehmen wollen. Den Gans; und
Zusammenhang in der Untersuchung klar zu machen,
ist eine wichtige Aufgabe des klinischen Lehrers, deren
Lösung er nicht voraussetzen darf. Der Zuhörer lernt
dadurch von Anfang an seine Fragen motiviren und
überflüssige meiden , was den Aerzten wahrlich nicht
immer als Vorzug angerühmt werden kann. Auch
stellt sich dabei die Schwierigkeit der Forschung deut-
lich heraus und, was besonders wichtig ist, in vielen
Fällen die Unmöglichkeit, bei der ersten Untersuchung
zu einem genügenden Resultate zu gelangen. So wird
die Oberflächlichkeit vermieden, der Ernst augeregt,
der Eifer belebt, mehr als durch die flüchtige Ueber-
raschung mit einer diagnostischen Entdeckung. Allein
nicht nur der Erkenntniss und Beobachtung der Krank-
heit und ihrer Eigentümlichkeit in dem Individuum,
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auch der Behandlung suche ich in vollem Umfange die
Methode und Kritik der Beobachtung zu Thoil werden
zu lassen. Wenn die ältere Zeit sich nicht frei von
Pedanterie und therapeutischer Orthodoxie hielt, so
tritl't die neuere der Vorwurf der Nichtachtung und
Leichtgläubigkeit, und immer mehr und mehr droht
der Heilzweck Nebensache zu werden. Daher drängen
sich von allen Seiten Unberufne ein, und finden wegen
grosser Consequenz leicht Anhang bei den in Betreff
ihrer Gesundheit stets abergläubigen Menschen. Wer
jedoch im Rezept das Auskunftsmittel sucht, irrt gewal-
tig, täuscht sich und Andere: vielmehr sei das Stre-
ben im klinischen Vortrage darauf gerichtet, die Fälle,
wo der Pruritus praescribendi überwunden werden
muss, von jenen zu unterscheiden, wo wir mit unsern
Hülfsmitteln einschreiten müssen. Auf diesem Wege
werden Skepsis und Superstition, beide gleich un-
fruchtbar für das therapeutische Wirken, am sichersten
verhütet. Müssen Verordnungen getroffen werden, so
liege das Detail nicht minder ob wie bei einer diagno-
stischen Untersuchung. An den Physikern und Che-
mikern nehme der Arzt ein Beispiel, mit welcher Ge-
nauigkeit die zeitlichen und räumlichen Verhältnisse
für das Experiment bestimmt werden. In einem poli-
VIII
klinischen Institut sind solche Maassgaben um so noth-
wendiger, weil sich der sorgfältigen Ausführung ohne-
hin Schwierigkeiten entgegenstellen, die in einer sta-
tionären Klinik nicht obwalten. Ueberhaupt erschwert
der Mangel an einer Controlle der Kranken, *wie sie
im Hospital durch das Wartungspersonal erzielt wird,
die Beobachtungen, und lässt manche unvollständig.
Dafür werden der Poliklinik andre unverkennbare Vor-
züge zu Theil. Abgesehen von der Kenntniss des
Anfangs vieler Krankheiten und ihrer Successionen ist
die Bekanntschaft mit leichten und flüchtigen Affektionen
von Wichtigkeit, weil sie die häufigeren Vorkommnisse
des Praktikers sind, hinter denen in unsern Tagen so
oft kolossale und gefährliche Zustände gewittert wer-
den. Während im Hospitale nur die Krankheit im
Menschen den Zuhörer fesselt, lernt er hier den Men-
schen in der Krankheit kennen. Der grosse Einfluss
der Leidenschaften und Vorurtheile, der sich in der
Hütte wie im Pallaste geltend macht, tritt unverhüllt
vor’s Auge, und der Anblick eines schweren Kranken,
umringt von den Seinen, weckt früh die humane Rich-
tung, welche, wenn sie nicht in Heuchelei und Schein-
heiligkeit ausartet, des Arztes harte Laufbahn mit ihrer
Milde erleichtert.
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Die Wirksamkeit des klinischen Lehrers beschränkt
sich jedoch nicht auf die Zuhörer, auch aul den ärzt-
lichen Bildungsgang im Allgemeinen muss sie sich aus-
dehnen, und dies ist der Standpunkt, welchen jener
zur Staatsbehörde einzunehmen hat. Ihm wird es vor
Andern durch seine nahe Verbindung mit dem selbst-
thätigen Zuhörer möglich, eine gründliche Einsicht in
die gegenwärtige Haltung des medizinischen Studiums
zu erwerben, und dessen androhendem Verfalle nach
Kräften entgegenzuwirken. Es ist hier nicht der Ort, auf
die mannigfaltigen Ursachen mangelhafter Vorbereitung
und Durchbildung, worüber so häufige Klagen erhoben
werden, einzugehen, allein zwei scheinen mir wichtig
genug namhaft gemacht zu werden: die nutzlose Ver-
vielfachung der von den Docenten gehaltenen klinischen
Vorträge, und das drohende Gespenst der Staatsprüfungen.
Die erstere bringt Verwirrung, und erschwert der be-
treffenden Behörde die Sorge und den Schutz, welche
für die von ihr für hinreichend erachteten medizinischen
Seminare nothwendig sind; das zweite treibt zur exa-
minatorischen Einschulung, die mit dem Aufschwung
des akademischen Lehrens und Lernens unverträglich ist.
Endlich darf mit vollem Rechte die Wissenschaft
Ansprüche an den klinischen Lehrer machen, und zwar
'T*
X
den wichtigsten unter allen in unsrer Zeit: das Zer-
splittern in vereinzelte Richtungen zu verhüten, damit
nicht in blosse Virtuositäten ausarte, was, wenn auch
in geringerer technischer Ausbildung, durch Ineinander-
greifen und Zusammenwirken den Fortschritt der Wis-
senschaft fördern kann.
Die folgenden Blätter enthalten klinische Ergeb-
nisse, welche, aus den über die Kranken aufgenom-
menen Protokollen gewissenhaft zusammengestellt, Zeug-
niss geben sollen von meinem Bemühen, das physio-
logische Princip in der Beobachtung aufrecht zu halten,
und einige therapeutische Wahrheiten gemeinnützig zu
machen, deren wir noch weit mehr bedürfen.
Berlin, im Januar 1846.
Dr. Romberg.
\
Inka 1 t.
Seite.
Krankheiten des Nervensystems.
l. Sensibilitätneurosen.
1. Hyperästhesieen 1
2. Anästhesieen 12
II. Motilitätneurosen.
c
1. Hypercinesen IS
2. Acinesen 47
m. Logoneurosen 72
IV. Trophoneurosen 75
Krankheiten des Blutes 82
Krankheiten des Nahrungskanals und seiner Anhänge 119
Krankheiten der Geschlechts - und Harnorgane 141
Krankheiten der Respirationsorgane 152
Krankheiten des Circulationsapparats 172
Krankheiten der Haut 178
.
.
•
'
•
.
Krankheiten des Nervensystems.
I. Sensibilitätneurosen.
1. HYPER AEST HESLEEN .
"W" ährend schmerzhafte Empfindungen im Gesichte häufig
auf hysterischer Basis beobachtet wurden, boten sich nur zwei
Fälle von achter Neuralgia Quinti dar, in welchen die
Symptome der Krankheit entschieden ausgesprochen waren.
Ein 72 jähriger Mann litt bereits seit fünf Jahren an
einer Neuralgie des ersten und zweiten Astes des rechten
Quintus in i Irrer ganzen Ausdehnung. Vorzüglich heftig
war der Schmerz zwischen dem Nasenflügel und dem innern
Augenwinkel, wo schon die leiseste Berührung genügte, den
Schmerzanfall und durch Reflexaction Muskelzuckungen her-
vorzurufen. Bemerkungswerth war der Umstand, dass sich bei
diesem Kranken ein Zoster auf der rechten Seite des Rückens
mit augenblicklicher Linderung der Neuralgie entwickelte.
Nach dem Abtrocknen des Exanthems jedoch kehrte dieselbe
in ihrer früheren Heftigkeit wieder, und widerstrebte hart-
näckig allen angewandten Mitteln.
In dem zweiten Falle, bei einer 48 jährigen Wittwe,
hatte die Krankheit schon zwölf Jahre bestanden. Die bis
zu jener Zeit stets gesunde Frau hatte sich damals beim
Waschen der Zugluft ausgesetzt, wobei sie nach ihrer Aus-
sage plötzlich die Empfindung hatte, als ob etwas den Rücken
aufwärts über Nacken und Scheitel fortlaufe, und sich in der
regio zygomatica dextra fcstsetze. Hieraus entwickelte sich
die Neuralgie, deren Anfälle, anfangs seltener, alftnäldig an
Häufigkeit Zunahmen, vorzugsweise zur Nachtzeit eintraten,
und eine entschiedene Abhängigkeit von den Veränderungen
1
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des Wetters kund gaben. Auch zeigte sich eine bedeutende
Steigerung der Schmerzen nach dem Aufhören der Catame-
nien. In diesem Falle beschränkte sich die Neuralgie nicht
allein auf den ersten und zweiten Ast, sondern auch der sensible
Nerv der Zunge nahm lebhaften Antheil. Im Anfälle schwoll
die leidende Gesichtshälfte stark auf, die Arterien derselben
klopften stürmisch, und es machten sich Mitempfindungen
im Hinterhaupt und Nacken bemerkbar. Ueber che Art des
Schmerzes befragt, gab die Kranke zur Antwort, es käme ihr
vor, als sei die rechte Seite des Gesichts mit Fäden durch-
zogen, an denen von innen her langsam und nachhaltig gezerrt
würde. Aeussere Berührung, Sprechen und Bettwärme riefen
den Anfall leicht hervor, weshalb die Unglückliche vorzog, die
Nächte in fast sitzender Stell img auf dem Sopha zuzubringen.
Alle angewandten Mittel, sowohl antiphlogistische, als reizende,
Dampfbäder, das kohlensaure Eisen, der endermatische Ge-
brauch des Morphium, das Veratrin, waren ohne Erfolg ge-
blieben, und der Elektromagnetismus hatte das Uebel noch
verschlimmert. In diesem Zustande wurde am 18. Februar
1845 das von Bell empfohlene Oleum Crotonis zu ^ Tropfen
Morgens und Abends verordnet, worauf bereits am 6. März
die Kranke nicht allein im Allgemeinen Linderung spürte,
sondern auch von dem unerträglichen Schmerze in der Zunge
gänzlich befreit zu sein angab. Allein nach einiger Zeit ist
derselbe wieder in seiner früheren Heftigkeit zurückgekehrt.
Ausserdem kamen noch zwei Fälle von intermittiren-
d e m Gesicht sschmerz zur Behandlung. In beiden hatte der
Schmerz im ersten Aste seinen Sitz, und war von Röthung
der Bindehaut und reichlichem Thränenausfluss begleitet. Der
Typus war der quotidiane, die Zeit des Anfalls zwischen 9
und 11 Uhr Vormittags. Der eine dieser Kranken war be-
reits seit acht Jahren in jedem Herbst von dieser Affektion
befallen worden. Das schwefelsaure Chinin bewirkte bei ihm
schnelle Heilung; im zweiten Falle kann der Erfolg des
Mittels nicht mit Gewissheit angegeben werden, da der Kranke
während der Kur wegblieb.
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Unter den Spinalnerven waren die N. occipitales
und cervicales, nächstdem die N. intercostales , vor-
zugsweise beim weiblichen Geschlecht, am häufigsten der
Sitz neuralgischer Affektionen. Doch sei man vorsichtig in
der Annahme einer Neuralgia o c c i p i t a 1 i s, indem dieselbe
leicht zur Verwechslung mit andern wichtigeren Affektionen
Anlass ff eben kann. Die Schmerzanfälle im Verlaufe der
O
Hinterhauptsnerven mit erschwerter Beweglichkeit des nach
der leidenden Seite hinübergezogenen Kopfes können nämlich
auch da Vorkommen, wo ein entzündlicher Process in den
knöchernen imd ligamentösen 'Hüllen des Rückenmarks statt
findet. Als Beispiel diene folgender Fall:
Eine 43jährige kräftige Frau klagte seit einem halben
Jahre, ohne eine Veranlassung angeben zu können, Aiber
reissende Schmerzen hn Hinterhaupte und Nacken, die in
Anfällen, besonders zur Nachtzeit, auftraten und dann sowohl
aufwärts bis zum Scheitel, als auch abwärts in die Schultern
und Oberarme strahlten. Schwindel und Flimmern vor den
Augen verliessen die Kranke nur selten. So weit waren die
Symptome denen einer Occipitalneuralgie ganz ähnlich. Bei
genauerer Untersuchung ergab sich jedoch, dass die Beweg-
lichkeit des Kopfes auch ausser der Zeit der Schmerzanfälle
erschwert war, und Drehbewegungen desselben nur unter
lebhafter Schmerzäusserung ausgeführt wurden. Ein starker
Druck auf die obersten Halswirbel rief sogleich den Schmerz
hervor. Dazu gesellte sich das Merkmal, dessen schon Rust
als eines pathognomonischen erwähnt, dass die Kranke, sobald
sie die liegende Stellung mit der aufrechten vertauschen wollte,
den Kopf nicht ohne Hülfe aufzurichten vermochte, sondern
diese Bewegung durch die unter das Hinterhaupt gelegte
Hand unterstützten musste. Diese Symptome machten die
Annahme einer reinen Neuralgie in diesem Falle unstatthaft,
dagegen die einer chronisch entzündlichen Reizung in den
obersten Halswirbeln, zumal in ihrem ligamentösen Apparate,
wahrscheinlich. Demgemäss ward die Kur mit der Application
blutiger Schröpfköpfe in die Hinterhauptsgegend erüflhet, dann
i *
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ein Vesicator in den Nacken gelegt und lange Zeit offen
erhalten. Im Umkreise desselben wurden Einreibungen mit
grauer Salbe gemacht und innerlich starke Ableitungen auf
den Darmkanal mittelst Calomel und Rad. Jalappae verordnet.
Durch diese beharrlich fortgesetzte Behandlung wurde die
Kranke binnen sechs Wochen vollständig hergestellt. Gegen
die reine Neuralgia occipitalis verordnete man mit dem besten
Erfolge Einreibungen der Veratrinsalbe (3ß auf Fett), vier-
mal täglich eine Haselnuss gross so lange verrieben, bis ein
Gefühl der Erstarrung und des Prickelns* eintrat.
Sehr häufig beruhen die Neuralgieen der Occipital- und
Cervica Inerven auf einer hysterischen Basis, ein Umstand,
der in therapeutischer Hinsicht gewürdigt werden muss. In
einem solchen Falle, bei einer 36jährigen Frau, entwickelten
sich auf der Höhe jedes Schmerzanfalls unter der Kopfhaut am
Hinterhaupt und Scheitel kleine Geschwülste, die bald von selbst
wieder verschwanden. Der längere Zeit fortgesetzte Gebrauch
von Pillen aus Ferrum carbonicum und Rheum hatte in diesem
wie in einem ähnlichen Falle entschiedene Besserung zur Folge.
Dieselben Mittel erwiesen sich hülfreich in vielen Fällen
der Neuralgia inte r costa 1-is, einer Krankheit, die fast
nur beim weiblichen Geschlecht vorkommt und sein häufig
unter dem heutigen Collectivnamen „Spinalirritation” begriffen
wird. Ein Druck auf die Stelle, wo der befallene Intercostalnerv
aus dem Wirb elkanale heraustritt, erregt lebhaften Schmerz,
der sich nach dem Gesetz der excentrischen Erscheinung in
der Ausbreitung des Nerven auf der vordem Brustfläche
äussert. Nur einmal winde diese Neuralgie bei einem
(53jährigen) Manne beobachtet, welcher seit sechs Jahren
nach dem Verschwinden eines nässenden Flechtenausschlags
an derselben litt. Der Schmerz wurde hier durch einen Druck
auf den siebenten und achten Dorsalwirbel geweckt, imd gab
dann die Empfindung, als wäre ein eiserner Reif um das
Epigastrium gespannt. Aber auch in diesem Falle gingen
hysterische Erscheinungen, Gähnen, Zittern und Kälte der
Extremitäten dem Schmerzanfalle voraus.
o
Neuralgieen dev obern Extremitäten kamen in
der Klinik sein- häufig* vor, sowold als Begleiter von organi-
schen Krankheiten des Herzens und der grossen Gefässe, als
auch in Verbindung mit neuralgischen Affektionen andrer
Ivörpertheile.
Gegen Ischias zeigte sich, nach vorgängiger Ableitung
auf den Darmkanal mittelst starker Abführmittel, der äussere
und innere Gebrauch des Oleum Terebinthinae aethereum (zu
15 — 25 Tropfen, dreimal täglich) grÖsstentheils von entschie-
dener Wirksamkeit.
Nicht selten wurden Fälle beobachtet, welche eine Gruppe
von Neuralgieen in verschiedenen Körpertheilen darboten.
Die Kranken , ohne Ausnahme dem weiblichen Geschleckte
angehörig, klagten über schmerzhafte Empfindungen reissender
Art, die zwischen den Schultern, längs des ßückgraths, auf
der äussem Fläche der Brust, in den obern und untern Ex-
tremitäten ihren Sitz hatten, ohne sich auf eine bestimmte
Stelle zu fixiren. Bei einigen nahm der Schmerz auch das
Kniegelenk ein: die grösste Heftigkeit erreichte er in den
Fusssohlen und Fersen. Der Einfluss auf die Motilität war
in einigen Fällen unverkennbar: die Kranken litten zuweilen
an einem plötzlichen, einer elektrischen Erschütterung ähn-
lichen Zucken der Glieder, wobei sie, wemi die obern Ex-
tremitäten der Sitz des Leidens waren, die in ihren Händen
befindlichen Gegenstände fallen liessen. Gleichzeitig klagten
sie über ein allgemeines Schwächegefühl, und nicht selten
über die, unter dem Namen ardor volaticus bekannte Em-
pfindung einer sich plötzlich über das Gesicht verbreitenden
Brühhitze mit hervorbrechendem dünnen Schweisse. Fast
alle diese Kranken befanden sich in den climakterischen Jahren,
und leiteten ihre Leiden von dem Zeitpunkte her, wo die
Catamenien zu fliessen aufgehört hatten. Auch in den Fällen,
wo solche Schmerzen jüngere Frauenzimmer befielen, liessen
sich Störungen des normalen Verlaufs der Menstruation nach-
weisen.
In der Behandlung wurde, wenn es die Nothwcndigkeit
ß
erheischte, zuerst der congestive Antheil durch Blutentlee-
rungen und ableitendc Mittel beseitigt, dann aber das Oleum
Terebinthinae aether. sowohl als Einreibung, wie auch inner-
lich, und in V erbindung mit lauwarmen Bädern mit entschie-
denem Erfolge angewandt. In einem Falle bei einer 37jäh-
rigen Frau zeigte sich auch der fortgesetzte Gebrauch des
Kali hydriodicum sehr wirksam : die Schmerzen bestanden
liier seit sechs Jahren, seit welcher Zeit auch die sonst sehr
reichlichen Catamenien sparsam und schmerzhaft geworden
waren. Die gute Wirkung des Jods in diesem Falle mochte
grösstentheils von seiner die Menses befördernden Eigenschaft
abhängig sein : denn die Dysmenorrhoe verschwand, und die
Quantität des ausfliessenden Blutes nahm wieder merklich zu.
Hy perästhesieen der Sinnesnerven, insbeson-
dre des N. opticus, kamen zwar nicht selten, meistens jedoch
in Begleitung organischer Leiden des Centralapparats, oder
als Vorboten epileptischer Anfälle vor. Nur in einem Falle
trat die optische Hyperästhesie als Hauptleiden auf, und
wiu’de durch eine entsprechende Behandlung auch glücklich
beseitigt. Die Krankheit hatte einen 24jährigen, bisher ge-
sunden Mann befallen, der sich keiner Excesse bewusst,
jedoch durch eine unglückliche Liebe psychisch sein ange-
griffen war. Als er vor sechs Wochen einen Freund auf
dessen dunkles Zimmer begleitete, erfasste er spielend einen
auf dem Tische liegenden Gegenstand, in welchem er, beim
Einfallen eines blendenden Lichtstrahls durch die plötzlich
geöffnete Thür, zu seinem Schrecken einen Menschenschädel
erkannte. Von diesem Augenblicke an litt er an Phantasmen
vor dem rechten Auge : ein formloser leuchtender Gegenstand
schien sich seitlich ilun zu nähern, und nahm aümählig die
Gestalt einer in allen Farben strahlenden Scheibe an, welche
mit einer schwindelnden Schnelligkeit vor dem rechten Auge
licrumge schwungen wurde. Diese Erscheinung beunruhigte
den Kranken in so hohem Grade, dass er, vorzugsweise zur
Nachtzeit, von der heftigsten Angst ergriffen, Mutter und
Schwester Schutz suchend umklammerte, und sich endlich
in Verzweiflung weinend aufs Bett warf. Das Bewusstsein
blieb zwar in diesen Anfällen vollkommen imgestört, man
erkennt aber hieraus den mächtigen Eindruck, welchen die
optische Hyperästhesie auf die psychische Sphäre des von
ihr befallenen Kranken macht. Antagonistische Erregung der
Magennerven durch Emetica, denen man den Gebrauch der
Abführmittel folgen Hess, brachte in zehn Tagen die Heilung
zu Stande. *)
*) Ein diesem sich anreihender Fall, wo durch plötzliche Erregung
der Ketina eine centrale optische Hyperästhesie entwickelt wurde, welche
eine Monomania suicida zur Folge hatte, bot sich mir vor drei und
zwanzig Jahren zur Beobachtung dar:
'Wilhelmine F . . ., die 27 jährige Frau eines Handwerkers, von wohl-
genährtem, kräftigem Ansehen, erfreute sich stets einer ungestörten Ge-
sundheit. Mit einem biedern Charakter verband sie ein Gefühl von
Sittlichkeit, wie man es nur selten im niedern Stande antrifft, und grosse
Liehe zu ihren Angehörigen, besonders zu ihrer Mutter, über deren Tod,
welcher drei Jahre vor dem Ausbruche ihrer Krankheit erfolgt war, sie
sich nicht trösten konnte. Ihr steter Gedanke, sowohl im täglichen V er-
kehr als bei Vergnügungen, war die Verstorbene. So nahte sie ihrer
vierten Entbindung, welche wie die früheren glücklich von statten ging.
Am sechsten Tage nach derselben, als die Nacht hereinbrach, stand sie
aus dem Bette auf, um ihr Licht an einem hinter dem Bette stehenden
Lämpchen anzuzünden. Indem sie sich demselben nähert, erblickt sic
plötzlich an der dunkeln Wand eine von dem Schimmer der halbver-
deckten Lampe erleuchtete Stelle, und glaubt darin die Gestalt ihrer
Mutter zu erkennen, wie sie mit aufgehobener Hand sie zu sich winkt.
Angstvoll hebt sie zurück, und kann von diesem Augenblicke an sich
nicht von dem Wahne befreien, dass sie sterben müsse und auch wolle,
da ihr die Mutter selbst die Trennung von dem Leben angedeutet habe.
Nachdem der Locliialfluss, welcher in den früheren Wochenbetten stets
anderthalb Monate geflossen, schon am siebenten Tage aufgehört hatte,
während die Milchabsonderung ungestört fortdauerte, stellte sich eine
entzündliche Affektion des Bauchfells ein, die durch geeignete Mittel be-
seitigt wurde. Allein der Wahn fasste von Tag zu Tag festeren Fuss.
Einige Wochen später traten gegen Abend Fieberbewegungen ein, mit
erhöhter Gesichtsrötlie , Ohrensausen , F unkensehen und Erscheinungen
farbiger Kreise vor den Augen, welche die Kranke sehr beunruhigten
und in ihrem Geisterglauben noch mehr bestärkten. Eine massige anti-
phlogistische Behandlung, in Verbindung mit kalten Uebergiessungen im
lauen Bade, hatte indessen einen erwünschten Erfolg. Man sah der
Genesung entgegen, als sie in der zehnten Woche nach Eintritt der
Krankheit eines Morgens, während die Verwandte, die stets um sic war,
sich aus dem Zimmer entfernt hatte, den längst gehegten Vorsatz schnell
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Neuralgieen im Gebiete des N. sympathicus ga-
ben sich am häufigsten im Plexus mesentericus kund, boten
jedoch wenig Erhebliches dar. Nächst dem rheumatischen
Anlass und der Suppression der Catamenien war Bleiin -
toxication die häufigste Ursache. Der Unterleib zeigte in
einigen dieser Fälle weder in seiner Form noch Spannung
eine Abweichung vom Nonnalzustande. Brustbeklemmung,
neuralgische Schmerzen in den obem Extremitäten (einmal
auch eine unerträgliche stechende Empfindung in den Fuss-
sohlen), waren gewöhnliche Begleiter. Der blaue Bing um
das Zahnfleisch wurde nie vermisst, nicht selten auch der eigen-
thumkehe, von Stoll erwähnte, maniakalische Ausdruck des
Auges beobachtet. Die Behandlung bestand in Darreichung
des Ol. Croton. (zu einem Tropfen zweistündlich) bis Stuhlgang
erfolgte, und dem abendlichen Gebrauche eines Opiats.
DieNeuralgia car di a ca (Angina pectoris) wurde nur
in einem Falle, bei einem 4,0 jährigen Schneider, beobachtet,
welcher alle Erscheinungen der Krankheit in einem ausge-
zeichneten Grade darbot. Seit dem October 1843, bis zu
welcher Zeit er eine ungestörte Gesundheit gehabt, litt er an
Anfällen eines heftigen Schmerzes in der Herzgegend, der,
mit einem überwältigenden Gefühl von Angst und Druck
verbmiden, eine olmmachtähnliche Empfindung erzeugte, und
dem Kranken fast das Bewusstsein raubte. Der Schmerz
verbreitete sich nach dem Nacken, den Schultern und strahlte
auch in die obern Extremitäten bis zu den Fingerspitzen
ausführte. Man fand sie mit ihrem seidnen Halstuch an einem Fenster-
haken aufgeknüpft. Rettungsversuche blieben erfolglos. Bei der Lei-
chenöffnung fand ich die Arachnoidea stellenweise von trübem milchigem
Ansehen, und in der Gegend des Scheitels mit kleinen dünnen albumi-
nösen Exsudationen bedeckt. Die Pia mater liess sich sehr leicht von
den Hirnwindungen ablösen. Die Consistenz des Gehirns war überaus
derb und elastisch, so dass sich die mit der Fingerspitze hineingedrückten
Gruben sogleich von selbst wieder ausglichen. Die Seitenventrikel, deren
Epithelium injicirt war, enthielten eine unbedeutende Quantität seröser
Flüssigkeit. In der Brust- und Bauchhöhle zeigte sich keine krankhafte
Veränderung der Organe. Die Corpora cavernosa der Clitoris strotzten,
wie gewöhnlich bei erhängten Frauenzimmern, von venösem Blute. R.
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hinab. Hatte ein solcher Sohmerzanfall, der sein’ leicht durch
Anstrengungen und Bewegungen, vorzugsweise in der Kälte,
geweckt wurde, fünf bis zehn Minuten angehalten, so ver-
schwand er bei ruhigem Verhalten allmählig von selbst.
Die sein häufig beobachtete Abhängigkeit der Angina pec-
toris von Krankheiten des Herzens und der grossen Ge-
fässe veranlasste eine sorgfältige Untersuchung dieser Or-
gane. Zwar ergab die Percussion keine Volumen Veränderung
des Herzens, allein der Impuls war bedeutend verstärkt und
ein mit dem zweiten Herzton isochronisches Geräusch in
der Gegend der dritten Kippe am Rande des Brustbeins
deutlich wahrzunehmen, welches einer Veränderung in den
Aortaklappen seinen Ursprung verdankte. Wurde nun schon
diuch diese Complication die Prognose getrübt, so musste
dies um so mehr der Fall sein, als die Behandlung, bei dem
gänzlichen Mangel jeder Causalindication, keine feste Grund-
lage haben konnte. Aus der Anamnese ergab sich durchaus
kein Moment, welches über die Enstelnmg der Krankheit
hätte Aufschluss geben können : es leugnete der Kranke jede
Spm von Arthritis , deren Beziehung sowohl zur Angina
pectoris, wie zu den Affektionen der Klappen bekannt ist.
Unter diesen Umständen schritt man am 8. Mai zum Ge-
brauche des Argentum nitricum, eines Mittels, welches in
solchen Fällen, wenigstens zur palliativen Linderung, sein* zu
empfehlen ist. Es wurde anfangs zu ’ gr. zweimal täglich
in Verbindung mit Extr. Rhei comp, gegeben. Am 25. Mai,
nachdem die Dosis allmählig auf 3 gr. erhöht worden, hatten
die Schmerzanfälle sowohl an Frequenz wie an Intensität
nachgelassen, obwohl die physikalischen Symptome imverän-
dert fortbestanden. Bei der wiederholten Vorstellung des
Kranken am 5. November zeigte sich die Besserung noch
mehr vorgeschritten, die Anfälle traten nur noch selten ein.
Im Januar 1845 erfolgte plötzlich ohne alle Vorboten der Tod
des Kranken. Die Sektion wurde verweigert.
Beiläufig sei bemerkt, dass das salpetersaure Silber auch in
einer andern neuralgischen Affektion, der II ein i cran i a, welche
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die Plage so vieler, besonders weiblicher Kranken ist, sich
1 hilfreich erwies. Die Kur wurde gewöhnlich mit dem aus einer
Verbindung von Herb. Trifol. fibrin. ($j) mit Hb. Menthae
piper. (3 ß) bestehenden Tissor’schen Thee begonnen, dessen
anhaltender Gebrauch in manchen Fällen schon genügte, die
Krankheit zu lindern. Bei grösserer Hartnäckigkeit aber
hatte die Anwendung des Argentum nitricum, zu \ gr. pro
dos. zweimal täglich, in Verbindung mit Extr. Aloes (gr.j),
guten Erfolg.
Als Begleiter wichtiger Leiden des Centralorgans winde
der Hirn s c hm er z häufig beobachtet. Bei organischen
Hirnkrankheiten ward er nur selten vermisst, bestand sogar
zuweilen als einziges Symptom, z. B. im Beginne der Tu-
berculosis cerebri, und leitete als solches die Aufmerksamkeit
auf' das Gehirn. In dieser Beziehung verdient der Fall eines
9 jährigen Knaben Erwähnung, welcher sich vor fünf Jahren
durch eben Fall auf den Kopf ein Cephalaematom zugezo-
gen hatte. Durch den Schnitt geöffnet war dies glücklich
geheilt; allem seit dieser Zeit hatte sich ein heftiger Kopf-
schmerz m der Hinterhauptsgegend eingefunden, welcher zur
Zeit der Vorstellung des Kindes in der Klinik, am 16. De-
ccrnber 18-42, zu einem so hohen Grade gestiegen war, dass
der kleine Kranke den Kopf nicht mehr aufrecht tragen konnte,
sondern fortwährend anlehnte. Obwohl alle andern Symptome,
welche ein Leiden des Centralorgans zu bezeichnen pflegen,
hier fehlten, so musste doch, in Betracht dieser hartnäckigen
Cephalalgie, der injicirten Conjunctiva und der gleichzeitig
vorhandenen Stuhl Verstopfung, eine chronisch entzündliche
Affektion in den Hirnhäuten angenommen werden, eine Dia-
gnose, welche durch den Erfolg der angewandten Heilmethode
bestätigt wurde. Wiederholte örtliche Blutentleerungen am
Hintei’haupte und Nacken, Ableitungen auf den Darmkanal,
Einreibungen der Pockensalbe in die Haut des Nackens hat-
ten bis zum 6. März 1843 vollständige Heilung herbeigeführt. •
Ein andrer Fall, in welchem indess der KopfschmCTz
noch mit andern wichtigen Symptomen verbunden war, ist
11
durch seinen Ausgang merkwürdig genug, um liier eine Stelle
zu finden. Ein 37jäliriger kräftiger Maschinenbauer, der
nach seiner Angabe vor einem Jahre eine Gehirnentzündung
überstanden hatte, litt seit sechs Jahren an Eingenommenheit
und heftigen Schmerzen des Kopfes, die beim Bücken und
bei exspiratorischen Bewegungen , Niesen , Drängen zum
Stuhlo-ans u. s. w., bedeutend Zunahmen. Eine taumelnde
Empfindung verliess den Kranken selten, und sogar in sitzen-
der Stellung kam es ihm vor, als würde sein Körper von
einer Seite zur andern geschaukelt. Die rechte Pupille war
im Yerhältniss zur linken verengt; der Kranke sah die Ge-
genstände doppelt, imd wurde von einem anhaltenden Ohren-
sausen geplagt. Die Sprache war erschwert, die psychischen
Fähigkeiten, besonders das Gedächtniss, geschwächt. Alle
diese Symptome, verbunden mit Stuhlverstopfung und Brech-
neigung, mussten den Verdacht auf ein wichtiges Leiden des
Gehirns hinlenken. Dieser Annahme gemäss wurde am
14. Juli 1843, dem Tage der Vorstellung des Kranken, die
Km- mit .örtlichen Blutentlcenmgen am Hinterhaupte und
starken Ableitungen auf den Darmkanal eingeleitet, und diese
Mittel von Zeit zu Zeit wiederholt. Allein weder diese Me-
thode, noch das am 6. November in den Nacken gelegte
Haarseil, hatten den geringsten Erfolg : Heimeln nahmen alle
Erscheinungen in so hohem Grade zu, dass sich der Kranke
zu Anfang des Jahres 1844 in das Charitekrankenhaus auf-
nehmen Hess. Hier ward er plötzlich von einem mit dro-
henden Gehirnsymptomen auftretenden Erysipelas fäciei be-
fallen, wobei er fünf Tage lang in einem soporösen Zustande
dalag. Allein beim Erwachen aus demselben fand er sich
zu seinem freudigen Erstaunen von allen seinen frühem
Leiden befreit. Als er sich im Mai wieder in der Klinik
vorstellte , war von den obengenannten beunruhigenden
Symptomen fast keine Spur mehr vorhanden, und auch das
Gedächtniss vollkommen wiederhergestellt.
Die kritische Erscheinung des Erysipelas liefert einen
neuen Beweis, mit welcher Macht und Schnelligkeit die Na-
12
tur Hülfe schaffen kann, wo die kräftigsten, lange Zeit be-
harrlich fortgesetzten Mittel unwirksam geblieben sind.
2. Anaesthesieen.
Isolirte Anästhesie des N. trigeminus wurde nur zwei-
mal beobachtet.
Der erste dieser Kranken, ein 42jähriger Mann, Avel-
cher vor zwölf Jahren an einem syphilitischen Geschwür der
Eichel mit begleitender Anschwellung der Inguinaldrüsen
gelitten hatte, war Wächter in einem grossen Kaufmannshause,
und als solcher genötliigt, seit zwei Monaten die Nächte in
einem Hausflur zuzubringen, wo die linke Seite des Gesichts
einem, wenn auch nur unbedeutenden, doch anhaltenden Zug-
winde ausgesetzt war. In Folge davon empfand er bald reis-
sende Schmerzen in der linken Gesichtshälfle , zu welchen
sich Verlust der Empfindung gesellte, und den Kranken ver-
anlasste, in der Klinik Hülfe zu suchen. Bei der Untersu-
chung des Gesichts am 6. Mai 1844 zeigte sich der ganze
zweite Ast des linken N. trigeminus von Anästhesie befallen:
die Wange, die finke Nasenhälfte , das Innere derselben, so
wie auch die Schleimhaut des Mundes, das Zahnfleisch, wa-
ren auf dieser Seite vollkommen empfindungslos : tiefe Nadel-
stiche in diese Theile wurden durchaus nicht gefühlt, wäh-
rend bei nur oberflächlichem Stechen der Haut, die unter dem
Einflüsse des ersten und dritten Astes (Ramus temporal, su-
perfic.) steht, der Kranke sogleich durch eine zuckende Be-
wegung die fortbestehende Sensibilität zu erkennen gab. Die
Bewegungen der Gesichtsmuskeln linkerseits waren zwar
ausführbar, jedoch in gewissem Grade beschränkt, Avie dies
beim Versuch, eine schnüffelnde BeAA'egung der Nasenflügel
zu machen, deutlich hervortrat. Dabei klagte der Kranke
über zeitweise eintretende stechende Schmerzen in der ge-
fühllosen Gesichtshälfle, das Auge thränte oft, die Nase Avar
trocken und so AArie das Zahnfleisch der leidenden Seite sein
zu Blutungen geneigt. Auch gab der Kranke ausdrücklich
an, dass die von Anästhesie befallene Wange bei der Ein-
13
Wirkung der Kälte sogleich blauroth würde, womit die nor-
male Färbung der gesunden Wange auffallend contrastire.
Das Seh- und Geruchsvermögen waren imgestört, denn der
Umstand, dass der Kranke den in die linke Nasenhöhle ge-
stopften Schnupftabak nicht gewahr wurde, ist nur als eine
Folge der Unempfindlichkeit der sensibeln Schleimhautner-
ven, wobei der Olfactorius selbst unbetheiligt war, zu deuten.
Bemerkenswerth war noch eine Anschwellung des linken
Nasenbeins, welche seit dem Eintritte der reissenden Schmer-
zen m der linken Gesichtshälfte entstanden sein soll. In die-
sem Falle war der zweite Ast des N. trigeminus offenbar der
allein leidende Nerv. Die geringe Beschränkung der mi-
mischen Gesichtsbewegungen durfte nicht zur Annahme einer
gleichzeitigen paralytischen Affektion des N. facialis verlei-
ten, da der Kranke auf Geheiss alle diese Muskeln in Thä-
tigkeit setzen konnte. Auch stimmen damit die an Thieren
gemachten Beobachtungen überein, welche nach Durchschnei-
dung des Quintus dieselbe Beschränkung der mimischen Be-
wegungen in der leidenden Gesichtshälfte darbieten. Nächst
der Synergie zwischen den sensibehi und motorischen Nerven
stellt sich der den Anästhesieen überhaupt zukommende Ein-
fluss auf die trophischen Funktionen heraus. Die leidende
Wange zeigte sich gegen die Einwirkung der Kälte ungleich
empfindlicher als die gesunde ; die Nasenschleimhaut und das
Zahnfleisch neigten zu Blutungen. Die in der gefühllosen
Wange und Oberlippe von Zeit zu Zeit eintretenden heftigen
Schmerzen (Anaesthesia dolorosa) finden in dem Gesetze der
excentrischen Erscheinung ihre Erklärung.
Die anamnestische Untersuchung macht in diesem Falle
die Annahme einer rheumatischen Basis der Krankheit sein-
wahrscheinlich. Beachtenswerth ist zwar die vor zwölf Jah-
ren stattgehabte syphilitische Affektion, für deren Wirkung
sich noch die Anschwellung des linken Nasenbeins anführen
liess ; allein abgesehen davon, dass seit jener Zeit nicht die
geringste Spur einer schlummernden syphilitischen Dyscrasie
bemerkbar war, konnte die genannte Anschwellung auch ei-
14
nem rheumatischen Anlasse zugeschrieben werden, und zwar
mit um so grösserem Rechte, als sie gleichzeitig mit den
reissenden Gesichtsschmerzen vom Kranken bemerkt wurde.
In dieser Voraussetzung wurde dem Kranken das Kali hydrio-
dicum zu 5 Gr. vier Mal täglich in Solution verordnet, und
gleichzeitig die Jodsalbe in die unempfindlichen Theile einge-
rieben. Drei Wochen nach dem Beginne dieser Kur waren
bereits die stechenden Schmerzen in der von Anästhesie be-
fallenen Gesichtshälfte verschwunden ; in der Haut der Nase
und Wange gab sich wieder Sensibilität kund, und nur noch
die Oberlippe zeigte Spuren der früheren Anästhesie. Auch
diese verschwanden nach einiger Zeit bei fortgesetzter Be-
handlung, so dass der Kranke im Winter 1844 als vollstän-
dig geheilt in der Klinik vorgestellt werden konnte.
Der zweite Fall betrifft eine 56jährige, bis vor zwölf
Jahren stets gesunde Frau. Zu dieser Zeit bekam sie plötz-
lich in der linken Seite des Kopfes heftige, mit starkem
Schwindel verbundene Schmerzen, wobei das Gesicht nach
ihrer Angabe anschwoll und verzogen wurde, doch vermag
sie nicht die Richtung, nach welcher diese Verzerrung statt-
fand, näher zu bezeichnen. Eine energische antiphlogistische
Behandlung führte zwar zu jener Zeit Heilung herbei , doch
kehrte der Kopfschmerz auf derselben Seite von Zeit zu Zeit
wieder, und zu ihm gesellte sich ein Gefühl von Erstarrung
in der linken Gesichtshälfte, welches allmählig in vollkom-
mene Unempfindlichkeit überging. Bei der Untersuchung
der Kranken am 29. November 1844 zeigte sich das ganze
Gebiet des linken Quintus von der Anästhesie befallen: die
Stirn bis zum Scheitel hinauf, die Scldäfengegend, die vor-
dere Fläche des äusseren Ohrs, die Wange, die äussere
Fläche der Nase, die Ober- und Unterlippe waren völlig
empfindungslos. Nur am untern Rande des Unterkiefers gab
die Kranke beim Einstechen der Nadel Schmerzempfin-
dung zu erkennen , was sich aber leicht daraus erklärt, dass
die genannte Hautstelle einen Theil ihrer Sensibilität den
Cervicalnerven verdankt. Das Zahnfleisch, die Wangenschleim-
haut, auch die linke Zungenhälfte haben ihr Gefühlsvermö-
gen vollständig eingebüsst, und die Bindehaut des linken Au-
ges kann mit der Nadel durchstochen werden, ohne eine Spur
einer blinzelnden Bewegung des Augenliedes hervorzurufen.
Legt man die Hand flach auf die Temporalmuskeln und die
Masseteren und lässt Kaubewegungen vornehmen , so kann
man sich überzeugen, dass die genannten Muskeln auf der
linken Seite durchaus nicht agiren, während die rechten sich
kräftig zusammenziehen. Die Kranke selbst gesteht ihr Un-
vermögen auf der linken Seite zu kauen, woraus hervorgeht,
dass auch die motorische Portion des Nerven ihre Energie
verloren hat. Die Bewegungen der linken Gesichtsmuskehl
sind zwar auch in diesem Falle erschwert, doch insgesammt
ausführbar, so dass ein Verlust der Leitung im Facialis nicht
vorhanden ist. Die von Anästhesie befallene linke Wange
ist dunkelroth und contrastirt stark mit der blassen Farbe
der gesunden. In den Energieen der Sinnesnerven beider
Seiten will die Kranke keinen erheblichen Unterschied wahr-
nehmen: nur der Geruch imd Geschmack sind nach ihrer
Aussage auf der linken Seite etwas stumpfer, als auf der
rechten. Dieser Umstand findet indess seine Erklärung da-
rin, dass in sein- Gelen Fällen die vereinte Thätigkeit des
Sinnes- und der sensibeln Nerven erfordert zu werden scheint»
um einen bestimmten Geschmack oder Geruch recht scharf
hervortreten zu lassen.
Die Ausbreitung der Anästhesie über sämmtliche Aggre-
gate des Quintus musste schon den Verdacht von einem nur
die Gesichtsramificationen betreffenden Anlasse ablenken. Eben-
sowenig liess sich an eine im Centralorgane verborgene Ur-
sache denken, deren Folgen sich lediglich auf den Quintus be-
schränkt hätten. Es blieben somit drei Stellen übrig, an denen
der Anlass der Krankheit seinen Sitz haben konnte: 1) an der
Basis cerebri im Verlaufe des Nerven von seiner Insertions-
stätte im Gehirne bis zum Ganglion Gassen. Allein es wür-
den in diesem Falle einer oder mehrere der nahe gelegenen
.Nerven, der Abducens, Oculomotorius u. s. w., kaum einer
16
paralysirenden Wirkung entgangen sein, wenn ein comprimi-
render Anlass, eine Geschwulst, vorhanden wäre. 2) Im
Ganglion Gasseri. Gegen diese Annahme sprach der Um-
stand, dass in den Fällen, wo das Ganghon und der Quin-
tus in seiner Nähe als Sitz der Krankheit constatirt wurde,
gleichzeitig tropliische Störungen des Auges , Entzündung,
Trübung der Hornhaut, Ulceration u. s. w., beobachtet wur-
den, während in diesem Falle das Auge vollkommen unver-
sehrt erscheint. 3) Im Keilbeine. Man kann hier mit der
grössten Sicherheit Vorhersagen, dass eine Krankheit des
Keilbeins Ursache der Anästhesie ist, sei es nun eine Ge-
schwulst, die sich an dieser Stelle entwickelt hat, oder irgend
ein anderer Anlass, wodurch die drei Aeste des Nerven bei
ihrem Durchgänge durch die drei Oeffnungen des Keilbeins
beeinträchtigt und ihres L ei tungs Vermögens beraubt werden.
Bei der Hoffnungslosigkeit des langbestehenden Falles
und der Unwirksamkeit aller bereits angewendeten Heilmit-
tel wurde gar kein therapeutisches Verfahren eingeleitet.
Es ist hier der Ort, von einer Affektion zu sprechen,
welche zum Bereich der Anästhesieen gehört, und in der Klinik
öfters beobachtet wurde. Die Kranken, sämmtlich weiblichen
Geschlechts und Wäscherinnen, klagten über ein lästiges Ge-
fühl von Erstarrung in beiden Händen und Vorderarmen, wo-
mit sich nicht selten eine kribbelnde, dem Einschlafen der Glieder
ähnliche Empfindung in den Fingerspitzen verband. Dabei war
die Motilität durchaus nicht, die Sensibilität aber wesentlich
beeinträchtigt, indem, so weit das Gefiilil der Erstarrung
sich erstreckte, Nadelstiche nur sehr undeutlich, zuweilen gar
nicht empfunden wurden. In zwei Fällen, wo der Nervus
radialis vorzugsweise afficirt war, zeigten sich heftige Schmer-
zen als Begleiter, welche von der Badialseitc längs des Vor-
derarms bis in den Daumen, Zeige- und Mittelfinger sich
verbreiteten. Diese Anästhesie der Hautnerven des Vorder-
arms und der Hand verdankt ohne Zweifel der Beschäftigung
17
der Kranken ihren Ursprung: sie ist eine Folge der Ein-
wirkung der Lauge auf die sensibeln Nerven der Hand und
des Vorderarms, kommt als solehe ziemlich häufig vor, und
verdient mn so mehr Beachtung, wenn man damit eine
andere Einwirkung der Lauge auf die vegetative Sphäre
vergleicht, welche unter dem Namen Psoriasis lavatricum
bekannt ist. Was die Behandlung der erwähnten Anä-
sthesie betrifft, so genügt in den meisten Fällen die Entzie-
hung des schädlichen Einflusses zur Heilung : die Kran-
ken müssen das Waschen eine Zeitlang unterlassen , und
können gleichzeitig das Unguent. nervinum in die von der
Anästhesie befallenen Theile einreiben. Kecidive treten bei
den Verhältnissen solcher Kranken, welche ein längeres Aus-
setzen ihrer Beschäftigung verbieten, natürlich sein* leicht
ein.
Fälle von Anästhesie der Sinnesnerven waren zwar
meistens von einem Leiden des Centralorgans abhängig, und
demgemäss mit andern wichtigen Symptomen complicirt : bei
zwei Kranken jedoch trat die Affektion isolirt auf, und musste
von einem peripherischen Leiden hergeleitet werden. Im
ersten Fall waren die Nervi optici Sitz der Anästhesie.
Dei Kranke war ein 22 jähriger Anstreicher, welcher be-
reits an wiederholten Zufällen der Bleiintoxication , an der
Colica und Epilepsia satumina, gelitten hatte. Seit einiger
Zeit hatte sich Amblyopie auf beiden Augen eingestellt, wo-
bei die erweiterten Pupillen sehr träge gegen den Eindruck
des Lichtes reagirten. Da dieser Fall als Amaurosis satur-
nina gedeutet werden musste, so wurde zum innem Gebrauch
das Crotonöl verordnet , über den Augenbrauen Streifen von
Gantharidenpflaster applicirt , und eine Zeitlang in Eiterung
erhalten. Diese Behandlung, nebst lauwarmen, später mit
Kali sulphuratum versetzten Bädern, hatte zwar anfangs eine
entschiedene Besserung zur F olge, so dass der Kranke wie-
der deutlicher sah, und auch die Pupillen eine grössere Thä-
tigkeit verriethen: allein die Besserung war nicht von Be-
stand. Nach einiger Zeit trat wieder eine Verschlimmerung
2
18
ein, und alle angewandten Mittel, Strychnin, selbst der Elek-
tromagnetismus etc., blieben erfolglos.
Der zweite F all betrifft eine Anästhesie derNcrvi
olfactorii. Die 33jährige Kranke litt an deutlich ausge-
sprochenen Symptomen der Lues, reissenden, nächtlich exacer-
birenden Knochenschmerzen, Tophen am Stirnbein, dem be-
haarten Theil des Kopfes und dem linken Obei’armknochen,
syphilitischen Excoriationen am Gaumen, und Fluor albus.
Gleichzeitig war vollkommene Anosmie vorhanden, bei unge-
störter Sensibilität der Nasenschleimhaut. Die sofort einge-
leitete mercurielle Behandlung hatte ein baldiges Schwinden
der Knochenauftreibungen und der übrigen Symptome zur
Folge. Mit ihnen verschwand alhnählig die Anosmie, und
das Geruchsvermögen stellte sich vollständig wieder her.
Wahrscheinlich fand bei dieser Kranken eine ähnliche Wu-
cherung, wie auf der äussern Stirnbeinplatte, auch auf dem
Siebbeine statt, wodurch die Fasern der Riechnerven compri-
mirt und ihrer Energie beraubt wurden.
Bei zwei andern Kranken war die Anosmie Folge eines
starken Schnupfens und blieb ungeheilt. Bemerkenswerth ist
der Einfluss auf den Geschmack, der in solchen Fällen ge-
wöhnlich einen Theil seiner Schärfe einbüsst. Will man sich
von dem Grade der Anosmie selbst überzeugen, so hüte man
sich zu diesem Zwecke reizende Stoffe, z. B. Salmiakgeist,
zu benutzen, die mehr auf die sensibcln Nerven der Nasen-
schleimhaut als auf den Olfactorius wirken. Man wähle viel-
mehr stark riechende Substanzen, unter denen sich das
Ol. Asae foet. aeth. vorzugsweise eignet.
II. Motilitätneurosen.
1. HYPERCINESEN.
Krampfhafte Zufälle, bedingt durch Entzündung der
Kücken mar k s häute, wurden nur bei einem Ivranken,
einem neunjährigen Knaben, beobachtet. Veranlassung gab
plötzliche Suppression der reichlichen Hautsecretion durch
19
Niederlegen auf frisch gescheuerte Steinplatten. Rücken-
schmerz, tetanische Starrheit und peinigende Schmerzen in
den untern Extremitäten, plötzliche, elektrischen Erschütterun-
gen gleichende Zuckungen waren die Symptome, welche die
Krankheit als Meningitis spinalis cliarakterisirten. Die nicht
gesteigerte Reflexpotenz des Rückenmarks gab den Unter-
schied vom Tetanus: denn weder Eindrücke auf die sensi-
beln Nerven der Haut, noch der Sinnesorgane vermoch-
ten einen convulsivischen Anfall hervorzurufen. Erwäh-
nung verdient noch die vollkommene Unbeweglichkeit der
untern Extremitäten, die nicht als Lähmung, sondern nur als
eine durch den Schmerz und die starre Contractur der Mus-
keln bedingte Immobilität gedeutet werden muss. Durch eine
energische Antiphlogose (Blutegel an die Wirbelsäule, starke
Ableitungen auf den Darmkanal u. s. w.) wurde der kleine
Kranke binnen acht Tagen vollständig hergestellt.
Selu häufig wurde die unter dem Namen
Chorea St. Viti
bekannte Krankheit in der Klinik beobachtet. Unter zwölf
mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgten Fällen befanden
sich neun Mädchen, ein Knabe und zwei erwachsene Frau-
enzimmer (von 24 und 48 Jahren), ein Verhältniss, welches
mit dem von den bewährtesten Beobachtern angegebenen über-
einstimmt Ri'fz und mehrere andere Aerzte hatten nach
ihren Erfahrungen die Behauptung aufgestellt, dass die linke
Körperhälfte häufiger und gewaltsamer von den Choreabewe-
gungen afficirt würde, als die rechte. Die in der Klinik ge-
machten Beobachtungen stimmen hiermit nicht überein, indem
in jenen zwölf Fällen die linke Seite allein nur einmal, die
rechte dreimal und beide Seiten gleichzeitig achtmal ergriffen
waren. In mehreren Fällen begann die Krankheit auf einer
Seite, und ging nach Verlauf einiger Wochen auch auf die
andere über. Die Intensität und Extensität der Beweüruno'en
war sehr verschieden. Am häufigsten wurden nur die Ex-
tremitäten und die Zunge, zunächst die Gesichtsmuskeln be-
fallen. Seltener zeigten sich zuckende Bewegungen der Au-
2*
20
genmuskeln und der Muskeln des Nackens, wodurch der
Kopf nach verschiedenen Richtungen rückwärts oder seitwärts
gezerrt wurde. In einem Falle schienen auch die Muskeln
der Stimmritze an der Krankheit Theil zu nehmen. Die
48jährige Kranke litt bereits seit acht Jahren an der Chorea,
welche in Folge einer schweren Entbindung aufgetreten war.
Die rechte Körperhälfte, die Nacken- und Rückenmuskeln
zeigten sich vorzugsweise ergriffen. Gleichzeitig litt die
Kranke an Anfällen eines lästigen Singultus, die Inspiration
war nicht selten hastig und von einem ' laut pfeifenden Ge-
räusche begleitet, wie man es bei Verengerungen der Glottis
zu hören pflegt. In einigen Fällen erreichte die Intensität
der Bewegungen einen so hohen Grad, dass die Kranken im
Bette hin- und hergeworfen, ja aus demselben herausgeschleu-
dert wurden.
Bestimmte Ursachen Hessen sich in den meisten Fällen
nachweisen. Am häufigsten wurde Schreck als erregender
Anlass genannt. So ward ein zehnjähriges Mädchen, wel-
ches am Morgen durch einen anspringenden und laut bellen-
den Hund heftig erschreckt worden war, schon an demselben
Abend von der Chorea befallen'. Zunächst war Helminthia-
sis die häufigste Veranlassung. Bei einem Kinde, welchem
die Krankheit angeboren war, bestand sie schon neun Jahre
mit derselben Intensität. In einem andern Falle leiteten die
Eltern die Chorea von den Varioloiden her, nach deren, übri-
gens normalem Verlaufe dieselbe zurückgeblieben war. Dass
auch eine gewisse Familienanlage zu beschuldigen ist, bezeugt
der Fall eines an Chorea leidenden achtjährigen Mädchens,
dessen Mutter von einer Gemüthskrankheit, drei Geschwister
aber sämmthch von Epilepsie befallen waren. In neuerer
Zeit hat Bright auf den Zusammenhang dieser Krankheit
mit rheumatischen Affektionen, zumal mit der Pericarditis
hingewiesen, und nach ihm hat Babingt on mehrere Beobach-
tungen dieser Art bekannt gemacht. Auch in der Poliklinik
kamen einige in dieser Beziehung nicht unwichtige Fälle vor.
Ein gesundes neunjähriges Mädchen wurde vor einigen Wo-
21
chen von heftigen rheumatischen Schmerzen in den Gelen-
ken der rechten Extremitäten befallen, welche alhnählig ver-
schwindend den Choreabewegungen Platz machten. Ein
24jähriges Mädchen, avelches seit ihrem vierten Jahre an der
Chorea, besonders auf der linken Körperhälfte litt , bekam,
sobald Veränderungen des Wetters eintraten, heftige reissende
Schmerzen in den von der Krankheit befallenen Gliedern, be-
fand sich überhaupt im heissen Sommer ungleich besser, als
in der schlechteren Jahreszeit. Bei einer jungen Kranken,
welche erst seit sechs Wochen an der Krankheit litt, zeigten
sich zwar keine schmerzhafte Empfindungen, aber die Cho-
reabewegungen selbst steigerten sich auffallend beim Eintritte
nasser, stürmischer Witterung.
In der Behandlung wurde, wo es möglich war, zuerst
auf die Causalinclication Rücksicht genommen. Hiezu eig-
neten sich besonders frische Fälle, zumal wenn Verdacht auf
Hehninthiasis vorhanden war. Ein sechsjähriger , seit eini-
gen Wochen an Chorea leidender Knabe, in dessen Darmaus-
leerungen die Mutter nicht selten Spuren von Ascariden ent-
deckte, wurde durch den Gebrauch von Pulvern aus Calomel
und Rad. Jalappae, welche den Abgang grosser Mengen des
Oxyuris vermicularis zur Folge hatten, in kurzer Zeit voll-
ständig hergestellt. La den Fällen , wo die Causalinclication
' entweder ganz fehlte, oder nicht leicht zu erfüllen war , er-
üffnete man die Kur mit Ableitungen auf den Darmkanal
durch ein einfaches Infus. Fol. Sennae, und ging nach eini-
gen Tagen zum Gebrauche des Eisens über. Unter allen
Eisenpräparaten schien dasFeiTum hydrocyanicum die grösste
V irksamkeit in dieser Krankheit zu besitzen : es wurde Kin-
dern in der Dosis von 3 Gr. mit Pulv. Rad. Rhei verbunden
dreimal täglich zu nehmen verordnet , und hatte in frischen
I ällen schon nach wenigen Wochen bedeutende Besserung
zur I olge. In zwei Fällen wurden auch die von Baudeloc-
(iee dringend empfohlenen Bäder mit Kali sulphuratum, al-
lein ohne den geringsten Erfolg, in Anwendung gebracht :
22
nach einem vierwöchentlichen Gebrauch derselben zeigte sich
noch keine Spur von Besserung.
W enn die Heilung frischer Fälle der Chorea mit keinen
grossen Schwierigkeiten verbunden ist, ja bekanntlich nicht
selten, nachdem die Krankheit einige Zeit gedauert, spontan
erfolgt, so sind veraltete Fälle um so schwieriger zu besei-
tigen, und alle gewülmliche Mittel scheitern an der Hart-
näckigkeit derselben. Hier ist es nun der Arsenik, auf den
man sich noch am meisten verlassen kann. Die seine Wirk-
samkeit bestätigenden Fälle sind folgende:
1. Ein 1 1 jälu'iges Mädchen litt seit acht Jahren an einer
intensiven Chorea, besonders der rechten Körperhälfte, woran
auch die Nackenmuskeln lebhaften Antheil nahmen. Nach
Aussage der Mutter war die Krankheit nach den Pocken
zurückgeblieben, und alle schon seit einer Reihe von Jahren
versuchten Arzneimittel hatten sich erfolglos erwiesen. Am
22. November 1842 wurde zuerst die Solut. Fowleri verord-
net, da indess nach acht Tagen einige leichte Intoxicationser-
scheimmgen auftraten, eine Zeitlang wiederum ausgesetzt.
Nach dem Verschwinden der beunruhigenden Symptome be-
gann man ihren Gebrauch von neuem, imd zwar in steigender
Dosis. Diesmal wurde das Mittel gut vertragen: schon am
31. Januar 1843 gab sich eine merkliche Besserung kimd,
und am Schluss der Klinik, im März 1843, war das Kind
von seiner achtjährigen Krankheit vollständig, ohne weiteren
Nachtheil, geheilt, und blieb es auch, wovon man sich zwei
Jahre nachher, als es sich wegen einer gastrischen Affektion
wieder meldete, zu überzeugen Gelegenheit hatte.
2. Bei einem 1Ü jährigen Mädchen bestand die durch
einen heftigen Schreck veranlasste Krankheit seit zwei Jah-
O
rcn. Das Ferrum zooticum und carbonicum, Abführmittel,
kalte Begiessunngen des Kopfs und Rückens waren bereits
erfolglos angewendet worden. Am 29. Januar 1844 winde
die Sol. Fowleri verordnet; am 19. Februar zeigte sich be-
reits eine Abnahme der Symptome, und am 5. Mai konnte
die Kranke als vollständig geheilt aus der Kur entlassen werden.
Diese günstige Wirkung des Arseniks bei veralteter
Krankheit hatte auch die Anwendung desselben in frischeren
Fällen, wenn die übrigen Mittel wirkungslos blieben, zur Folge.
3. Dem schon oben erwähnten Kinde, bei welchem sich
die Chorea aus einer rheumatischen Affektion der rechten
Extremitäten herausgebildet hatte, wurde nach einem drei-
wöchentlichen nutzlosen Gebrauche des Ferrum zooticmn die
Solut. Fowleri verordnet., welche die Krankheit nach vier-
zehn Tagen gründlich heilte.
4. Ein T2jähriges Mädchen, schon vor drei Jahren mit
Chorea der rechten Körperhälfte behaftet, erlitt im Sommer
IS43 ein Kecidiv. Die abführende Methode und der Ge-
brauch des kohlensauren Eisens blieben olme Erfolg: erst
der Solut. arsenicalis gelang es, in kurzer Zeit vollständige
Heilung herbeizuführen.
Hat nun auch das Mittel in einem Falle, der nicht ein-
mal zu den inveterirten gehörte, den gehegten Erwartungen
nicht entsprochen, so kaim es doch, in Betracht der mitge-
theilten Fälle, zumal in einer Krankheit, wo die übrigen
Mittel so oft ihre Dienste versagen, als ein sehr wirksames
empfohlen werden.
Dass übrigens beim Gebrauch des Arseniks grosse Vor-
sicht nöthig ist, darf wohl kaum erinnert werden. Man
fange daher mit der kleinsten Dosis an, am besten in Ver-
bindung mit Aq. destillata. Die klinische Formel war:
Solut. arsenical. (Fowleri) Aq. destill. ää 3j- M. D. S. drei-
mal täglich vier Tropfen in Wasser zu nehmen. Nach dieser
Verordnung bekam das Kind zwei Tropfen der Sol. Fowleri
(~ Gran arsenichter Säure, da Drachmen der Sol. 1 Gran
arsenichter Säure enthalten, und auf die Drachme dieser So-
lution 90 Tropfen kommen). Allmäklig winde dann mit
grosser Vorsicht die Dosis auf sechs Tropfen gesteigert.
Sobald sich die ersten Symptome der Intoxication zeigen,
was zuweilen schon nach sehr kleinen Dosen geschah, muss
das Mittel sogleich ausgesetzt werden. Uebelkeit, Magen-
schmcrz, Erbrechen und Durchfäll gebieten dies dringend :
24
erst wenn diese Zufälle vollständig verschwunden sind, darf
man den Gebrauch der Solution wieder mit der grössten Vor-
sicht beginnen. Man schärfe deshalb auch den Müttern der
Kinder ein, die Tropfen auf das Genaueste abzuzählcn : schon
aus diesem Grunde ist die Verdünnung mit Aq. destill. sehr
zu empfehlen, indem, vorzugsweise in niedem Ständen, die
nöthige Genauigkeit nicht selten vermisst, und die Zahl der
Tropfen überstiegen wird, zuweilen auch die Kinder selbst,
in Abwesenheit der Eltern, spielend von der Arznei kosten,
wo dann die Gefahr durch die Verdünnung wesentlich ver-
mindert wird. '
Von den durch gesteigerte Reflexthätigkeit des Rücken-
marks bedingten Krampiformen kam nur die Hysterie in
allen ihren Formen und zwar ausserordentlich häufig vor,
jedoch ohne ausgezeichnete und besonders hervorzuhebende
Erscheinungen darzubieten. Die deutlich ausgesprochene Ab-
hängigkeit ihrer Erscheinungen vom Sexualsysteme führte in
mehreren Fällen zur Untersuchung dieser Organe, wo sich
dann gewöhnlich palpable Veränderungen derselben heraus-
stellten, auf welche in der Behandlung Rücksicht genommen
werden musste. So fand sich bei einer Kranken ein Vorfall
der vordem Wand der Vagina, in welchen ein Theil der
Harnblase hinabgesunken war : ohne diese Untersuchung hät-
ten die vorhandenen Urinbeschwerden leicht für spastische
gehalten werden können, wie sie in der Hysterie häufig ge-
nug Vorkommen.
Ein andrer hieher gehöriger Fall bietet insbesondere
ein therapeutisches Interesse dar. Eine 33jährige, unregel-
mässig menstruirte Frau von sein anämischem Habitus litt
an häufig wiederkehrenden Convulsionen des Rumpfs und der
Extremitäten, wobei sie gewöhnlich, olme das Bewusstsein
zu verlieren , zu Boden stürzte. Die Anfälle, welche durch
eine vom Unterleibe nach dem Halse aufsteigende Aura an-
gekündigt winden, hinterliessen sehr häufig Anschwellungen
verschiedener Hautstellen , die nach kurzer Zeit von selbst
wieder verschwanden. In den Intervallen dieser Paroxysraen
o-aben sich die verschiedensten Zufälle, meist im Gebiete des
Vagus kund : krampfhafter Husten, Lach-, Wein- und Schrei-
krämpfe, Globus, heftige Palpitationen, Singultus, zuweilen
vollkommene Aphonie. Hände und Füsse waren in der Regel
kalt, die Sensibilität derselben abgestumpft. Ein sein* hef-
tiger Drang zum Urinlassen und zum Stuhlgänge, der ge-
wöhnlich mit Schmerzen verbunden war, veranlasste die
genaue Untersuchung der Sexualorgane, bei welcher sich
das Bestehen eines Fluor albus und eine Vorwärtsbeugung
der Gebärmutter, die überhaupt einen tieferen Stand einnahm,
ergab : das Collum uteri war geschwollen imd etwas schmerz-
haft. Es wurde der Kranken eine ruhige Rückenlage em-
pfohlen, dabei Injectioiien von einem Infus. Herb. Rutae in
die Scheide gemacht, Halbbäder mit einem Zusatz von Herb.
Sabinae und Flor. Chamomillae, und zum innern Gebrauche
der Eger-Franzensbrunnen verordnet. Diese Behandlung ward
von dem glücklichsten Erfolge gekrönt: nach wenigen Mo-
naten war die Kranke so weit gebessert, dass nur noch clie
im Gebiete des Vagus sich kund gebenden Zufälle auf ihrer
früheren Höhe verharrten. Gegen diese wurde nun das Cu-
prum ammoniatum, dessen treffliche Wirkung sich schon in
ähnlichen Zuständen bewährt hatte, anfangs zu \ gr. pro
dosi, dann allmählig bis zu \ gr. steigend, angewendet, und
zwar mit so guter Wirkung, dass, als die Kranke sich im
nächsten Semester eines neuen Leidens wegen wieder meldete,
von den früheren Zufällen keine Spur mehr zu entdecken war.
Wie häufig auch die Hysterie auf anämischer Basis
vorkam, welche den Gebrauch der Eisen wässer, z. B. des
Spaabrunnens, erheischte, so selten wurde der entgegenge-
setzte Zustand, Plethora, beobachtet. Die Menses sind in solchen
Fällen reichlich, das Gesicht geröthet, die Kranken leiden an
Schwindel, an Wallungen und Schmerzen in der Herzgegend,
so dass man eine Herzaffektion annehmen könnte, wenn nicht
die physikalischen Merkmale ganz fehlten und die Symptome
plötzlich verschwänden, sobald Gähnen und Aufstossen ein-
20
tritt. Hier passen die Säuren, besonders das Acidum pho-
sphoricum.
Häufiger als Kückenmarksleiden gaben Affektionen des
Gehirns zur Entstehung convulsivischer Krankheiten Anlass.
Die Eclampsie der Kinder war zwar sehr oft die Folge
eines von den sensibeln Quintusfasern der Zähne auf das
Gehirn übertragenen Keflexreizes ; doch wurden auch andre
Stätten der Keizung, namentlich im Darmkanaie, nicht selten
beobachtet. Am wenigsten sind bisher Krankheiten der re-
spiratorischen Schleimhaut als erregende Anlässe der Eclampsie
berücksichtigt worden, obwohl Fälle dieser Art mitunter Vor-
kommen. Im Januar 1845 wurde ein zweijähriges Kind in
die Klinik gebracht, welches seit einigen Tagen an einem
kurzen, mit sehr beschleunigten Respirationsbewegungen ver-
bundenen Husten litt. Gleichzeitig hatten sich Anfälle von
Eclampsie eingefunden, denen das Kind früher niemals unter-
worfen gewesen. Die Untersuchung der Brust stellte das
Vorhandensein einer intensiven Bronchitis ausser Zweifel, die
in diesem Falle allein als Ursache der Eclampsie betrachtet
werden konnte. In der That wurden durch eine, gegen das
Leiden der Respirationsorgane . gerichtete, Behandlung auch
die Krampfanfälle vollständig beseitigt. Bei einem andern
Kinde dagegen, welches schon seit vier Wochen an einer,
durch die Zalmentwicklung bedingten Eclampsie litt, ver-
schwanden die Anfälle, als sich eine lobuläre Pneumonie der
rechten Lunge entwickelte, kehrten indess schon nach weni-
gen Tagen mit gesteigerter Intensität zurück , so dass die
Intervalle zwischen den einzelnen Anfällen vollständig ver-
Avischt, und der Körper des Meinen Kranken durch anhaltende,
elektrischen Erschütterungen gleichende Zuckungen hin- und
hergeworfen wurde. Nach dem in einem soporösen Zustande,
erfolgten Tode fand sich, mit Ausnahme einer lobulären Ent-
zündung der rechten Lunge, in keinem Organe ehre krank-
hafte Veränderung. Das sorgfältig untersuchte Gehirn zeigte
sich in allen seinen Theilen vollkommen normal beschaffen,
nicht einmal eine auffallende Injection der Meningen liess sich
27
entdecken. Die Complication einer acuten Krankheit mit
Eclampsie steigert in jedem Falle die Gefahr der erstem,
während eine epileptische Basis auch bei drohenden
Erschein imgen eine günstigere Prognose stellen lässt.
xVnfälle von Convulsionen, die ganz denen der Eclampsie
gleichen, bilden nicht selten den Anfang der Meningitis
im kindlichen Lebensalter. Bei einem vieljährigen Knaben
traten drei Tage hintereinander convulsiviscke Paroxysmen
auf, mit freien Intervallen, in welchen sich das Kind anschei-
nend ganz wohl befand. Der vierte und fünfte Tag verlief
ohne alle krankhafte Erscheinungen, aber am sechsten er-
neuerten sich die Convulsionen und die übrigen bekannten
Symptome der Meningitis gesellten sich bald hinzu. Ehi acht-
jähriges Mädchen winde inmitten der besten Gesundheit
plötzlich von den heftigsten Convulsionen befallen, welche ein
schnell hinzugerufener Arzt als epileptische deutete. Nach
dem Anfälle trat vollkommenes Wohlbefinden ein, allein zwölf
Stunden später entwickelten sich alle Symptome einer heftigen
Meningitis, welche nach sechs und dreissig Stunden den Tod
des Kindes herbeiführte, und durch die Section bestätigt wurde.
In einem dritten Falle bestand zwischen dem ersten Auftreten
der Convulsionen und dem der übrigen Erscheinungen ein
Zwischenraum von vierzehn Tagen, während dessen die El-
tern nichts Krankhaftes an ihrem Kinde bemerken konnten.
Das scheinbare Wohlbefinden der Kinder während der Inter-
valle spricht daher keineswegs gegen die bevorstehende Ent-
wicklung der Meningitis, ebensowenig der Mangel des Er-
brechens, der Stuhlverstopfimg u. a. m. Um so wichtiger
muss ein Symptom sein, welches, wo es vorkommt, und vor-
zugsweise bei schon vorhandenen Convulsionen, immer den
\ erdacht einer drohenden Meningitis rege halten muss. Dies
ist das Trockenwerden der Nasenscliehnhaut. Die Bezie-
hung, welche zwischen dem Aufhören einer Otorrhoe imd der
Entwicklung von Gehimerscheinungen bei Kindern stattfindet,
Lt schon längst gekannt: um so auffallender ist es, dass die
Beschaffenheit der Nasenschleimhaut in der Kegel übersehen
28
wird. Die Secretion der letztem erlischt vor dem Ausbruche
der Meningitis, während sie bei reiner Eclampsie ungestört
fortbestehn kann. Bei dem obenerwähnten Kinde, welches
an einer Complication der Eclampsie mit lobulärer Lungen-
entzündung starb, hatte, trotz der Heftigkeit der Krämpfe,
die Nasenschleimhaut bis zum letzten Augenblicke des Le-
bens nicht aufgehört zu secerniren.
Convulsionen gingen übrigens nicht in allen Fällen dem
Ausbruche der Meningitis puerorum voran. Bei einem
zweijährigen Knaben bestanden die Vorboten derselben in
Abmagerung, Verstopfung, trockenem Hüsteln, und nur ein
von Zeit zu Zeit eintretendes Erbrechen konnte denVerdacht
auf eine sich ausbildende Hirnaffektion hinlenken; erst nach
vierzehn Tagen gesellten sich Somnolenz und Convulsionen
hinzu, welche dem Leben des Kindes schnell ein Ziel setzten.
Starke seröse Ansammlung in den Ventrikeln, breiartige Er-
weichung ihrer Wandungen, und ein dickes gelatinöses Ex-
sudat auf der Pia mater, welches von der Varolsbrlicke bis
zur Hypophysis cerebri reichte, waren vollgültige Beweise
für die längere Dauer der Krankheit, wenn auch die ge-
wöhnlichen drohenden Erscheinungen derselben bis zu den
letzten Tagen des Lebens vermisst worden waren.
In andern Fällen trat die Krankheit unter der Maske
eines remittirenden gasti’ischen Fiebers auf, so bei einem
dreijährigen Knaben, welcher drei Wochen nach dem Ver-
schwinden eines Scharlachfiebers und regelmässig stattgehabter
Desquamation, zu fiebern anfing, schlaflos wurde und auch
am Tage grosse Unruhe verrieth. Doch auch in solchen
Fällen findet sich gewöhnlich ein oder das andere Symptom,
welches auf ein vorwaltendes Leiden des Gehirns liinzudeuten
scheint. Der erwähnte kleine Kranke zeigte nämlich von
Anfang an grosse Neigung den Hinterkopf in die Bettkissen
zu bohren, und wechselte, ein sein beachtenswerthes Symptom,
auffallend häufig die Farbe. Die Röthe imd gesteigerte
Temperatur beschränkte sich oft nur auf die eine Wange,
eine Erscheinung, die, so wie der schnelle Farben Wechsel,
29
bei mehreren an Meningitis leidenden Kindern beobachtet
wurde.
Zuweilen war Erbrechen der einzige Vorbote der
furchtbaren Krankheit. Eine genaue Unterscheidung von an-
dern Arten des Erbrechens, die eine ganz verschiedene Be-
handlung erfordern , ist in diesen Fällen von der grössten
Wichtigkeit. Das als Symptom der Meningitis und anderer
Hirnnffektionen auftretende Erbrechen unterscheidet sich von
dem, welches die Krankheiten des Magens begleitet, dadurch,
dass es auch bei verhältnissmässig leerem Magen, ohne vor-
her stattgehabten Genuss von Speisen, stürz weise, ohne Wür-
gen erfolgt ; dass es sich ferner nicht durch Uebelkeit an-
kündigt, durch Aufrichten, so wie durch jede Bewegung und
Erschütterung des Kopfes begünstigt und hervorgerufen wird,
beim Niederlegen des Kopfes dagegen aufhört, weshalb man
das Erbrechen nach dem Essen dadurch verhüten kann, dass
man dem Kinde eine vollkommen horizontale Lage giebt..
Höchst bezeichnend ist das gleichzeitige Vorhandensein von
Verstopfung und grosser Tofpidität des Darmkanals, so dass
starke Purganzen nötkig sind, um Leibesöffnung zu bewirken.
U eber Kopfschmerze n im Beginne der Meningitis
klagten nur ältere Kinder: die kleineren gaben denselben
durch öfteres Greifen nach dem Kopfe, Anlehnen desselben
u. s. w. zu erkennen. Von Wichtigkeit ist auch die Beschaf-
fenheit des Auges. Der Blick kleiner Kinder folgt fast im-
mer dem Blicke der umgebenden Personen (daher sie sich
auch beim Anblicken blinder Menschen unbehaglich zu füh-
len scheinen, indem sie merken, dass sie nicht angesehen
werden). Diese Eigenthümliclikeit kleiner Kinder erlischt,
sobald das Gehirn zu leiden anfängt: sie folgen nicht mehr
den Augen der Eltern oder Wärterinnen, der Blick wird
starr, glänzend, bekommt ein gewissermassen irres Anselm.
Der alten Eintheilung der Krankheit in ein Stadium ir-
ntationis und ein Stadium exsudationis liegt eine irrige An-
sicht zu Grunde. Da nach den neueren Erfahrungen jede
Entzündung einer serösen Membran von Anfang an mit
30
Exsudat auftritt, so kann von jener scharfen Trennung eines
exsudativen Stadiums füglich nicht die Rede sein. Die Me-
ningitis beginnt mit einem Stadium der Exaltation, in wel-
chem das Gehirn gegen den entzündlichen Reiz reagirt: diese
Reaktion erlischt aber im zweiten Stadium, welches man im-
merhin als Stad, paralyticum bezeichnen mag, weil paralytische
Erscheinungen hier selten vermisst werden. Der Puls, der
im ersten Stadium sehr frequent, aber gleichmässig zu sein
pflegt, verliert die letztere Eigenschaft im zweiten, wird un-
gleich imdunregelmässig, während seine Verlangsamung kei-
neswegs eine beständige Erscheinung ist.
Diese wenigen Bemerkungen mögen genügen, um den
Standpunkt, von welchem die Erscheinungen der Meningitis
gedeutet wurden, zu bezeichnen. Die allgemeine Annahme
einer Meningitis genügte jedoch nicht ; man musste auch den
Sitz derselben an diesem oder jenem Theile der Pia mater
zu bestimmen suchen. Am leichtesten liess sich die Menin-
gitis an der Basis cerebri durch die Erscheinungen im Ge-
biete der hier abtretenden Nerven ermitteln. Abnahme des
Sehvermögens , Strabismus, Zuckungen der Augenmuskeln
deuteten auf den Sitz der Entzündung im Umkreise des
Chiasma Nn. optic., des Oculomotorius und Abducens hin,
während Taubheit, anhaltende Kaubewegungen und Zähne-
knirschen (beides klonische Krämpfe im Gebiete der Pars
motoria des Quintus) eine Ausbreitung der Entzündung nach
hinten gegen die Varolsbrücke und die Medulla oblongata
bekundeten. Die während des Lebens gestellte Diagnose
wurde auch durch die Section bestätigt, indem in solchen
Fällen die betreffenden Nerven von einer mehr oder weniger
dicken plastischen Exsudatschicht eingehüllt waren.
Seröse Ansammlungen in den Ventrikeln mit Erweichung
ihrer Wände und der Centraltheile des Gehirns (Hydroce-
phalus acutus) wurden zwar in manchen Fällen gefunden,
Hessen sich aber während des Lebens nicht deutlich von der
peripherischen Meningitis, wrelche ohne Exsudation in den
Hirnhöhlen vei'läuft, unterscheiden.
In den meisten Fällen trat die Krankheit als Meningi-
tis tuberculosa auf, und war als solche mit Tuberkelab-
lagerungen in andern Organen, besonders den Lungen, den
Bronchialdrüsen, der Leber, der Milz, den Mesenterialdrüsen,
complieirt. Die Tuberkelgranulationen sassen gewöhnlich an
den in die Sulci eindringenden Falten der Pia mater und
konnten daher nur bei genauer Nachforschung aufgefunden
werden ; weit seltener folgten sie, in einem gallertartigen Ex-
sudate eingebettet, dem Laufe der grösseren Venen an der
Convexität der Hemisphären. In mehreren Fällen fand sich
Erweichung der Schleimhaut am Fundus des Magens, oder
doch bedeutende Gefässinjection an dieser Stelle. In einem
Falle wies die mikroskopische Untersuchung in dem an der
Basis cerebri befindlichen plastischen Exsudate Zellen nach,
die mit denen der Tuberkeln entschiedene Aehnlichkeit hatten.
Seltener waren Complicationen mit krankhaften Verände-
rungen der Himsubstanz selbst, wofür der folgende Fall als
Beispiel dienen mag. Ein 1 - Jahr altes Mädchen, welches
schon mehrere Wochen an Erbrechen und Stuhlverstopfung
gelitten hatte, wurde vier Tage vor seiner Anmeldung in der
Klinik von Convulsionen befallen, die einen soporähnlichen
Zustand hinterliessen. Bei der Untersuchung zeigten sich
Krämpfe der Augenmuskeln, fast ununterbrochene Zuckungen
im Gesicht, auffallende Schläfrigkeit, Unmöglichkeit den Kopf
aufrecht zu halten, wobei alsbald Erbrechen grünlicher Stoffe
eintrat, Stuhlverstopfung, ein mässig frequenter, gleichmässiger
Puls, natürliche Wärme des Kopfes. Der in der Nacht er-
folgte Durchbruch eines Backzahns blieb ohne Einfluss auf
die Krankheit: die Erscheinungen nahmen Gelmehr trotz der
kräftigsten Behandlung in den nächsten Tagen bedeutend zu .
es entwickelte sich vollständiger, von heftigen, nur die linke
Körperhälfte einnehmenden, Convulsionen unterbrochener So-
por, die rechten Extremitäten wurden gelähmt, Strabismus
divergens des linken Auges, Ptosis auf derselben Seite, wie-
derholtes Niesen, Gähnen und anhaltende Kaubewegungen
Hessen auf den Sitz der Entzündung an der Gehirnbasis
32
schliessen. Die Farbe der Wangen wechselte schnell, der
Bauch sank ein, der Puls wurde unregelmässig und ungleich,
und in einem heftigen Anfalle von Convulsionen erfolgte am
sechsten Tage der Tod. Bei der Section zeigte sich eine
Starke Injection der Pia mater in ihrem ganzen Umfange,
beträchtliches grünlich-gelbes Exsudat an der Basis cerebri,
welches die Nervenursprünge von der Medull. oblong, an bis
zur Kreuzung der Sehnerven einhüllte , sich in die Fossa
Sylvii und in die andern Furchen fortsetzte. Die Ventrikel
enthielten kein Serum, doch war der Plex. choroideus medius
stark injicirt und mit kleinen weissen Punkten von der Grösse
eines Hirsekorns wie bestreut. Herr Dr. Remak, welcher
dieselben genau untersuchte, fand sie aus sehr kleinen Zellen
bestehend, und hielt sie für Produkte der Entzündung. Aehn-
liche knotige V erdickungen fand er stellenweise an den Wän-
den der im Plexus chorioideus verlaufenden Blutgefässe.
Ausser diesen der Meningitis zukommenden Veränderungen
fand sich noch eine breiartige Erweichung des Corpus Stria-
tum und Thalamus opticus der linken Seite, von deren nor-
maler Struktur wenig mehr zu erkennen war. Diese Desor-
ganisation, auf welche wohl auch das schon längere Zeit
beobachtete Erbrechen bezogen werden muss, erklärt zugleich
die Lähmung der entgegengesetzten Körperhälfte.
Complication mit Tuberculose des Gehirns wurde mehr-
mals beobachtet. Meistens bildet die Meningitis in solchen
Fällen den tödtlichen Schluss der Krankheit, deren Existenz
sich schon längere Zeit vorher durch Convulsionen, Contrac-
turen, Ilemiplegieen verräth. Dass aber die Tuberkeln auch
ohne alle Symptome bestehen, und plötzlich durch Hervor-
rufung einer Meningitis tödtlich werden können, bewährt der
Fall eines 11 Monate alten Kindes, welches, anscheinend
ganz gesund, plötzlich von Convulsionen der linken Körper-
hälfte befallen wurde. Erbrechen, Stuhlverstopfung, Strabis-
mus convergens des linken Auges, Erweiterung und träge
Reaktion der Pupillen, Sopor, gesellten sich schnell liinzu und
machten nach drei Tagen dem Leben des Kindes ein Ende.
Bei der Section fand man neben den Anzeichen einer tuber-
cnlösen Meningitis der Basis cerebri. ein haselnnsgrosses Tu-
berkel im liintem Lappen der linken Hemisphäre des grossen
Gehirns. Ein ähnliches lag an der Oberfläche der linken
Hemisphäre des Cerebellum. Die Ventrikel enthielten kein
Serum. Die Hirnsubstanz in der Umgegend der Tuberkeln
wich vom Normalzustände nicht ab. Auffallend bleibt die
Beschränkung der Convulsionen auf die dem Sitze der Tu-
berkeln entsprechende Körperhälfte, ohne dass die Extremi-
täten der entgegengesetzten Seite von Lähmung befallen wa-
ren. Auch verdient Erwähnung, dass eine habituelle Otorrhöe,
die einige Wochen vor dem Eintritte der Krankheit aufgehört
hatte, während des Verlaufs derselben wieder eintrat, ohne
eine günstige Veränderung herbeizuführen.
Die Fälle der schon vollständig entwickelten Meningitis
endeten insgesammt mit dem Tode: nur wenn die Kinder
beim ersten Auftreten beunruhigender Symptome, z. B. 'des
Erbrechens, zur Behandlung kamen, gelang es mitunter der
Krankheit vorzubeugen. Im Stadium der Reaktion des Ge-
hirns wurde die antiphlogistische Methode auf das Kräftigste
angewandt: wiederholte Application von Blutegeln hinter die
Ohren, Anwendung der Kälte auf den Kopf, starke Ablei-
tungen auf den Darmkanal durch grosse Dosen des Calomel
waren die Hauptmittel. Was die Anwendung der Kälte be-
trifft, so bediente man sich nicht des in solchen Fällen nach-
theilig wirkenden Sturzbades , sondern des von Heim einge-
führten Verfahrens: nachdem die Haare abgesclmitten, wird
der Kopf des Kindes mit einem starken, an der einen Schläfe
zusammengebundenen Strange gewöhnlicher Strickwolle um-
geben, und über eine Wanne gehalten. Aus einem Topfe
begiesst man nun aus einer Höhe von 1 bis U Fuss zehn
bis fünfzehn Minuten lang den Kopf mit kaltem Wasser,
dessen Herablaufen über das Gesicht durch die Wolle ver-
hindert wird. Nach einer längeren Pause beginnt man von
neuem, so wie überhaupt die Kälte (auch in der Form der
I omentationen) nicht anhaltend einwirken darf, sondern Pausen
3
34
eintreten müssen. Will man sich der kalten Ueberschläo-c
O
bedienen, so fomentire man während einer Stunde und ge-
statte dann eben so lange Ruhe, worauf man wieder von neuem
beginnt. Kleine Dosen des Calomel lassen mit ihrer Wir-
kung zu lange auf sich warten: man thut daher wolil, das
Mittel in starker Dosis oder in Verbindung mit Radix Jalappae
zu geben, und die dadurch eingeleiteten Darmentleerungen
durch Infus. Sennae compos., Syrup. Spinae cervinae, u. a. m.
mehrere Tage zu unterhalten. Sobald aber die Reaktion des
Gehirns erlischt, der Puls unregelmässig wird, der Bauch
einsinkt, und paralytische Erscheinungen eintreten, bleibt die
fortgesetzte Antiphlogose ohne allen Erfolg. Hier nehme man
zur Application eines Vesicators in den Nacken oder auf den
Kopf selbst seine Zuflucht, und vertausche, sobald die An-
wendung der Kälte keine Besserung herbeiführt, dieselbe
mit warmen Fomentationen, die man Tag und Nacht fort-
setzt. Wemi auch diese Methode, wo sie in der Poliklinik
angewandt wurde, das Leben des Kindes nicht zu erhalten
vermochte, so verdient sie doch, wegen ihrer Erfolge in eini-
gen ausserhalb der Klinik beobachteten Fällen, jedenfalls ver-
sucht zu werden. Auch ist in der That nicht einzusehen, aus
welchen Gründen man die Anwendung der feuchten Wärme
bei Entzündungen der serösen Membran des Gehirns fürchtet,
während sie bei denen der Pleura uud des Peritonäum mit
entschieden glücklichem Erfolge angewTendet wird.
Günstiger als in der acuten, stellt sich die Prognose in
der chronischen Form der Meningitis. Ein 2- jähriges,
bisher gesundes Kind bekam vor sechs Wochen einen impe-
tiginösen Ausschlag auf der behaarten Kopfhaut, der aber
nach kurzer Zeit wieder verschwand, und zweien wallnuss-
grossen Geschwülsten, die sich im Nacken entwickelten, Platz
machte. Die eine dieser Geschwülste brach auf, und ent-
leerte eine bedeutende Quantität scrophulösen Eiters, die
andre zertheilte sich ohne ärztliche Hülfe. Seit dieser Zeit
bemerkten die Eltern pine anhaltende Biegung des Kopfes
nach der linken Seite ; Strabismus convergens auf beiden Augen
35
*
gesellte sich hinzu, das Kind liess die Zunge aus dem Munde
heraushängen, speichelte viel, wurde missmutliig und gegen
alle Eindrücke imempfindlich, und vermochte nicht mehr sich
olme fremde Beihülfe auf den Beinen zu erhalten. Die frü-
her sein- starke Seeretion der Nasenschleimhaut hörte auf.
Ein heftiger zur Nachtzeit eingetretener Anfall allgemeiner
Convulsionen veranlasste die Mutter endlich in der Klinik
Hülfe zu suchen. Die obengenannten Symptome setzten das
Vorhandensein einer chronischen, wahrscheinlich tuberculösen
Meningitis an der Hirnbasis, in der Umgegend der Nn. ocu-
lomotorii, ausser Zweifel. Nach der Anwendung etlicher
Blutentleerungen und stai’ker Ableitungen auf den Darmka-
nal durch eine Verbindung des Calomel mit Radix Jalappae
konnte das Kind den Kopf bereits in seine normale Stellung
bringen, die Nasenschleimhaut fing wieder an zu secerniren,
und die untern Extremitäten hatten einen Theil ihrer Kraft
wiedergewonnen. Mit Rücksicht auf die impetiginöse Basis
der Krankheit wurde nun das Unguenl. Tartar, emet. in ver-
schiedene Stellen der abgeschörnen Kopfhaut eingerieben,
imd zum innem Gebrauch der Leberthran imd -wiederholte
Ableitungen auf den Darmkanal verordnet. Nach dreimonat-
licher Fortsetzung dieser Kur waren alle oben angeführten
Symptome vollständig geschwunden, nur ein geringer Grad
von Strabismus convergens des linken Auges giebt noch
Kunde von der einst vorhandenen Krankheit, doch ist die
beste Hoffnung vorhanden, auch dieses Symptom noch gänz-
lich zu beseitigen.
In zwei Fällen sprachen die Erscheinungen für den Sitz
der Meningitis chronica in der Nähe des Cerebellum und des
verlängerten Marks. Eine anhaltende Rückwärtsbiegung des
Kopfes, die leicht zur Verwechslung mit Spondylarthrocace
der obem Halswirbel Anlass geben kann, muss als Haupt-
symptom betrachtet werden.*) In dem ersten, einen zwei-
*) ^ IvOMüerg’s Lehrbuch der Nervenkrankheiten des Menschen
I. B. S. 432.
3*
3f>
*
jährigen Knaben betreffenden Falle, dessen Ausgang leider
nicht angegeben werden kann, hatte sich die Retroversion des
Kopfes, verbunden mit einer etwas geschwächten Motilität
in den untern Extremitäten, und mit Abnahme des kindli-
chen Frohsinns in Folge eines Falls auf den Hinterkopf aus-
gebildet. Jeder Versuch, den Kopf nach vom zu beugen,
verursachte die heftigsten Schmerzen, während an dem Cer-
vicaltheile der Wirbelsäule äusserlich nicht die geringste Ab-
normität zu entdecken war. Der entfernte Wohnort des Kin-
des, ein Dorf in der Umgegend von Berlin, machte es un-
möglich, die Krankheit weiter zu verfolgen. Der zweite Fall
kam bei einem drei Monate alten Kinde vor. Ausser der
starren Rückwärtsbiegung des Kopfes beobachtete man in die-
sem Falle häufiges Verdrehen der Augen, einen stieren Blick,
täglich eintretende Anfälle von Convulsionen. Auch liier ergab
die Untersuchung der obersten Halswirbel keine krankhafte
Veränderung. Durch wiederholte Application von Blutegeln
am Hinterhaupte, Einreibungen der grauen Salbe und abfüh-
rende Mittel gelang es, eine auffallende Besserung zu erzie-
len. Der Kopf liess sich ohne Mühe nach vom beugen, wenn
auch die Neigung zur Retroversion noch immer fortbestand,
die Convulsionen liessen gänzlich nach, bis nach Verlauf ei-
nes halben Jahres plötzlich ein heftiger Krampfanfall dem
Leben des Kindes schnell ein Ende machte. Bei der Section
zeigte sich das Gehirn sein’ weich, ausserordentlich blutreich,
die Schnittfläche von bläulich -rother Farbe mit zahlreichen
Blutpunkten. Die Pia mater war vorzugsweise in der Ge-
gend der hintern Lappen und des kleinen Gehirns sein1 m-
jicirt, und am verlängerten Marke mit kleinen Granulationen
besetzt. Die auffallendste Veränderung zeigte sich aber an der
harten Hirnhaut : die Falx cerebehi nämlich und der angrän-
zende Tlieil der Dura mater, welche die untern für das Cerebel-
lum bestimmten Gruben des Hinterhauptbeins auskleidet, war
beträchtlich verdickt, knorpelhart, und setzte dem Messer ei-
nen starken Widerstand entgegen.
Eine anhaltende starre Rückwärtsbiegung des Kopfs kann
37
übrigens auch durch andre pathische Vorgänge im Gehirne
bedingt sein. Bei der Section eines ausserhalb der Klinik
behandelten 1 3 Monate alten Kindes , welches ausser den
Symptomen eines Hydroccphalus chronicus diese Erscheinung
in einem ausgezeichneten Grade dargeboten hatte, fand man
die Hirnhäute selbst in ihrem ganzen Umfange vollkommen
normal beschaffen, dagegen in den Ventrikeln und im Sacke
der Arachnoidea eine Ansammlung klarer Flüssigkeit, deren
Quantität gegen 20 Unzen betragen mochte. Durch den
Druck derselben war die über den V entrikeln liegende Hirn-
substanz atrophisch geworden, war aber, so wie auch die
Centraltheile des Gehirns fester als im Normalzustände. Beim
Durchschnitt des kleinen Gehirns zeigte sich eine ungewöhn-
liche Injection desselben. Die sehr starke Erweiterung des
werten V entrikels und der von der serösen Ansammlung aus-
geübte Druck scheint in diesem Falle zur Ketraction des
Kopfes in Beziehung zu stehen.
Von allen krampfhaften Affectionen war
die Epilepsie
am häufigsten Gegenstand der klinischen Beobachtung. In
zwanzig Fällen wiu-den die Erscheinungen derselben mit Ge-
nauigkeit erforscht imd der Verlauf der Krankheit verfolgt.
Zunächst stellte sich die grosse Verschiedenheit der soge-
nannten Aura epileptica heraus. Vier dieser Kranken
leugneten durchaus alle Vorboten des Anfalls; dagegen zeigte
sich in allen übrigen Fällen eine Aura, wenn auch nicht in
der eigentlichen Bedeutung des Wortes, als ein von un-
ten aufsteigender warmer oder kühler Hauch. Am häu-
figsten war die sensible Aura, die in der Hälfte der Fälle
vorkam. Sie zeigte sich bald als Formication in den Zehen
und Fingerspitzen, bald als kribbelnde Empfindung in der
Umgegend des Mundes, bald als plötzlich eintretendes Ge-
fühl einer über den ganzen Körper verbreiteten Brühhitze.
Auch als schmerzhafte Empfindung gab sie sich kimd, stieg
als solche von den untern Extremitäten aufwärts, oder trat
38
in der Form der Hemicranie oder der Mastodynie auf. Nur
einmal Hess sich der Ursprung der Aura und der Anlass der
Krankheit in einen gewissen Zusammenhang bringen. Die-
ser Fall betraf einen kräftigen Tagelöhner, bei welchem sich
nach einem vor drei Jahren erhttenen Fall auf das rechte
Knie ein entzündlicher Process in demselben, und in Folge
dessen Desorganisation des Gelenks entwickelt hatte. Seit
dieser Zeit litt der Kranke an epileptischen Anfällen: die
Aura begann als eine kribbelnde Empfindung an der grossen
Zehe des rechten Fusses, stieg von hier an der innem Fläche
des Unter- und Oberschenkels aufwärts und ging dann in
den epileptischen Paroxysmus über. Zwar hat die Aura auch
in diesem Falle nicht die ursprünglich verletzte Stelle (das
Kniegelenk) zum Ausgangspunkt; wenn man jedoch bedenkt,
dass derselbe Nerv (N. saphenus major) sowohl die Haut auf
der innem Seite des Kniegelenks, wie die der grossen Zehe
mit Sensibilität versorgt, wird man die innige Beziehung
zwischen Aura und Krankheitsursache nicht verkeimen. Da
die Aura in den meisten Fällen als eine excentrische Erschei-
nung betrachtet werden muss, so bietet der erwähnte Fall als
Beispiel einer primitiven Aura ein um so grösseres Interesse
dar. Bei zwei Kranken hatte che Aura im N. opticus ihren
Sitz; sie glaubten Menschen und Thiere, Funken und leuch-
tende Flammen zu sehen, worauf der epileptische Anfall schnell
folgte.
Fünf Kranke boten che Erscheinung einer motorischen
Aura dar, che sich bei mehreren in den Anhtzmuskeln kund
gab : che Kranken empfanden plötzhch ein ziehendes , span-
nendes Gefühl in den Lippen, das Sprechvermögen war auf-
gehoben, und der Mund wurde zu einer unregelmässigen
Form nach der einen oder andern Seite hin verzogen. In
andern Fällen kündigten sich die Paroxysmen durch convul-
sivische, den elektrischen ähnliche Erschütterungen einzelner
Gheder oder auch des ganzen Körpers an, oder die Ilals-
und Nackenmuskeln der einen, vorzugsweise der linken Seite
zogen langsam den Kopf nach ihrer Seite hinüber.
39
Nur einmal wurde die p s ychische Form der Aura be-
obaehtet, und zwar bei einem jungen, seit neun Jahren an
der Epilepsie leidenden Manne, welcher plötzlich, wie er sich
ausdrückte, „ganz eigentümliche” Gedanken bekam, die ihm
selbst zwar nicht klar wurden, aber ausserordentliche Unruhe
verursachten. Sein Bestreben , sich dieser Gedanken , die
übrigens jedesmal die gleiche Richtung nahmen, zu entledi-
gen, wurde durch den epileptischen Anfall unterbrochen.
Die Paroxysmen selbst, welche man zu beobachten
Gelegenheit hatte, boten keine besonders hervorzuhebenden
Erscheinungen dar. In allen Fällen zeigte sich ein Fortbe-
stehen der Reflexsensibilität, indem die Kranken beim Be-
sprützen des Gesichts mit kaltem Wasser eben so heftig, wie
im gesunden Zustande zusammenfuhren, die Augenlieder sich
beim Berühren der Conjunctiva fester schlossen u. s. w. Ek-
chymosen in der Conjunctiva und in der Umgegend der Na-
senwurzel waren eine nicht seltene Folge des Anfalls, und
bei zwei epileptischen Mädchen fanden gleichzeitig starke
Blutungen aus der Nase statt. Nur ein Kranker gab an
während des Anfalls an Pollutionen zu leiden, die im Allge-
meinen in den epileptischen Paroxysmen bei weitem nicht so
häufig Vorkommen, als man gemeinhin anzunehmen pflegt,
obwohl eine gesteigerte Begierde zum Beischlaf bei diesen
Ivranken sehr oft beobachtet wird. Das Eintreten von Pol-
lutionen während des Anfalls ist immer eine beachtenswerthe
Erscheinung, in sofern es den Sitz der Krankheit im obem
Theil des Rückenmarks anzudeuten scheint. Denn nach den
neueren Forschungen steht gerade dieser Theil, zumal die
Medulla oblongata, nicht aber das kleine Gehirn , zu den
Sexualorganen in inniger Beziehung. In dem angedeuteten
Falle wurde diese Annahme noch durch den Umstand unter-
stützt, dass der 20jährige Kranke sehr häufig an convulsi-
vischen, oft so gewaltsamen Erschütterungen beider Kör-
perhälften litt, dass er zu Boden stüi’zte, ohne jedoch das
Bewusstsein zu verlieren. Dieselben Zuckungen bildeten
aber auch die Aura der epileptischen Anfälle, welche alle
\
40
acht bis vierzehn Tage mit begleitenden Pollutionen einzutre-
ten pflegten. Die sich auf beiden Seiten des Körpers kund
gebende motorische Aura in Verein mit der vollkommenen
Integrität der psychischen Energie dieses Kranken, und mit
den während des Anfalls stattfindenden Pollutionen machte
die Annahme eines Keizzustandes im obersten Theile des
Kückenmarks sehr wahrscheinlich. Indess darf nicht uner-
wähnt bleiben, dass eine auf diese Ansicht sich gründende
Behandlung, wiederholte topische Blutentleerungen, kalte Wa-
schungen und Douchen des Kückens und Nackens , so wie
der innere Gebrauch der Mineralsäuren ohne allen Erfolg
blieb.
Als Beispiel einer im Gehirn selbst wurzelnden Epilep-
sie mag dagegen der Fall einer 32jährigen Frau dienen, die
bereits nach mehreren Entbindungen an Anfällen der Eclam-
psia parturientium gelitten hatte. Im Sommer 1844 stellten sich
von Zeit zu Zeit Gesichtsphantasmen ein, zuweilen mit so
heftigem Schwindel verbunden, dass die Kranke, konnte sie
nicht schnell einen Stuhl ergreifen, zu Boden fiel, wobei aber,
wie sie ausdrücklich bemerkte, das Bewusstsein ungetrübt
blieb. In diesem Zustande suchte sie in der Poliklinik Hülfe.
Die Krankheit wurde als Abortivform der Epilepsie (V ertigo
epileptica) angesehen, und sogleich die Befürchtung eines be-
vorstehenden vollständigen Ausbruchs der Krankheit ausge-
sprochen. Einige Wochen darauf trat nach vorausgegange-
nen sehr lebhaften Phantasmen ein heftiger, fast zwei
Stunden währender epileptischer Anfall ein, welcher einen
soporösen Zustand und nach dem Erwachen aus demsel-
ben eine Lähmung der articulirenden Bewegungen der Zunge,
wie sie so häufig in apoplektischen Zuständen beobachtet
wird, hinterliess. Die Kranke war nicht im Stande, ein V ort
zu sprechen, und jeder Versuch dazu förderte nur unver-
ständliche Laute heraus. Ein sogleich vorgenommener Ader-
lass beseitigte zwar dies beunruhigende Symptom, doch ha-
ben sich die Anfälle seit dieser Zeit mehrmals, wenn auch
nicht mit gleicher Intensität, wiederholt. Der Sitz der Aura
4J
in einem Sinnesnerven und die apoplektische Beimischung
deuten an, dass der Heerd der Krankheit in diesem Falle im
Centralorgane selbst zu suchen sei.
Psychische Störungen waren zwar häufig, keineswegs
aber constant, zeigten sich auch nicht immer von der länge-
ren oder kürzeren Dauer der Krankheit abhängig. Ein jun-
ger, seit neun Jahren an Epilepsie leidender Mann, erfreute
sich eines durchaus imgeschwächten Gedächtnisses, während
ein anderer, bei welchem die Krankheit sich erst seit drei
Jahren entwickelt hatte, schon einen so hohen Grad von gei-
stigem Verfall darbot, dass er, zumal in heissen Sommerta-
gen, obwohl ein geborner Berliner, nicht im Stande war,
sich in den Strassen der Stadt zurecht zu finden.
Besondere Aufmerksamkeit widmete man der Beobach-
tung der Intervalle, welche nie ganz frei von krankhaften Stö-
rungen waren. Bei weiblichen Kranken mischten sich nicht
selten hysferische Züge ein, Globus, W einkrämpfe. In an-
dern Fällen wurde eine bedeutende tympanitiscke Anschwel-
lung des Unterleibs, die vor und nach dem Anfalle ihren
höchsten Grad erreichte, beobachtet. Eine Kranke litt von
Zeit zu Zeit an Anfällen einer Art Schlafsucht mit lebhaften
Träumen, aus welcher sie nur mit Mühe erweckt werden
konnte.
Aetiologisch bedeutsam zeigten sich am häufigsten
die psychischen Eindrücke , Schreck, Zorn, Aerger u. s. w.
Ein eilfjähriges Mädchen verfiel in Epilepsie , nachdem es
in der Schule öffentlich gezüchtigt worden. Hereditäre
Anlage liess sich in mehreren Fällen feststellen , beson-
ders bei einer 32jährigen Frau, deren Vater und sämmt-
liche Schwestern epileptisch Avaren. Mitunter zeigte sich
Reizung der Intestinalschleimhaut durch Würmer als Ur-
sache der Krankheit. Eine dieser Kranken litt seit drei
Jahren an epileptischen Anfällen, Avelche allen bisher versuch-
ten Mitteln Trotz geboten hatte. Der Abgang einiger Stücke
der l aenia veranlasste die Anwendung des Extr. Spirit. Fi-
licis maris, worauf beträchtliche Massen des Bandwurms
42
entleert wurden, und die epileptischen Anfälle nicht allein
vollständig verschwanden, sondern auch die schon geschwäch-
ten Geisteskräfte ihre frühere Energie allmählig wiederge-
wannen.
Plethora in Folge unterdrückter Blutungen zeigte sich
nur in wenigen Fällen von ätiologischem Einflüsse, z. B.
bei einer 56jährigen Frau, welche nach der im 55sten Jahre
erfolgten Cessation der Catamenien in epileptische, nur zur
Nachtzeit eintretende Krämpfe verfiel. Der späte Ausbruch
der Epilepsie bei dieser Kranken ist bemerkenswerth, da sich
unter 66 von Cazauvieilh verglichenen Fällen die Krankheit
nur einmal zwischen dem 55sten und 60sten Lebensjahre ent-
wickelt hatte. Die bedeutende Beeinträchtigung der psychischen
Energie, eine allmählige Abnahme des Seh- und Hörvermö-
gens, ein anhaltender heftiger Schwindel und das Unvermögen,
sich ohne fremde Hülfe aufrecht zu erhalten, deuten indess
darauf hin, dass in diesem Falle organische Veränderungen
im Centralheerde der Krankheit zu Grunde hegen mögen.
In den Fällen, wo man keine Causalindication zu erfül-
len hatte, versuchte man die Krankheit durch Mittel, wie
Valeriana, Zincum sulphuricum, Argentum nitricum zu be-
kämpfen. Allein keines derselben darf sich eines glücklichen
Erfolgs rühmen. Der Höllenstein stört sogar oft (he Ver-
dauung, was man durch eine Verbindung mit bittern Extrak-
ten, selbst mit etwas Opium, verhüten kann.
Die Beziehung zwischen chronischen Hautkrankheiten
und Epilepsie war bei zwei Kranken entschieden ausgespro-
chen. Ein zwölfjähriges Mädchen hatte bis zum vierten Jahre
an impetiginösen Kopfausschlägen gehtten, nach deren plötz-
lichem Verschwinden die Epilepsie ausgebrochen war. Seit
dieser Zeit hatten die Anfälle mit kurzen Unterbrechungen,
die in der Kegel mit einem neuen Ausbruche der Impetigo
zusammenfielen, fortbestanden. Blödsinn und lähmungsartige
Schwäche der linken Körperhälfte deuteten ein tiefes Ergrif-
fensein des Gehirns an; allein selbst der sorgfältigsten, mit
Berücksichtigung der Causalindication angestellten Behänd-
43
hing gelang es nicht, eine auch nur geringe Besserung her-
beizuführen. Günstiger war der Ausgang im zweiten Falle.
Er betraf einen 45jährigen Mann, welcher in der Jugend an
einer sclmell unterdrückten Scabies gelitten hatte. Seit sie-
ben Jahren wurde er durch Anfälle, welche anfangs nur
während des Schlafes, später auch im wachen Zustande ein-
traten, und eine bedeutende Schwäche des Gedächtnisses zur
Folge hatten, belästigt. Die Angabe des Kranken, dass sich
von Zeit zu Zeit ein papulöser Ausschlag auf seinem Kör-
per zeige, der, wenn er in voller Blütlie stehe, die Häufig-
keit und Intensität der epileptischen Anfälle auffallend min-
dere , musste vorzugsweise in therapeutischer Hinsicht auf-
gefasst werden, und es wurden demgemäss Bäder mit Kali
sulphuratum, und Einreibungen verschiedener Körperstellen
mit einem Linimente aus Crotonöl verordnet. Zum innern
Gebrauche müde ein schon von den Alten in solchen Fällen
sehr gerühmtes Mittel verordnet, die Tinct. Jacobi (Liquor
Saponis stibiati), deren Gebrauch von 15 Tropfen an, in stei-
gender Dosis bis zu 25 — 30 Tropfen, lange Zeit fortgesetzt
wurde. Diese Behandlung hatte den glücklichsten Erfolg,
denn der Kranke, dessen Anfälle früher fast alle 14 Tage
wiederkehrten, ist jetzt schon ein volles Jahr von denselben
verschont gebheben. Von erheblichem Interesse ist auch die Kiu*
eines eilfjährigen scrophulösen Knaben, der seit einem Jahre
an der Epilepsie mit Paresis der rechten Kumpfglieder und
Dementia litt, so dass der Schullehrer auf seine Entfernung
aus der Schule bestand. Viele Mittel waren bereits ohne
Erfolg gebraucht. Die Schädelknochen zeigten einen bedeu-
tenden Grad von Hypertrophie, und mit Rücksicht auf die
scrophulöse Basis wurde das Jodeisen (zu | Gran in steigender
Gabe bis zu j Gr. 2 Mal täglich) und ein Setaceum in den
Nacken verordnet. Schon nach wenigen Wochen trat eine
auffallende Besserung ein. Nach einem Vierteljahre war die
Lähmung gehoben , die Intcllektualität entwickelte sich , ehe
epileptischen Anfälle kehrten nicht wieder. Zwei Jahre nach-
44
her wurde der Knabe im Besitze einer ungestörten Gesund-
heit, physischen und geistigen, vorgestellt.
Ein so entschiedener Erfolg des eingeschlagenen Heil-
verfahrens bleibt zumal in einer Krankheit , welche zu den
widerspenstigsten gehört, immer erfreulich. Doch sei damit
noch keineswegs schon jede Besorgniss eines Recidivs ver-
bannt. Wie häufig die epileptischen Anfälle grosse Pausen
machen, und dadurch zur irrigen Annahme einer völligen
Genesung verleiten, ist nur zu bekannt, und wurde anch in
der Poliklinik leider nicht selten beobachtet. Ein gesunder
Knabe hatte durch Schreck in seinem zehnten Jahre epilep-
tische Anfälle bekommen, welche regelmässig zu einer be-
stimmten Abendstunde eintraten, nach einiger Zeit aber von
selbst, ohne ärztliche Hülfe verschwanden, so dass sich die
Eltern der Hoffnung einer vollständigen Heilung des Kindes
hingaben. Im zwölften Jahre wurde der kleine Kranke in
der Klinik vorgestellt. Seit Her Wochen litt er an einem
heftigen, mit Uebelkeit, mitunter auch mit Erbrechen ver-
bundenen Stirnschmerze. In diesem Zustande hatte er beim
Schlittschuhlaufen einen Fall auf den Kopf gethan, und noch
an demselben Tage brach die Epilepsie von neuem aus, imd
machte regelmässig alle Abende zwischen 10 und 11 Uhr,
wenn der Knabe eben einschlafen wollte, ihre Anfälle. Koch
weit grösser war das Intervall in einem andern Falle, wo
indess eine hereditäre Anlage nicht zu verkennen war. Der
Kranke hatte von seinem 6ten bis zum 13ten Jahre an epi-
leptischen Anfällen gelitten. Allmählig verschwanden die-
selben, der Kranke war im Stande Militairdienste zu nehmen,
und blieb auch bis zum 33ten Jahre vollkommen gesund.
Allein zu dieser Zeit, nach einem 20jährigen Intervall, brach
die furchtbare Krankheit nach einem heftigen Aerger von
neuem und zwar mit einer die frühere weit iibertreffenden In-
tensität hervor.
Das typische Auftreten der Paroxysmen im vorletzten
Falle ist der Beachtung werth. Bei einem jungen Mädchen
traten die Anfälle im Beginn der Krankheit einen Tag um
den andern pünktlich um 5 Uhr Abends auf ; das Chinin hatte
aber nur den Eifolg diesen regelmässigen Typus zu verwi-
schen. Eine andere Kranke bekam ihre Anfälle alle vier
Wochen, zur Zeit des Neumondes. Jeder Paroysmus dauerte
24 Stimden, so zwar, dass während dieser Zeit zwölf Krampf-
anfälle eintraten, die durch ein fast zweistündiges soporöses
Stadium von einander getrennt waren. Bemerkenswerth ist,
dass nur nach dem vollständigen Ablaufe eines solchen Pa-
roxysmus Wohlbefinden eintrat, in dem Falle aber, dass nicht
alle zwölf Anfälle erfolgten, die Kranke noch mehrere Tage
über ein Gefühl der Unbehaglichkeit und Angst klagte, bis
die fehlenden Anfälle eingetreten waren. *)
Unter den durch isolirte Erregung einzelner Nerven
bedingten Krämpfen verdient der Fall einer 65jährigen Frau
besondere Erwähnung. Die Kranke hatte vor mehreren Jahren
am mimischen Gesichtskrampf gelitten, der indess ohne ärzt-
liche Hülfe nach und nach verschwunden war. Vor einem
Jahre verfiel sie in ein schweres gastrisch - nervöses Fieber,
von welchem sie zwar hergestellt wurde, aber einen kloni-
schen Krampf der Masseteren zurückbehielt. Sie leidet jetzt
an einem anhaltenden, nur zur Nachtzeit pausirenden Zähne-
klappem, welches gegen Abend einen so hohen Grad erreicht,
dass der ganze Kopf dadurch erschüttert wird. Die rechte
Seite ist stärker afficirt als die linke. Die aufgelegte Hand
fühlt deutlich die stossweise Zusammenziehung der Massete-
*) Aehnliclies habe ich bei einem jungen epileptischen, vom Professor
Romberg behandelten Manne beobachtet, den ich auf einer Badereise
nach Helgoland begleitete. Während die Anfalle früher zu unbestimmter
Zeit, bald mit längerem, bald mit kürzerem Intervall aufgetreten waren,
nahmen sie während des Gebrauchs der Seebäder einen bestimmten Ty-
pus an. Sie erfolgten stets am siebenten Tage zwischen S und 8l/2 Uhr
Morgens, und zwar mit einer solchen Regelmässigkeit, dass ich unter ver-
schiedenem Vorwände den Kranken stets dazu bewog, an dem betreffen-
den Morgen bis gegen 8‘/2 Uhr im Bette zu bleiben, um wo möglich Ver-
letzungen, die durch das Nicdcrfallen herbeigefiihrt werden konnten , zu
vermeiden. Nachdem der Kranke aus dem Bade zurückgekehrt war, ver-
lor sich auch dieser bestimmte Typus der Anfälle wieder. Dr. H.
4 (i
ren, während die Temporal- und mimischen Gesichtsmuskeln
im Zustande der Ruhe verharren. Schmerzhafte Empfin-
dungen im Gesichte fehlen, entstehen nur gegen Abend bei
grosser Intensität der krampfhaften Bewegungen. Bemer-
kenswerth ist das Nachlassen der letzteren während des Rau-
ens. Mit Ausnahme der vorangegangenen acuten Krankheit
lässt sich in ätiologischer Hinsicht nichts auffinden. Die
Zähne haben sich bei der Untersuchung als ganz gesund er-
wiesen. Bei diesem Mangel einer Causalindication unterliegt
die Behandlung den grössten Schwierigkeiten, und die auf
den Ramus massetericus der motorischen Portion des Quin-
tus beschränkte Affection besteht trotz vieler Ileil versuche
noch jetzt unverändert fort.
Krampfhafte Erregung des Oculomotorius und der Palpe-
braläste des Facialis zeigte sich gleichzeitig bei einem zwölf-
jährigen Knaben unter der Form des Nystagmus und der
N i c t ita t i o. Der Abgang von Helminthen lenkte den Ver-
dacht auf Reizung des Darmkanals und veranlasste die An-
wendung anthelminthischer Mittel, namentlich des Electuar.
anthelminth. Pli. p. Nach dem Abgänge grosser Mengen des
Oxyuris und einiger Lumbrici minderten sich die krampfhaf-
ten Bewegungen, welche durch Fomentationen der Augenlie-
der mit einer Boraxsolution (nj in ^iv Wasser) gänzlich be-
seitigt wurden.
Epidemieen des Keuchhustens gehörten nicht zu den
Seltenheiten. Diejenige des Sommers 1844 zeichnete sich
dadurch aus, dass sie weit häufiger als sonst geschieht, sehr
zarte, erst einige Monate alte Kinder befiel. Von der An-
sicht einer Reizung des Vagus durch Schwellung der Tra-
cheal- und Bronchialdrüsen ausgehend, wurde eine Zeitlang
der äussere und innere Gebrauch des Jods versucht, wegen
seiner Erfolglosigkeit bald wieder aufgegeben. Das in der
Poliklinik übliche Verfahren bei dieser Krankheit war ein rein
exspektatives. Bei der gänzlichen Unwirksamkeit aller bis-
her versuchten Mittel beschränkte man sich darauf, drohende
Complicationen, zumal Bronchitis, zu verhüten, und wo sie
47
vorhanden war , zu beseitigen, ohne auf den Keuchhusten
selbst Rücksicht zu nehmen. Gastrische Complication erfor-
derte die Anwendung der Brechmittel, die hier um so besser
wirken, als erfahrungsgemäss diejenigen Kinder, welche im
Hustenanfalle brechen, die Krankheit weit leichter ertragen
als andre. Auch ein schwacher Aufguss der Ipecacuanha
mit schleimigem Zusatze ist als beruhigendes Mittel zu em-
pfelüen. '
2. Äcineses.
L ä h m unge n.
1. Die Paralyse des Antlitznerven, welche un-
ter allen Lähmungen am häufigsten beobachtet wurde, betraf
je nach der Natur und dem Sitze des Anlasses bald nur ein-
zelne Filamente, bald den ganzen Stamm des Nerven.
Der gewöhnliche Anlass war der rheumatische, der
auch im kindlichei) Lebensalter wohl zu beachten ist. Bei
einem zehnjährigen Mädchen zeigte sich eine schon seit neun
Jahren bestehende vollständige Lähmung des rechten Ant-
litznerven, welche dadurch veranlasst worden war, dass die
Amme das schlummernde Kind aus der warmen Wiege ge-
nommen, und bei strenger Winterkälte über die Strasse ge-
tragen hatte. Unmittelbar darauf gab sich die Lähmung kund.
In einem andern Falle waren rheumatische Schmerzen in den
Gliedern mehrere Wochen vorausgegangen, als die Kranke,
beim Versuche Feuer anzublasen, plötzlich die Lähmung be-
merkte. Das Entweichen der Luft aus dem Mundwinkel
der gelähmten Seite machte es ihr immöglich, ihr Vorhaben
auszuführen. In diesem Falle beschränkte sich jedoch die
Paralyse auf die zu den Muskeln des Nasenflügels und der
Lippen gehenden Nervenzweige: die Palpebraläste, sonst so
häufig der Sitz der rheumatischen Lähmung, waren im unge-
störten Besitze ihrer Motilität.
Die frischen Fälle der rheumatischen Gesichtslähmung
wichen gewöhnlich einer antirheumatischen Behandlung und
der Application eines Blasenpflasters zwischen Process. ma-
48
stoid. und Kieferwinkel der gelähmten Seite. Bei zwei Kranken
zeigte sich der innere Gebrauch des Sublimats von entschie-
dener Wirksamkeit. Viel schwieriger ist die Kur in einge-
wurzelten Fällen, zumal wenn die Zeit mit der Anwendung
unnützer, ja nicht selten schädlicher Mittel verschwendet
worden ist. Zu welchen Missgriffen eine unrichtige Diagnose
solcher Fälle verleiten kann , und wie mächtig das sorgfäl-
tige, physiologisch begründete Studium der Nervenkrankhei-
ten in die ärztliche Praxis eingreift, lehrt besonders der eben
erwähnte Fall des zehnjährigen Mädchens, welches in ihrem
ersten Lebensjahre von der Krankheit befallen worden war.
Die hinzugerufenen Aerzte hatten den peripherischen Ur-
sprung der Lähmung verkannt, und, in der Voraussetzung ei-
ner wichtigen Krankheit des Centralorgans , die kleine Pa-
tientin lange Zeit mit Blutentleerungen, kalten Sturzbädern,
starken Ableitungen auf den Darmkanal gemartert, und ihre
Kräfte erschöpft. Ja, ein anderer Arzt hatte, durch das Ver-
ziehen des Mundwinkels nach der gesunden Seite verleitet,
die letztere für die kranke gehalten, und alle Mittel gegen
diese gerichtet. Bei einer neunjährigen Dauer der Paralyse
durfte man sich von gewölmlichen Mitteln keinen Erfolg mehr
versprechen, und die Kranke wurde deshalb der elektro- ma-
gnetischen Behandlung unter Leitung des Herrn Professor
Fkokiep unterworfen. Nachdem diese Behandlung 33 Wo-
chen lang fortgesetzt worden war, zeigte sich die Besserung
so weit vorgeschritten, dass nur noch der rechte Nasenflügel
und der Muse, frontalis nicht so leicht beweglich, wie die
der gesunden Seite waren.
Auch mechanische Anlässe an der Gesichtsfläche zeig-
ten sich in einigen Fällen von ätiologischer Bedeutung. Bei
einer alten Frau war der linke Antlitznerv durch Narben,
die sich in Folge tief gelegener Drüsenabscesse in der Nähe
des Foramen stylomastoideum und vor dem äussern Ohre
gebildet hatten, gelähmt worden, und da zugleich der Ra-
mus temporalis superficialis des Quintus in die narbige De-
generation mit hineingezogen war, fand gleichzeitig Anästhe-
49
sie der linken Schläfengegend bis in die Nähe des Scheitels
statt. — Ein neunjähriger Knabe war bei einem Mordver-
suche von einem tief eindringenden Messerstiche in der Ge-
gend des Fortunen stylomastoideum getroffen worden. Der
N. facialis dieser Seite wurde augenblicklich gelähmt. Nach
Verlauf mehrerer Monate hatte sich jedoch die Motilität in
den Lippen- und Nasenzweigen bereits wieder eingestellt.
Anlässe, welche den Facialis in seinem Laufe durch das
Felsenbein beeinträchtigen, waren öfters Ursache der Läh-
mung, vor allen die Tuberculose (Caries) des Felsen-
beins, die im Stadium der Erweichung Destruktion des Fal-
lopischen Canals und des durchstreichenden Antlitznerven
herbeiführt. Ahe Fähe dieser Art betrafen das kindliche
Lebensalter. Bei sehr jungen Kindern hess sich im ruhigen
Zustande kaum eine Veränderung der Gesichtszüge wahr-
nelunen, aber das Hervorrufen irgend einer Aeusserung des
Affekts, z. B. des Schreiens durch Compression des Unter-
leibs, war hinreichend, um augenblicklich das Missverhältniss
zwischen den beiden Gesichtshälften hervortreten zu lassen.
Diese Art der Lähmung charakterisirte sich vorzugsweise
durch folgende drei Momente. 1) Das Vorausgehen einer
Otorrhöe, mit welcher nicht selten die Gehörknöchelchen ent-
leert wurden. In einem Fähe brachte die Mutter des Kin-
des den Hammer und Amboss mit nach der Klinik. 2) Die
Krümmung der Uvula nach der gelähmten Seite. Diese
bisher noch wenig beachtete Erscheinung zeigt sich in allen
Fällen der halbseitigen Gesichtslähmung, deren Anlass im
Felsenbeine seinen Sitz hat. Sie spricht für einen wesent-
lichen Einfluss des N. faciahs auf die Motihtät der LTvula,
und hat wahrscheinlich darin ihren Grund, dass der Nervus
petrosus superficialis major, welcher das sogenannte Knie des
I acialis im Fallopischen Kanal mit dem Ganglion splienopa-
latinum in Verbindung setzt, nicht sowohl aus dem letzteren
zum Facialis geht, sondern vielmehr als Zweig des Faciahs,
der sich in das Gaumensegel verbreitet, zu betrachten ist. Die
Krümmung des Zäpfchens nach der gelähmten Seite hin
4
50
findet ihr Analogon in der Stellung, welche die Zunge in
Ilemiplegieen anzunehmen pflegt. 3) Taubheit auf dem Ohre
der leidenden Seite, mag sic nun durch Ausstossung der Ge-
hörknöchelchen, oder durch Beeinträchtigung des dem Facialis
nahe liegenden Acusticus bedingt sein.
Auch entzündliche Processe im Innern des Felsen-
beins können die Lähmung des Antlitznerven veranlassen,
wofür der folgende Fall als Beispiel dienen mag.
Ein gesunder 38jähriger Mann hatte sich vier Tage vor
seiner Meldung in der Klinik durch kaltes Waschen des
schwitzenden Kopfes eine heftige Erkältung zugezogen.
Abendliche Fieberbewegungen, und ein tiefsitzender, dumpfer
Schmerz im linken Ohre stellten sich ein, und das Hörver-
mögen desselben nahm merklich ab. Der Kranke, der sich
seit zwanzig Jahren einer ungetrübten Gesundheit erfreut
hatte, würde indess diese Symptome wenig beachtet haben,
hätte er nicht beim Versuche zu pfeifen plötzlich die über-
raschende Bemerkung gemacht, dass die Unmöglichkeit den
linken Mundwinkel fest zu schliessen und das Ausströmen
der Luft aus demselben ihn daran verhinderte. Die klini-
sche Untersuchung ergab eine vollständige Lähmung aller
vom linken Facialis versorgten Muskeln, während die Sensi-
bilität und die masticatorischen Bewegungen nicht die ge-
ringste Störung erlitten hatten. Die Uvula war stark nach
der linken Seite gekrümmt. Der Schmerz in der Tiefe des
linken Ohrs und die Schwerhörigkeit bestanden nicht allein
fort, sondern hatten sich seit dem Beginn der Krankheit be-
deutend gesteigert. Die Anamnese dieses Falls sprach zwar
für einen rheumatischen Anlass der Paralyse, dass aber die-
ser den Nerven nicht in seinen Gesichtsramificationen , son-
dern in. seinem Laufe durch den Fallopischen Kanal getrof-
fen hatte, wurde durch die Schiefstellung der Uvula, den
Schmerz in der Tiefe des Ohrs und die Schwerhörigkeit
ausser Zweifel gesetzt. Wahrscheinlich hatte sich eine An-
schwellung (Periostitis) der das Innere des Labyrinthes aus-
kleidendon Membran in Folge des rheumatischen Einflusses
51
gebildet, wodurch der Facialis und Acusticus comprimirt und
ihrer Leitungsfähigkeit beraubt wurden. Dieser Annahme
gemäss wurden acht Blutegel hinter das linke Ohr gesetzt,
und die Nachblutung mehrere Stunden unterhalten. Die fer-
nere Behandlung bestand aus Einreibungen der grauen Queck-
silbersalbe und dem innern Gebrauch einer Verbindung der
Magnesia sulphurica mit Tinctura Seminum Colchici. Schon
nach wenigen Tagen war die Motilität in den Stirn- und
Ringmuskel der Augenlider zurückgekehrt, Schmerz und
Schwerhörigkeit hatten bedeutend nachgelassen. Acht Tage
nach dem Beginn der Kur war keine Spur von Entstellung
im Gesicht wahrzunehmen, nur die Uvula hatte ihre normale
Stellung noch behalten; allein auch diese verschwand und
der Kranke konnte nach vierzehn Tagen als vollständig ge-
heilt aus der Behandlung entlassen werden.
Die Krümmung der Uvula ist besonders in Fällen , wo
der Sitz der Krankheit zweifelhaft sein könnte, ein werth-
volles Symptom. Ein achtjähriges Mädchen litt bereits seit
ihrer Kindheit an einer Lähmung des linken N. facialis in
seinem ganzen Umfange. Tiefe Schnittnarben in der Nähe
o o ^
des Foramen stylomasrtoideum konnten leicht zu dem Glau-
ben verleiten, dass in ihnen der Grund der Paralyse läge,
allein die sehr auffallende Krümmung der Uvula nach der
gelähmten Seite richtete den Verdacht auf einen im Innern
des F elsenbeins verborgenen Anlass, und die Mittheilung der
Mutter, dass das Kind im siebenten Monate an einer starken
Otorrhoe des linken Ohrs gelitten hätte, mit welcher kleine,
eigentümlich geformte Knochenstücke abgegangen wären,
bestätigte diese Annahme vollkommen. *)
2. Zungenlähmung. Diese Krankheit kam, unab-
hängig von apoplektischen Zuständen, nur einmal zur Beob-
*) Bei der Vorstellung dieses Kindes in der Klinik zeigte sich, im
Widerspruche mit den übrigen Symptomen einer Lähmung des linken Fa-
cialis , der Mund nach links verzogen. Der Grund war aber nur ein
mechanischer, indem eine scrophulöse, später sich abscedirende Anschwel-
lung der rechten Wange den Mund nach links hinübcrgedriiugt hatte.
4 *
52
achtung: die 69jährige Kranke wurde zuerst am 8. Mai 1843
in der Klinik vorgestellt. Nachdem längere Zeit heftige rcissende
Schmerzen im Hinterkopf und Nacken vorausgegangen, hatte
sie ungefähr vor zwei Monaten ein erschwertes Sprechen be-
merkt. Sie fing an zu stammeln, die Deglutitionsbewegun-
gen gingen nicht mein* mit der gewohnten Energie von Stat-
ten, und ein reichlicher Speichelausfluss stellte sich ein. Bei
der Untersuchung zeigte sich sogleich eine auffallende Ver-
änderung: die Zunge war nicht allein im Verhältnis zu ih-
rem natürlichen Umfange geschwunden, sondern hatte auch
ihr glattes, ebenes Ansehn verloren, indem sie stellenweise
Falten und Runzeln bildete. Merkwürdig war eine perma-
nente oscillirende Bewegung aller Muskelbündel der Zunge,
welche die Kranke ausser Stande war auf -Geheiss über die
untere Zahnreihe vorzustrecken. Ebensowenig waren die seit-
lichen Bewegungen und das Zurückziehen noch ausführbar, so
dass die Zunge, bis auf die vibrirenden Bewegungen ihrer
Muskelbündel, wie ein Keil in der Mundhöhle ruhte. Hass
diese Störung der Motilität eines für Mastication und De-
glutition so wichtigen Organs auch die genannten Processe
wesentlich beeinträchtigen musste, war natürlich. Die Sen-
sibilität der Zunge war zwar etwas stumpfer als im Normal-
zustände, doch wurden Nadelstiche deutlich empfunden. Ue-
ber ihr Geschmacksvermögen befragt, gab die Kranke stam-
melnd zur Antwort, dass ihr alle Speisen, die sie genösse,
den nämlichen Geschmack erregten: doch wurde (wie sich
bei einem späteren Versuche herausstellte) die Bitterkeit des
auf den hintern Theil der Zunge gestreuten Coloquintenpul-
vers schnell und deutlich percipirt. Von Zeit zu Zeit em-
pfand die Kranke reissende Schmerzen im Gesichte, und
klagte immer über ein taubes, spannendes Gefühl in den
Wangen und Lippen, ohne dass die Untersuchung eine Ab-
nahme der Sensibilität nachwies. Beim tiefen Druck unter
dem Winkel des Unterkiefers, wo der N. hypoglossus seinen
Lauf nimmt, empfand sie auf beiden Seiten Schmerz. Sonst
war, mit Ausnahme der durch die mangelhafte Ernährung
bedingten Schwäche und Abmagerung nichts Krankhaftes
wahrzunehmen.
Schon nach der ersten Untersuchung konnte man an
einer isolirteu, von einem Leiden des Centralorgans unab-
hängigen Lähmimg des N. hypoglossus nicht zweifeln. Fälle
dieser Art sind ausserordentlich selten, und der vorliegende
musste um so grösseres Interesse erregen, als in den beiden
ausserdem bekannten (s. Dupuytren: Lcc’ons orales T. I.
p. 199 imd Prager Vierteljakrsschrift 1845. Heft II.
p. 98.) die Affektion sich nur auf eine Zimgenhälfte be-
schränkte. Hier zeigte sich die ganze Zunge gleichmässig
von Lähmung imd Atrophie befallen, bei gleichmässiger In-
tegrität des Geschmacks und Gefühls. Man musste demnach
ein peripherisches Leiden beider X. hypogiossi annchmen.
Schwieriger ist es, den Sitz, unmöglich, die Natur des
lähmenden Anlasses in diesem Falle zu bestimmen. Die ob-
wohl bis ins Kleinste gehende Aehnlichkeit der Symptome
berechtigt noch nicht, liier die gleiche Ursache wie in dem
Falle von Dupuytren anzunehmen, wo eine Hydatide den
X. hypoglossus bei seinem Austritte aus dem Foramen con-
dyloideum posticum comprimirt imd seiner Leitungsfälligkeit
beraubt hatte. Mit Gewissheit darf man jedoch annehmen,
dass der Sitz des Anlasses, welcher Art er auch sein möge,
sich auch liier an der Basis cerebri in der Nähe der Medulla
oblongata befindet, wofür noch andre, im Verlaufe der Krank-
heit hinzugetretene Erscheinungen sprechen. Dass jede The-
rapie in einem solchen Falle erfolglos bleiben würde, liess
sich von vom herein erwarten : in der That ist die Lähmung;
der Zunge jetzt eine vollständige geworden, die Atrophie hat
bedeutende Fortschritte gemacht, das Sprachvermögen ist
gänzlich erloschen, und nur unarticulirte Töne bilden die Un-
terhaltung der Unglücklichen, welche die Tochter durch Ue-
bung verstehen gelernt, und dadurch als Dolmetscherin zwi-
schen der Kranken und dem Arzte dienen kann. Die Deglu-
tition ist fitst ganz unmöglich; nur flüssige Nahrungsmittel,
theelöffcl weise eingeflösst, gelangen unter grossen Anstren-
gangen der Kranken theilweise in den Magen, werden aber
grösstentheils aus Mund und Nase wieder ausgestossen. Auf
diese Weise ist die Unglückliche der Yerhungerung ausge-
setzt, wenn nicht die Suffocationsanfälle , die seit einem
Jahre hizugetreten sind, ihrem Leben früher ein Ziel setzen.
Diese Anfälle deuten auf die Theilnahme eines dem N. hy-
poglossus naheliegenden Nerven, des Vagus, zumal sie auch
die pfeifende, mühsame Inspiration, die so häufig in lähmungs-
artigen Zuständen dieses Nerven beobachtet wird, nicht ver-
missen lassen. Seit einiger Zeit macht sich auch in den unter
der Herrschaft des N. accessorius stehenden Muskelbündeln
des Cucullaris und Sternocleidomastoideus jene oscillirende
Bewegung mit Atrophie verbunden bemerkbar, so dass die
Unglückliche kaum noch im Stande ist, den Kopf aufrecht
zu halten.
In dem beschriebenen Falle leidet nicht allein die masti-
catorische, sondern auch die articulirende Bewegung der Zunge ;
häufiger wird die letztere allein von der Lähmung befallen,
wodurch Stammeln, so oft Vorbote oder Ueberbleibsel apo-
plektischer Anfälle, entsteht. In dieser Beziehung verdient
folgender Fall erwähnt zu werden:
Ein 15 jähriger SchifFerknabe wurde, im Begriff das Se-
gel aufzüziehen, von einem losschnellenden Tau an der linken
Seite des Kopfes getroffen, und stürzte augenblicklich be-
Avusstlos zu Boden. Als er nach Verlauf einer Viertelstunde
wieder zu sich kam, bemerkte man eine Lähmung der rechten
Körperhälfte und vollkommenes Unvermögen zu sprechen:
die Zunge wurde beim Herausstrecken aus dem Munde nach
der gelähmten Seite hinübergezogen. In der das linke Schei-
telbein bedeckenden Haut zeigte sich eine mehrere Zoll lange,
stark blutende, bis auf den Knochen dringende "VY unde. In
Bernburg, wo sich dieser Unfall ereignet hatte, genas der kleine
Kranke zwar von seiner Hemiplegie, doch wollte sich die
Sprache nicht wieder einfinden, und der Vater benutzte daher
seine Anwesenheit in Berlin, in der Poliklinik Kath und
Hülfe zu suchen. Zur Zeit der Vorstellung des Knaben, am
oo
9. Mni 1S-44, waren seit der Verletzung, deren Narbe noch
deutlich zu erkennen war, drei Wochen verstrichen. Die
Motilität der Extremitäten war vollkommen wiederhergestellt,
und auch die Zunge konnte nach allen Eichtungen ohne Schwie-
rigkeit bewegt werden. Dagegen war die articulirende Be-
weffung derselben noch immer ganz aufgehoben: der kleine
Kranke war nicht im Stande ein einziges Wort hervorzu-
bringen; nur unarticulirte Laute wurden mit der grössten
Anstrengung herausgestossen. Die Pupille des linken Auges
zeigte im Vergleich mit der des rechten eine beträchtliche
Erweiterung, reagirte aber gegen den Einfluss des Lichtes
auf normale Weise. Nach Aussage des Vaters, und wie der
Kranke selbst durch Geberden zu verstehen gab, fühlte er
noch immer eine gewisse Benommenheit des Kopfes, die sich
zuweilen zu Schwindelanfällen steigerte. Sonst Hessen sich,
mit Ausnahme einer Neigung zur StuHverstopfung, durchaus
keine krankhaften Erscheinungen auflinden. Der mechanische
Anlass der Krankheit im V erein mit den erwähnten Sympto-
men machte die Annahme eines Blutergusses innerhalb der
Schädelhölile un zweifelhaft. WahrscheinKch hatte derselbe
nicht im Gehirne selbst, sondern zwischen den Membranen,
und zwar auf der linken Seite seinen Sitz, durch Kesorption
aber bereits bedeutend an Umfang verloren. Theils um die
letztere zu befördern, theils um den noch vorhandenen Con-
gestionszustand, der sich durch Eingenommenheit des Kopfes
und durch Schwindel aussprach, zu beseitigen, wurden acht
Blutegel hinter das linkeOhr apphcirt, und reichhcheNachblutung
empfohlen. Da der Kranke bereits am folgenden Tage Berlin
verhess, so wurde dem V ater eingeschärft, die Blutentleerung
von vier zu Ger Tagen wiederholen zu lassen. Zum innern
Gebrauch ward eine Mischung aus Magnesia sulphurica *ß
mit Tartar, emet. gr. iß in Acp destill. 3 iv, stündlich einen
Esslöffel zu nehmen, verordnet. Die Furcht vor brechener-
regenden Mitteln bei Blutergüssen in der Schädelhölüe ist
übertrieben: schon Desault und Richter behaupten, dass
Brechen nach Hirnerschüttcrungen wohlthätig wirke , und
56
Heim gab bei frischer Hämorrhagia cerebri den Brechwein-
stein mit dem glücklichsten Erfolge. Schon am folgenden
Tage fühlte der kleine Kranke den Kopf bei weitem leichter
und freier, und der V ater, dessen Vertrauen dadurch wesent-
lich erhöht wurde, versprach die Behandlung nach den erhal-
tenen Vorschriften pünktlich fortzusetzen. Am 1. Juni, etwa
drei Wochen nach dem Beginne der Kur, fing der Knabe,
zum freudigen Erstaunen der Eltern, wieder an zu sprechen,
und am 5. wurde er, abermals in Berlin anwesend, als voll-
ständig geheilt in der Klinik vorgestellt.
3. Lähmung des N. vagus. Sie wurde häufig als
Symptom der tuberculösen Anschwellung der Bronchialdrüsen
im kindlichen Alter beobachtet , und wird als solches mit
dieser Krankheit zugleich abgehandelt werden. Ausserdem
wurden Lähmungszustände des Vagus zuweilen im Gefolge
andrer Neurosen, zumal der Hysterie, beobachtet. Am merk-
würdigsten war der Fall eines 24jährigen Mädchens, welches
von Zeit zu Zeit von einem schmerzhaften Druck in der
Herzgrube mit Aufsteigen einer klaren Flüssigkeit längs des
Oesophagus in die Mundhöhle befallen wurde. Bei jedem
dieser Anfälle empfand die Kranke einen unwiderstehlichen
Ileiz zum Husten und verlor vollständig dieStimme,
die erst nach Verlauf von vier bis sechs Stimden sich wieder
einzustellen pflegte. Bei dieser Kranken war mithin gleich-
zeitig eine Affektion der gastrischen und respiratorischen
Balm des Vagus vorhanden, welche, wie die fernere Unter-
suchung ergab, auf allgemeiner Anämie und Störung der
Uterinfunktionen basirte. Warme Bäder, der innere Gebrauch
der SrAiiL’schen Pillen, und Einreibungen des 01. Croton.
in den Hals stellten die Kranke wieder her.
4. Lähmungen der Extremitäten.
Die durch Bleivergiftung bedingten Lähmungen tre-
ten gewöhnlich nach vorausgegangenen Fä len der Bleikolik,
seltener als primäre AfFektionen auf. Das Letztere geschah
bei einer 32jährigen Frau, welche dreizehn Jahre in einer
hiesigen Schriftgiesserei mit dem Schleifen der Buchstaben
ohne irgend einen Nacht heil für ihre Gesundheit beschäftigt
gewesen war. Uwe Verhcirathnng setzte dieser Arbeit ein
Ziel, bis nach einer siebenjährigen Ehe der Tod ihres Man-
nes sie nöthigte, von neuem ihre frühere Beschäftigung auf-
zunehmen. Acht Tage vor ihrer Anmeldung in der Klinik
hatte sie zuerst eine erschwerte Beweglichkeit der rechten
Hand bemerkt, welche sich nach wenigen Tagen bis zur voll-
kommenen Arbeitsunfähigkeit steigerte. Am Tage ihrer
Vorstellung zeigte sich eine vollständige Paralyse der Streck-
muskeln der rechten Hand , bei normaler Thätigkeit der
Flexoren, wodurch die für die Bleilähmung charakteristische
halbgebogene Stellung der Finger hervorgebracht wurde.
Beim Kaltwerden des Armes empfand die Kranke heftige
reissende Schmerzen in .demselben. Auch ein anderes, bei
Bleikrankheiten häufig vorkommendes Symptom, die Span-
nung und Härte des Pulses, fand in einem hohen Grade
statt. Auf wiederholte Fragen, ob sich bei ihr jemals Symptome
der Bleikolik gezeigt hätten, antwortete sie stets verneinend, «
und blieb bei ihrer Behauptung, dass dies ihre erste Krank-
heit sei. Auffallend war eine gewisse geistige Aufregung,
die sich durch Hast der Sprache und Geberden kund gab:
ob diese aber im Charakter der Kranken begründet, oder,
was nicht selten vorkommt, ein Attribut der Bleivergiftung
war, muss dahingestellt bleiben. Die Behandlung bestand
in lauwarmen Bädern mit Zusatz von 3 Unzen Kali sulphu-
ratum, die um den andern Tug wiederholt werden sollten.
Starke Friktionen des leidenden Arms im Bade wurden em-
pfohlen. Zum rnnem Gebrauch ward Morgens und Abends
7 gr. Extract. Nuc. vomicae spirituos. verordnet. Nach drei-
wöchentlicher Fortsetzung dieser Kur war die Kranke bereits
im Stande, wieder feine Handarbeiten vorzunehmen, als plötz-
lich die Lähmung auch die Extensoren der linken Hand be-
fiel. Die Dosis des Extract. Nuc. vomic. spirit. wurde auf
\ Gran erhöht und die Behandlung in derselben Art fortge-
setzt, bis nach Monatsfrist alle krankhafte Erscheinungen
verschwunden waren.
58
Aehnliche Lähmungen einzelner Muskelgruppen wie durch
Bleivergiftung kommen auch in Folge andrer Anlässe, na-
mentlich des rheumatischen vor, und zeichnen sich ebenfalls
durch frühzeitige Atrophie der Muskelsubstanz aus. In fol-
gendem Falle fand das auffallende Phänomen der Osciüation
der Muskelfasern in hohem Grade statt.
Ein 3 5 jähriger Tafeldecker hatte sich bis auf die im
Jahre 18:24 überstandenen Pocken und ein drei Jahre darauf
folgendes Nervenfieber stets einer guten Gesundheit erfreut.
Am 19. April 1842 setzte er sich einer starken Erkältung
aus, indem er am ganzen Körper schwitzend in einem feuchten
Garten frühstückte, und dabei dem Weine tüchtig zusprach.
Schon am folgenden Tage bemerkte er eine auffallende
Schwäche im Daumen der rechten Hand, die sich bald auf'
die übrigen Finger, den Arm und die linke obere Extremität
ausdehnte, allmählig zunahm, und zur Zeit der Vorstellung
des Kranken in der Klinik in einen vollkommen paralytischen
. Zustand beider obern Extremitäten übergegangen war. Nach
dem Ablegen der Kleidungsstücke zeigten die befallenen Glieder
einen hohen Grad der Abmagerung, die aber nicht sowohl
einem Schwinden des Fettes, als Gelmehr einer Atrophie der
gelähmten Muskeln beizumessen war. Sämmtliche Streck -
und Beugemuskehi des Vorderarms, der Deltoideus, Pecto-
ralis major, Serratus anticus major, befänden sich in diesem
Zustande, so dass z. B. der Biceps sich wie ein dünner
Strang anfühlen liess. Merkwürdig war dabei eine Vibration
der einzelnen Muskelbündel, vorzugsweise im grossen Brust-
muskel, Deltoideus, Sternoclcidomastoideus, Cucullaris, den
an der hintern Fläche des Schulterblatts hegenden Muskeln,
und dem Latissimus dorsi. Diese Oscillationen, welche nicht
allem dem Auge des Untersuchenden, sondern auch dem Ge-
fühl des Kranken selbst deutlich bemerkbar waren, zeigten
sich zwar permanent, bald in diesem, bald in jenem Theile
der genannten Muskeln, nahmen aber auffallend zu, sobald
der Kranke den entblössten Körper dem Einflüsse der kalten
Luft aussetzte. Seit einigen Monaten hat auch die motorische
59
Kraft der untern Extremitäten und der Zunge abgenommen;
in der letzteren sind, wie bei der zuvor erwähnten Kran-
ken, die Oscillationen ebenfalls bemerkbar, und stören die
Sprech- und Schlingbewegungen, während die Gefühls- und
Geschmacksenergie keine Abweichung vom Normalzustände
% darbietet. Die Sensibilität der gelähmten Theile ist vollkom-
men erhalten. Wiederholte Contracturen des Mittelfingers
der linken Hand giebt der Kranke selbst als ein belästigendes
Symptom an ; auch will er zur Nachtzeit häufig an spastischen
Zusammenziehungen der Wadenmuskeln leiden, denen er nur
durch festes Anstemmen der Fusssohle an die Bettpfosten
begegnen kann. Die Se- und Excretionen sind normal, die
Potentia virilis nicht erloschen.
Die meisten der angeführten Erscheinungen machen die
Annahme eines Spinalleidens, und zwar im obem Theile des
Rückenmarks, wahrscheinlich, doch sind genauere Bestimmun-
gen nicht möglich. So mangelt denn auch jeder feste Halt
für die Therapie, und keine Art der Behandlung vermochte
bisher dem Fortschritte der Krankheit Schranken zu setzen.
Hieran reihet sich der Tremo r, wovon mehrere Fähe
im Klinikum sich darboten.
Eine Beschränkung des Tremor paralyticus auf eine Hälfte
des Körpers winde bei einem 37 jährigen Portier beobachtet.
Seit drei Jahren leidet er an anhaltendem Zittern und ge-
schwächter Motilität der linken untern Extremität, woran seit
Jahresfrist auch der linke Arm Theil nimmt. Ernährung:
und Sensibilität der befahenen Glieder sind ganz normal, nur
von Zeit zu Zeit werden reissende Schmerzen in ihnen, so
wie in den Extremitäten der gesunden Seite empfimden, mit
jedesmahger Steigerung des Tremor. Alle Funktionen gehen
ungestört von Statten, und mit Ausnahme früher vorhandener,
seit mehreren Jahren aber ausgebhebener Hämorrhoidalblu-
tungen lässt sich auch anamnestisch kein Moment auffinden,
welches mit der gegenwärtigen Krankheit in Zusammenhang
zu bringen wäre. Eine auf jene gerichtete Behandlung (Ap-
60
plication von Blutegeln an den After, Gebrauch von Schwe-
felmitteln) hatte zwar während einiger Tage guten Erfolg,
indem der Tremor sich mässigte, allein die Besserung war
nicht von Bestand. Später wurden mit Rücksicht auf die
rheumatische Natur der Schmerzen, und auf die Erleichterung,
Avelche starke Schweisse dem Kranken gewährten, russische
Dampfbäder verordnet, ohne jedoch bisher wesentlichen Nutzen
gestiftet zu haben.
Weit günstiger war der Eifolg derselben bei einer 2 i jäh-
rigen Kranken, welche seit mehreren Monaten an einem
Tremor paralyticus beider obern Extremitäten litt. Gleich-
zeitig gaben sich entschiedene Merkmale der rheumatischen
Diathese kund, reissende Schmerzen im Kopf und den Ex-
tremitäten, Neigung zu Schweissen, Erleichterung durch starke
Transpiration, Sedimentbildung im Harn. Schon nach sieben
Dampfbädern trat eine auffallende Besserung ein; nach län-
gerem Gebrauch derselben verschwand das Zittern vollstän-
dig, und nur eine ungewöhnliche Kraftlosigkeit der Anne
und Hände ist noch zurückgeblieben.
Die zuerst von Parkinson unter dem Namen Shaking
palsy oder Paralysis agitans beschriebene Krankheit
wurde in der Poliklinik dreimal beobachtet. In allen Fällen
zeigte sich als diagnostisches Kriterium die Verbindung
des heftigen Tremor mit abnormer Statik der Bewegun-
gen. Die beiden ersten Kranken empfanden einen steten
Drang rückwärts zu gehen oder zu fallen, trugen des-
halb beim Gehen den Kopf immer stark nach vorn iiber-
gebeugt; der eine spreizte, um feststehen zu können, die
Beine weit auseinander, indem er gleichzeitig die Arme auf
dem Rücken kreuzte, in der Absicht, durch diese Stellung
dem heftigen Drange zu retrograden Bewegungen Widerstand
zu leisten. Bei einer dritten Kranken fand eine Neigung
nach vorn zu fallen statt. Die Kraft der Bewegungen war
in allen Fällen merklich vermindert, die Glieder, nach Aus-
sage der Kranken, schwer wie Blei. Bei jeder Bewegimg
61
\
-t
nahm der Tremor, der sich im ersten Falle auch auf die
Muskeln des Unterkiefers erstreckte und das Sprechen sehr
erschwerte, bedeutend zu.
Bei einem Kranken schien die Ursache rheumatischer
Natur zu sein : er leitete das Uebel von dem Augenblicke
her, wo er im Jahre 1813 vor Magdeburg, von den Kosaken
bei schwitzender Haut seiner Kleider beraubt, mehrere Stun-
den auf dem durchnässten Erdboden lag. Der zweite Kranke
hatte vor einem Jahre an einer Intermittens quartana gelitten,
nach deren schneller Unterdrückung die Paralysis agitans
eino-etreten war. Im dritten Falle Hess sich die Ursache
O
nicht genau bestimmen. Die Kranke, welche vor dreissig
Jahren ein Nervenfieber überstanden hatte, will seitdem zu
wiederholten Malen von Hemiplegie der rechten Seite befallen
worden sein, die durch den Gebrauch der Teplitzer Thermen
geheilt wurde. Ob diese Umstände, so wie eilf Wochenbet-
ten und ein von Gram und Sorgen getrübtes Leben eine
ätiologische Beziehung zur Paralysis agitans haben, muss
dahingestellt bleiben. Uebrigens war dies der einzige Fall,
in welchem die Behandlung, bestehend in warmen Bädern
mit gleichzeitiger kalter Uebergiessung des Nackens und
Rückens, und dem Gebrauche des Ferrum carbonicum zu
3ß dreimal täglich, wenn auch nicht radicale Heilung, doch
auffallende Milderung der Symptome herbeiführte. Die bei-
den andern Kranken blieben ungeheilt.
Unter den cerebralen Anlässen der Lähmung wurden
Tuberkel und Erweichung des Gehirns, letztere sowohl
als primäre Affektion, als in der Umgegend apoplektischer
Heerde am häufigsten beobachtet.
Die Tuberkulose des Gehirns kam nur im kindlichen
Alter vor und endete in der Regel tödtlich : aus diesem Grunde
verdient der folgende Fall als Ausnahme mitgetheilt zu werden.
H. B., ein 2 'jähriges Kind, welches wiederholt an Anschwel-
lung und Entzündung der Cerdival- und MEiBOM’schen Drüsen
gelitten, hatte seit vier Wochen die Kraft den rechten Arm
zu bewegen eingebüsst. Der Arm hing schlaff am Körper
herab, und die entsprechende Hand liess beim Versuche ir-
gend einen Gegenstand zu ergreifen, denselben kraftlos fallen.
Das Kind, welches schon vollkommen gut laufen konnte, ver-
mochte jetzt nicht mehr auf den Füssen zu stehen, was vor-
zugsweise durch eine Schwäche des rechten Beins bedingt
war. Seit acht Tagen hatte sich Strabismus convergens auf
beiden Augen eingestellt: doch liess sich ein höherer Grad
desselben auf dem rechten Auge nicht verkennen, wenn auch
die Pupillen keinen Unterschied darboten. Der Kopf konnte
nicht mehr aufrecht getragen werden, und sank stets auf die
Schulter der Mutter, welche noch den Umstand hervorhob,
dass das Kind mit entschiedener Vorliebe die linke Seite
des Kopfes anlehne. Zeichen von Kopfschmerz liessen sich
nicht entdecken. Auffallend war aber die Gemüthsverstim-
mung des kleinen Kranken, der weder durch Spielzeug noch
durch freundliches Zureden aus seinem dumpfen Hinbrüten
geweckt werden konnte. Die Verdauungsorgane schienen
ungestört, ja die Mutter erwähnte ausdrücklich einen unge-
wöhnlichen, kaum zu stillenden Heisshunger des Kindes :
auch bemerkte man Völle des Unterleibes, der bei der Per-
cussion tympanitischer als im Normalzustände tönte. In die-
sem Falle musste die Hemiplegie, der höhere Grad des Stra-
bismus auf dem rechten Auge, das Hinüberziehen des Kopfs
nach der linken Seite den Verdacht auf ein organisches Lei-
den der linken Hirnhemisphäre lenken. Das Lebensalter des
kleinen Kranken und die vorausgegangenen scrophulösen Af-
fektionen sprachen für die Entwicklung von Tuberkeln in
derselben, wenn auch einige andre Symptome, namentlich
der Kopfschmerz und die convulsivischen Anfälle, beides so
häufige Begleiter der Himtuberculose, noch vermisst wurden.
Auch liess sich che kurze Dauer der Affektion, die von vom
herein mit paralytischen Erscheinungen aufgetreten war, da-
gegen anfiihren. Allein man weiss, dass häufig Gehirntu-
berkel bei Kindern oft lange Zeit bestehen, ehe sie durch ir-
gend ein Syptom ihr Dasein verrathen, dass sie sogar nicht
selten bei Sectionen solcher Kinder, die an andern Krank-
f>:*
beiten starben, gefunden werden, ohne dass man während des
Lebens eine Ahnung ihrer Existenz hatte. Das Kind, wel-
ches den Gegenstand dieser Beobachtung bildet, hatte vor
zwei Monaten eine acute Entzündung der Respirationsor-
gane überstanden, und der mächtige Einfluss, welchen solche
Krankheiten auf die rasche Entwicklung schon bestehender
Tuberkel, in welchen Organen diese auch ihren Sitz haben
mögen, ausüben, ist bekannt. Die Behandlung wurde dem-
nach auf folgende Weise geleitet. Zur Beseitigung des con-
gestiven Zustandes im Gehirn, welcher den Uebergang der
Tuberkel in Erweichung immer wesentlich fördert, schienen
topische Blutentleerungen unerlässlich zu sein. Das grösste
Gewicht wrn'de indess auf kräftige Ableitungen nach der
Aussenfläche des Kopfes gelegt, wozu man sich der Einreibun-
gen der Brechweinsteinsalbe bediente. An einer Stelle von
dem Umfange eines Zweithalerstücks wurde, nachdem die
Haare abgeschoren, die Salbe bis zur Bildung der Pocken
eingerieben, nach deren Abtrocknen dasselbe Verfahren auf
einer andern Stelle wiederholt ward. Kräftige Ableitungep
auf den Darmkanal, der Gebrauch des Ol. jecoris Aselli, imd
lauwarme mit Kochsalz versetzte Bäder vervollständigten die
Behandlung, die nach neunzehn Tagen schon einen so glück-
lichen Erfolg hatte, dass das Kind seine Extremitäten wieder
zu gebrauchen anfing und der Strabismus vollständig ver-
schwunden war. Jetzt, nach zwei Jahren, ist der kleine
Kranke ein kräftiger, woldgenährter Knabe geworden, der
keine Spur der früher vorhandenen drohenden Erscheinungen
darbietet. — Kinder, die an Hirntuberkeln leiden, bekommen
nicht selten Anfälle von Convulsionen, zu denen sich auch
wohl ein soporöser Zustand und andre der Meningitis zukom-
mende Symptome gesellen. Der Grund dieser Erscheinun-
gen ist ein von Zeit zu Zeit eintretender Congestionszustand
der Hirnsubstanz in der Umgebung der Tuberkel, welcher
durch eine antiphlogistische Behandlung gewöhnlich beseitigt
wird. Auf diese Weise müssen die zahlreichen Fälle von
Heilung der wahren Meningitis gedeutet werden, so wie auch
64
die nicht selten geäusserte Versicherung, dass ein Kind oft-
mals an der Gehirnentzündung gelitten habe. *)
In einigen Fällen sprachen die begleitenden Erscheinungen
der Hemiplegie für einen Erweichungspr ocess im Ge-
hirne : da indess die betreffenden Kranken sich bisher noch in
der Behandlung befinden, so können diese Beobachtungen nicht
als vollständige betrachtet werden. Alteration der Sensibi-
tät in den gelähmten Gliedern fehlte in diesen Fällen nie,
und unterschied sie von der hämorrhagischen Hemiplegie, in
welcher die betroffenen Extremitäten schmerzlos und die Mus-
keln schlaff und welk sind, während schmerzhafte Contrak-
turen der gelähmten Theile, zuweilen nur einzelner Finger,
die gewöhnlichste Erscheinung bei Cephalomalacie waren.
Nur in einem Falle verband sich damit eine Schwäche der
Sensibilität auf der gelähmten Seite, die sich bis auf die
Mundschleimhaut erstreckte und die Veranlassung war, dass
die Kranke beim Kauen auf dieser Seite die Speisen nicht
fühlte. Bei dieser Kranken waren die Störungen der Sen-
sibilität überhaupt die ersten gewesen, die sich bemerkbar
gemacht hatten : später hatte sich che lähmungsartige Schwäche
der Glieder hinzugesellt. In einem andern Falle war der
Einfluss auf die psychische Energie entschiedener ausge-
sprochen : der Kranke hatte nicht allein sein Gedächtniss ein-
gebüsst, sondern verwechselte auch beim Sprechen die ein-
zelnen Wörter, nannte z. B. einen Tisch — Brod, ein Fenster —
Stuhl u. s. w., eine Erscheinung, welche in der Hirnenvei-
chung nicht gar selten beobachtet wird. Was die Behandlung
solcher Kranken betrifft, so leisteten von Zeit zu Zeit wie-
derholte örtliche Blutentleerungen, starke Drastica und Ab-
leitungen auf die äussere Haut des Kopfs und Nackens durch
Pockensalbe oder Haarseile noch die besten Dienste. Star-
kes Frottiren der geschwächten Glieder mit stimulirenden
Linimenten wurde nicht vernachlässigt. In einem Falle, avo eine
*) Vgl. meine Beobachtungen von Tuberkclbildung im
Gehirne in Caspeh’s Wochensclir. für die ges. Heilkunde 1S34. S. 33.
R.
65
Hypertrophie der Leber mit dem Gehirnleiden complicirt war,
hatte der Gebrauch des Marienbader Kreuzbrunnens eine
sehr wohlthätige, wenn auch nicht dauernde Wirkung. Die
Leberaffektion verschwand gänzlich , und auch die von der
Hirnkrankheit abhängigen Symptome besserten sich entschie-
den, stiegen jedoch nach Verlauf eines halben Jahres wieder
auf ihre frühere Höhe.
Die durch Hydrocephalus chronicus bedingten
Lähmungen nahmen' in allen Fällen die Form der Paraplegie
an, und charakterisirten sich durch die kreuzweise Stellung
der Beine, welche besonders, wenn man die Kinder an den
Annen aufhob, bemerkbar wurde. Die Behandlung dieser
Kranken, welche nach den von Goelis gegebenen Vorschrif-
ten instituirt wurde, darf sich leider in keinem Falle eines
glücklichen Erfolgs rühmen. Dass übrigens der chronische
Wasserkopf nicht immer Lähmung zur Folge hat, sondern
seine verderbliche Einwirkung blos durch Unterdrückung
der psychischen Energie und durch convulsivische Anfälle
kund geben kann, ist bekannt, und wurde auch in der Klinik
durch den Fall eines sechs Monate alten Kindes erwiesen, bei
dessen Section im rechten Seitenventrikel eine grosse bis auf
die Basis des Gehirns hinabreichende Hydatide gefunden
wurde; die Ventrikel enthielten gegen zwölf Unzen einer
serösen Flüssigkeit.
Fast in allen Fällen, wo Paraplegieen im kindlichen Al-
ter vorkamen, liess sich Chronischer Hydrocephalus als Ur-
sache nachweisen. Seltener lag ein Leiden des Rückenmarks
zu Grunde, und wo dies der Fall war, ging die Krankheit
fast immer von den knöchernen Hüllen dieses Organs aus. Die
Spondylarthrocace (mehrentheils T uberculose der W ir-
belkörper) wurde am häufigsten in den Cervical- und Dor-
salwirbeln (namentlich den obem), seltener in den Lumbar-
wirbeln als Malum Pottii beobachtet. Im ersten Falle kann
die Krankheit bei oberflächlicher Untersuchung leicht mit
zwei andern Affektionen verwechselt werden : 1 ) mit Rheu-
matismus der Hals », und Nackenmuskeln. Bei diesem ist
5
66
aber der Schmerz auf keine bestimmte Stelle beschränkt, die
Bewegungen des Kopfes sind nicht in 60 bedeutendem Grade,
Avie in der Spondylarthrocace der Halswirbel gehemmt. Ausser-
dem trägt der Mangel der übrigen, den Rheumatismus begleiten-
den Erscheinungen zu einer richtigen Diagnose bei; 2) mit
Paralyse des Muse, stcmocleidomastoideus der gesunden Seite.
In diesem Falle ist kein Schmerz, sondern nur Unfähigkeit,
den Kopf nach dieser Seite zu beAvegen, vorhanden.
Die Erscheinungen der Paralyse treten in der Spondylar-
throcace erst dann ein, wenn das Rückenmax-k selbst Antheil zu
nehmen beginnt; so lange blos die Wirbelknochen den Sitz des
Leidens bilden, beobachtet man vermöge des Reizes, den ein
irritirtes Gewebe auf die naheliegenden motorischen Nerven
austibt, den entgegengesetzten Zustand, Contraktion der Mus-
keln. Daraus erklärt sich die spastische Contractur des
Muse, stcrnocleidomastoid. der einen Seite im Beginne des
Leidens, die später in Lähmung übergeht, und ein Hinüber-
sinken des Kopfes nach der andern Seite zur Folge hat.
Aus diesem Grunde beobachtet man auch in der PoTx’schen
Krankheit Contraktion des Psoas mit Verkürzung der untern
Extremität, die leicht zur Annahme einer Coxarthrocace Abr-
ieben kann, ein Umstand, der es dem Arzte zur Pflicht
macht, in jedem Falle, avo der Verdacht dieses Hiiftgelenk-
lcidens obwaltet, nicht allein das letztere, sondern auch die
Wirbelsäule genau zu untersuchen.
So lange daher keine andern Symptome, als die des
Knochenleidens beobachtet werden, darf man die Prognose
nicht unbedingt schlecht stellen : AArohl aber dann, wenn das
Auftreten paralytischer Erscheinungen kund giebt, dass auch
das Rückenmark und seine Häute an der Desorganisation
Theil zu nehmen anfangen. Doch darf man auch in diesem
Falle noch nicht alle Hoffnung aufgeben, wie folgendes Bei-
spiel lehrt :
Ein 15 jähriger Knabe, von Kindheit an scrophulösen
Affektionen leidend, und schon seit seinem zweiten Lebens-
jahre mit Kyphosis in der Gegend der obern Dorsahvirbel
behaftet, wurde am 26. Juni 1843 in der Poliklinik vorge-
stellt. Seit drei Monaten hatte sich Schmerzhaftigkeit an
der Stelle der Kyphosis, die beim Druck bedeutend zunahm,
eingestellt ; die Kyphosis selbst war auffallend stärker gewor-
den, die Beweglichkeit imd Sensibilität der untern Extremi-
täten hatte allmählig abgenommen, so dass am Tage der
Meldung eine Paraplegie und ein massiger Gi’ad von An-
ästhesie (namentlich an den Unterschenkeln) nicht zu ver-
kennen war. Abmas-eruno- und kachektisches Ausselm be-
O O
gleitete diesen Zustand, der nur wenig Hoffnung auf Gene-
sung übrig liess. Da die Anwendung kräftig eingreifender
Mittel hier dringend indicirt war, so wurde zum innem Ge-
brauch das Jodeisen in der Form des'Syrupus Ferri jodati in
steigender Dosis von 3 — 5 Tropfen zweimal täglich verordnet.
Das meiste Gewicht wurde jedoch auf die Application einer
Fontanelle von drei Erbsen an jeder Seite der kyphotischen
Hervortreibung gelegt, und anhaltende ruhige Lage dringend
anempfohlen. Der Erfolg dieser Behandlung war überraschend :
die Sensibilität der Unterschenkel kehrte zu ihrem Normal-
zustände zurück, die Lähmung der untern Extremitäten verlor
sich allmählig, und war am 15. December desselben Jahres
bereits vollständig verschwunden, so dass der Kranke ohne
Mühe den ziemlich weiten Weg von seiner Wohnung nach
der Klinik zurücklegen konnte. Man liess daher die Fonta-
nellen eingehn, und verordnete zur Nachkur das Ol. Jecoris,
unter dessen Gebrauch sich der Kranke bald vollständig er-
holte. Derselbe ist jetzt ein gesunder, wohlgenährter junger
Mensch, der die weitesten Wege ohne Schwierigkeit zurück-
legt, und nur durch die fortbestehende Kyphosis das einstige
Vorhandensein jener wichtigen Krankheit bekundet.
In einem zweiten Falle von Spondylarthrocace der obern
Dorsalwirbel, wo jedoch noch keine Symptome von Beein-
trächtigung des Rückenmarks vorhanden waren, zeigte sich
die Application einer Fontanelle auf jeder Seite der schmerz-
haften Hervortreibung von gleicher Wirksamkeit. Nach vor-
ausgeschickten topischen Blutentleerungen und Einreibungen
G8
mit der grauen Quecksilbersalbe wurden in solchen Fällen
gleichzeitig mit der Fontanelle lauwarme Bäder mit Salz oder
Kreuznacher Mutterlauge (eine Dreiviertelquartflasche zu ei-
nem Bade), und innerlich der Syrup. Ferri jodati in steigender
Dosis verordnet. (b< Syrup. Ferr. jodat. 3ß, Syrup. simpl.
^iß Mds. zweimal täglich einen Theelöflfel voll. Die Drachme
des Syr. Ferr. jod. enthält 12 Gran Jodeisen.) Dabei tritt
leicht Trägheit und Verstopfung des Stuhlgangs ein, der eine
schwärzliche Färbung, wie beim Gebrauche andrer Eisen-
präparate, annimmt. Auch in Fällen der sogenannten Pä dar -
throcace zeigte sich die Anwendung dieses Mittels, in Ver-
bindung mit dem Aufpinseln der anfangs verdünnten, später
reinen Tinctura Jodi, von entschiedener Wirksamkeit. Man
bestreicht die Haut der angeschwollenen Phalangen mehrmals
täglich, bis sie eine braune Farbe annimmt, wartet die Desqua-
mation ab, und beginnt dann von neuem : bald wird man dann
eine Abnahme der Anschwellung bemerken.
Im ersten Stadium , wenn noch keine Kyphose vor-
handen, der Kopf aber nach einer oder der andern Seite hin-
übergezogen ist, braucht man nicht gleich zu so energischen
Mittehi, wie Fontanellen, seine Zuflucht zu nehmen. Hier
genügen gelindere Ableitungen, vorzugsweise durch Unguent.
Tart. emet., welches in mehreren Fällen dieser Art schon nach
acht Tagen eine normale Stellung des Kopfes herbeiführte.
, Paraplegie als Folgekrankheit einer Spinalarachnitis
w'urde bei einem 50jährigen Manne beobachtet. Vollkommene
Lähmung und Anästhesie der untern Extremitäten, Enuresis,
unwillkührliche Stuhlentleerungen, Dyspnoe, erschwerte Aus-
führung exspiratorischer Bewegungen, wie Husten, Niesen,
Drängen zum Stuhlgang, waren die Hauptleiden des Kran-
ken, die noch durch einen tief eindringenden Decubitus an
mehreren Stellen gesteigert wurden. Vor einem Jahre war
eine acute Krankheit mit heftigem Kückenschmerz, tetanischer
Starrheit der Extremitäten und convulsivischen Erschütterun-
gen vorausgegangen, ohne Zweifel eine Meningitis spinalis,
welche ein serös-albuminöses Exsudat und somit Compression
69
der untern Parthie des Rückenmarks gesetzt hatte. Die Be-
handlung bestand in wiederholten topischen Blutentleerungen
an der Wirbelsäule, Einreibungen mit einer Mischung von
Ung. Mercur. und Kali Hydriodic., und drastischen Abführ-
mitteln (Elaterium, Extract. Colocynth.). Später ging man zum
Gebrauche des Extract. Nuc. vomic. spirituos. in steigender
Dosis über, welches in Yerbindimg mit lauwarmen Bädern so
günstig wirkte, dass der Kranke jetzt, mit Ausnahme eines
drückenden Gefühls in der Lendengegend und einer Unfähigkeit
den Stuhlgang lange zurückzuhalten, vollständig hergestellt ist,
und selbst weite Wege ohne Beschwerden zurücklegen kann.
Als eine noch nicht genug gewürdigte Ursache paraly-
tischer Erscheinungen hat man die Unterdrückung gewohnter
Secretionen, insbesondere der F u s s s c h w ei s s e, zu betrachten.
F riiher war man gewohnt solche Fälle als metastatische zu deuten,
sie gehören indess mehr in die Kategorie der Reflexparalysen, de-
rer, wo die Abnahme oder der Verlust der Sensibilität die ent-
sprechenden motorischen Nerven nicht mehr anregt, und eine
Abnahme oder Verlust ihrer Leitungsfähigkeit zur Folge hat.
Ein 46 jähriger, gesunder Mann, von Jugend auf mit
starken Fusssckweissen behaftet, hatte sich vor zwei Jahren
in Folge einer Erkältung und Durcknässung der Füsse hef-
tige Schmerzen in den Gliedern, die besonders zur Nachtzeit
exacerbirten und entschieden rheumatischer Natur waren, zu-
gezogen. Die Fussschweisse wurden plötzlich unterdrückt,
und bald darauf bemerkte der Kranke eine Schwäche und
Gefühlsabnahme in den untern Extremitäten. Diese Erschei-
nungen beschränkten sich anfangs blos auf die Unterschenkel,
dehnten sich aber später auch auf die Oberschenkel aus, und
Stuhlverhaltung und Enuresis gesellten sich liinzu. Bei der
klinischen Untersuchung stellte sich nun eine so bedeutende
Störung der Motilität der untern Extremitäten heraus, dass
der Kranke fast nicht mehr im Stande war zu gehen, sondern
auf zwei Krücken gestützt, den Unterkörper gleich einer an-
hängenden Last nachschleppen musste. Doch vermochte er
in sitzender Stellung sowohl die Unter- als auch die Ober-
70
Schenkel nach den verschiedensten Richtungen hin ohne grosse
Mühe zu bewegen. Die Sensibilität war nicht allein an den
Extremitäten, sondern auch in der untern Bauchregion auf-
fallend stumpf. Der Kranke bemerkte als eine ihn selbst
beunruhigende Erscheinung, dass er immer nur am Ober-
körper bis unterhalb des Nabels schwitzte, die hypogastrische
Gegend und die untern Extremitäten jedoch vollkommen
trocken blieben. Die Haut der gelähmten und von Anästhesie
befallenen Theile desquamirte fortwährend, und eine beträcht-
liche Abmagerung derselben war, vorzugsweise in Vergleich
mit den obern Extremitäten, unverkennbar. Durch das be-
% ständige Abtröpfeln des Urins verbreitete der Kranke einen
unerträglichen Gestank. Stuhlgang erfolgte nur unter grossen
Anstrengungen alle vier bis fünf Tage. Die Potentia virilis
war erloschen. Trotz der sorgfältigsten Exploration der
Wirbelsäule liess sich in dieser nicht die geringste krank-
hafte Erscheinung wahrnehmen, vielmehr war die plötzliche
Unterdrückung der Fussschweisse , worauf sich die Läh-
mung fast unmittelbar entwickelt hatte, das einzige Mo-
ment, welches einen festen Anhaltpunkt für die Therapie
geben konnte. Es wurden dem Kranken Fussbäder mit Aqua
regia (5ß) dreimal wöchentlich verordnet, und damit der in-
nere Gebrauch des Extract. Nucis vomicae spirituosum in
steigender Dosis verbunden. Dieses Mittel , welches bei
Desorganisationen des Rückenmarks wegen seiner schädlichen
Einwirkung vermieden werden muss, schien in diesem Falle,
wo die Krankheit sich offenbar von den peripherischen Ner-
ven aus entwickelt hatte, ganz an der Stelle zu sein. Um
seine stopfende Wirkung zu beschränken, wurden die Pillen
mit Extr. Rhei compos. versetzt. Schon nach vierzehn Ta-
gen konnte der Kranke nicht allein ohne fremde Hülfe ste-
hen, sondern auch sein Gang war erleichtert, die bisher kalten
Füsse waren warm und feucht geworden, wenn auch die Fuss-
schweisse selbst noch vermisst wurden. Diese günstige Wir-
kung forderte auf, die Dosis des Extr. Nue. vomic. spirit.
von < Gran auf k Gran zu erhöhen. Nach abermals vier-
o *
71
zelm Tagen war die Enuresis bereits vollständig gehoben,
und das Gefiild fast zum Normalzustände zurückgekehrt.
Auf diese AYeise ward die Behandlung noch mehrere Monate
beharrlich fortgesetzt, und der Kranke hat von seinen frühe-
ren Leiden nur noch einen etwas schleppenden Gang zurück-
behalten, vermag jedoch ohne Hülfe der Krücken, blos auf
einen gewöhnlichen Stock gestützt, ziemlich weite Wege
ohne grosse Schwierigkeit zurückzulegen. Die frühem Fuss-
schweisse sind zwar noch nicht zurückgekehrt, die Fiisse
jedoch anhaltend feucht und warm.
Im folgenden Semester bot sich ein ähnlicher Fall, nur
von kürzerer Dauer, der Beobachtung dar. Er betraf einen
dem Trünke ergebenen, mit profusen Fussschweissen behaf-
teten Mann, der seit einigen Monaten an Paresis der untern
Extremitäten litt. Auch hier war vorzugsweise das Gehen
und Stehen erschwert : in sitzender und liegender Stellung
vermochte der Kranke die verschiedensten Bewegungen mit
den geschwächten Theilen vorzunehmen. Bei genauerer Nach-
forschung erfuhr man, dass kurz vor dem Eintritt der para-
lytischen Erscheinungen die Fussschweisse ohne angebbare
Ursache unterdrückt worden waren, welchem Umstande der
Kranke selbst seine Beschwerden zuschrieb. Die Sensibilität,
sowie die trophischen F unktionen der untem Extremitäten und
die Excretion des Urins und Stuhlgangs waren in diesem
Falle noch ungestört, der, bei der Identität der Ursachen, auch
die gleiche Behandlung, wie der ersterwähnte, erforderte. Man
begann dieselbe mit Fussbädem, die in diesem Falle mit
Kali causticum versetzt wurden, und diese allein, ohne Bei-
hülfe innerer Mittel, genügten, um nach Monatsfrist eine an-
haltend warme Temperatur der Füsse, wenn auch nicht die
Schweisse selbst, zurückzurufen, und die paralytischen Er-
scheinungen vollständig zu heben.
Diese Fälle geben einen neuen Beweis, wie vorsichtig
man in der Annahme einer organischen Affektion des Rük-
kenmarks zu Werke gehen muss. Hier würden alle vom
Rückenrnarke ableitenden Mittel , namentlich Exutorien, zu
72
deren Anwendung man sich leicht verleiten lassen konnte,
nutzlos geblieben sein, während die Erregung der peripheri-
schen Nerven, von denen die Krankheit ihren Ausgang nahm,
baldige Besserung und Heilung herbeiführte.*)
Erwähnt sei hier noch die von Strömeyer beschriebene
Paralyse der Inspirationsmuskeln, welche in der
Poliklinik, vorzugsweise auf rhachitischcr Basis, häufig beob-
achtet wurde. Bei diesen Kindern wurden die Respirations-
bewegungen nur durch die Bauchmuskeln und das Zwerchfell
vollzogen, während die Muskeln des Thorax in Unthätigkeit
verharrten, und bei längerer Dauer sogar atrophisch wurden.
Man sah dies vorzugsweise an den Serrati, wodurch ein star-
kes Einsinken der Seitenflächen der Brust und ein Hervor-
treten des Brustbeins (Pectus carinatum) veranlasst wurde.
Bestand diese Affektion nur auf einer Seite, so gab sie ge-
wöhnlich zur Entstehung einer Scoliosis Anlass. Die Lungen
selbst zeigten sich bei der physikalischen Untersuchung ge-
wöhnlich ganz gesund. Die Unthätigkeit im Athemholen
macht das Hinzutreten einer, wemi auch an sich nicht bedeu-
tenden, Lungenaffektion in solchen Fällen höchst bedenklich.
In der That starben mehrere dieser Kinder an den Folgen
einer leichten Bronchitis, die unter gewöhnlichen Verhält-
nissen gewiss unschädlich geblieben wäre.
III. Logoneurosen.
Eigentliche maniakalische Zustände kamen , wie dies
überhaupt in einer Poliklinik sehr selten der Fall ist, nicht
zur Behandlung. Nur in einigen Fällen von Epilepsie wurde
ein Stadium maniacum oder ecstaticum im Anfalle beobachtet,
welches indess nicht als selbstständige Krankheit gelten kann.
Aber auch imabhängig von der Epilepsie trat die Ecstasis
zuweilen auf, charakterisirt durch Anfälle eines irren Zu-
standes, worin die Kranken ihrer eigenen Persönlichkeit und
*) Ich verweise in Betreff (1er Reflexrahmungen auf die 3. Abtheil,
meines Lehrbuches der Nervenkrankheiten. R.
ihren Lebensverhältnissen völlig entfremdet sind. Derselbe
Ideengang herrscht in allen diesen Anfällen vor, ohne sich
jemals in den Intervallen geltend zu machen , so dass die
Kranken in der That ein doppeltes psychisches Leben
führen, das eine in den Paroxysmen, das andere in den
Pausen derselben. Zuweilen giebt die Entwicklung der Ca-
tamenien zu diesem Zustande Veranlassung; so bei einem
13jährigen Mädchen, welches von Zeit zu Zeit Anfälle einer
grossen geistigen Aufregung bekam, in denen es fortwährend
von Staatsangelegenheiten, von König und Königin sprach.
Ein anhaltendes Hin- und Herwiegen des Kopfes verband
sich mit dieser psychischen Aufregung. Das Bewusstsein
war im Anfälle ganz ungestört: die kleine Kranke war sich
aller ihrer Reden vollkommen bewusst, vermochte aber nicht
dem innem Drange, der sie dazu trieb, Widerstand zu lei-
sten. Mit Ausnahme einiger Molimina menstruationis liess
sich durchaus kein krankhafter Zustand auffinden, und bei
der Erfolglosigkeit aller angewandten Mittel beruht die Hoff-
nung nur auf dem Eintritt der Catamenien, der, wie man
nach der Analogie vermuthen darf, Heilung herbeiführen wird.
Die zweite Beobachtung betrifft einen 20jährigen, sonst
ganz gesunden Mann. Seit sechs Jahren litt er an Anfällen,
in denen er von einem unwiderstehlichen Triebe, alles ihn
Umgebende zu zertrümmern, befallen wurde, obwohl er sich
seiner Handlungen vollkommen bewusst war. Lebhafte Träume,
Flimmern vor den Augen, Ohrensausen, und drückendes
Angstgefühl gingen 21 — 36 Stunden dem Anfalle voraus :
zuweilen hlieb es auch blos bei der Angst, imd der Anfall
selbst fiel aus, ein Umstand, der an die Abortivausbrüche
der Epilepsie erinnert. Die Dauer des Paroxysmus beschränkte
sich gewöhnlich auf eine bis zwei Minuten, worauf ein Zit-
tern des ganzen Körpers und ein Gefühl grosser Erleichte-
rung folgte. Es ist dies dieselbe Krankheit, welche Pixel
unter dem Namen Mania sine delirio beschrieben hat, und
wogegen die Behandlung so wenig auszurichten vermag.
Auch bei diesem Kranken blieb die Anwendung der kräftigsten
74
Mittel, der Sturzbäder, der Douche u. s. w., ohne den ge-
ringsten Erfolg.
Eine andre Affektion, die zuweilen, und zwar nur bei
Kindern, in der Poliklinik beobachtet wurde, ist die Eclipsis.
Bei ganz normaler psychischer Thätigkeit treten hier plötz-
lich Pausen derselben ein, das Bewusstsein erlischt, und die
Kranken verharren in der Stellung, in der sie sich zur Zeit
befinden. Zuweilen ist ein gesteigerter Tonus in den Mus-
keln damit verbunden, so dass die Glieder in jeder Stellung,
die man ihnen giebt, verbleiben, die wächserne Biegsamkeit
der Glieder, welche die Alten als ein Hauptsymptom der
Katalepsis betrachteten. Nach dem Anfalle, dessen Dauer
sich auf einige Minuten ausdehnen kann, vollenden die Kran-
ken nicht selten die im Augenblicke seines Eintritts begon-
nenen Reden. Als Ursache liess sich mitunter Helminthiasis
ermitteln, und die Anwendung wurmtreibender Mittel, z. B.
der Stoekk’ sehen Wurmlatwerge, war dann von sclinellem,
günstigem Erfolge begleitet.
Die Ohnmacht (Lipothymia) ist ein Zustand, der mit
der Eclipsis bei oberflächlicher Untersuchung leicht verwech-
selt werden kann. Sie kam in der Klinik noch häufiger als
die letztere zur Behandlung : die Kranken, meist dem kind-
lichen und jugendlichen Lebensalter und dem weiblichen Ge-
schlecht angehörend, sinken plötzlich mit erschlafften Muskeln
hin, Herz- und Puls schlag werden unfühlbar, die Haut bleich
und kühl. Durch die letztgenannten Erscheinungen, so wie
durch das Fortbestehen des Bewusstseins, unterscheidet sich
dieser Zustand von der Eclipsis; denn die Kranken hören
und sehen, was in ihrer Ungebung vorgeht, sind aber ausser
Stande, einen Laut von sich zu geben. In diesen Fällen
zeigten sich warme Bäder mit kalten Uebergiessungen des
Kopfes und Rückens, und der innere Gebrauch der Nervina,
z. B. der Radix V alerianae, von trefflicher Wirkung.
Uebrigens ist zu bemerken, dass die drei in diesem Ka-
pitel erwähnten Zustände in der Natur nicht immer scharf
von einander abgegrenzt sind, sondern Verbindungen mit
einander eingehen können. So beobachtete man bei einem
Kinde , welches an Anfällen der Ohnmacht litt, in den In-
tervallen zuweilen leichtes Irrreden, Hang zum Weinen,
Phantasmen u. s. w. Dasselbe war bei einem andern Kinde
der Fall, avo die Anfälle mehr die Form der Eclipsis ange-
nommen hatten.
Gemüthsaffekte können im kindlichen Alter so gut, wie
bei Erwachsenen solche Zustände erzeugen. Dahin gehören
z. B. Gram , lebhafte Theilnahme an dem unglücklichen
Schicksal der Eltern, die Gegenwart der Kinder bei häus-
lichen Zwisten derselben, wie es im niedern Stande so häufig
der Fall ist, Neid und Eifersucht, die durch den Vorzug ei-
nes Kindes vor den übrigen bei diesem geweckt werden.
Auch frühzeitige Ueberreizung des Genitaliensystems durch
Onanie ist eine häufige Quelle, worauf man stets den Ver-
dacht richten muss. Man unterlasse daher nie, in solchen
Fällen bei den Eltern Erkundigungen einzuziehen, ob Flecke
in der Wäsche des Kindes vorhanden sind, man fordere sie
auf, die Kinder genau zu beobachten, ob sie beim Einschlafen
die Hände unter dem Deckbett halten, die Genitalien beta-
sten u. s. av. Auch A_nämie ruft nicht selten derartige Ner-
venleiden hervor, deren Behandlung danach modificirt Aver-
den muss.
IV. Trophoneurosen.
Der folgende merkwürdige Fall, welcher in einer sorg-
fältigen Inauguraldissertation vom Dr. Behgson beschrieben
Avorden ist (De Prosopodysmorphia sive nova atrophiae facia-
lis specie) scheint dieser Klasse von Krankheiten, avo durch
aufgehobenen Nerveneinfluss mangelhafte Ernährung bedingt
Avird, anzugehören. Bei der grossen Seltenheit solcher Beob-
achtungen lässt sich ZAvar die Entstehungsweise der Krankheit
blos vermuthen, GeAvissheit nur von der Sektion erwarten;
allein trotz dieses Mangels berechtigt das UngeAv Ähnliche der
Erscheinungen und das physiologische Interesse, Avelches die-
ser lall darbietet, zur Mittheilung desselben.
76
P. S., ein 28jähriges Mädchen von ziemlich kräftiger
Constitution und untersetzter Statur, war nach der Aussage
der Mutter ein gesundes, wohlgenährtes Kind gewesen. Im
dreizehnten Lebensjahre wurde sie zuerst von einem Früh-
lings wechselfieber mit Tertiantypus befallen, welches damals
in ihrer Gegend epidemisch herrschte und bei der Kranken
sieben Wochen lang anhielt. Es verschwand indess ohne alle
ärztliche Hülfe, und ohne Anschwellungen der Unterleibs-
organe zurückzulassen. Drei Jahre darauf erlitt die Kranke,
indem sie auf einer Fussreise sehr erhitzt überschwemmten
Boden mit nackten Füssen durchwaten, und mehrere Meilen
bei heftigen Regengüssen zurücklegen musste, eine starke
Erkältung. Bald brach unter fieberhaften Erscheinungen imd
ohmnachtähnlichen Zufällen ein aus diffusen rothen Flecken
bestehender Ausschlag am ganzen Körper, vorzugsweise am
Halse, hervor, verschwand aber wieder nach drei Tagen, da
die Kranke sich von neuem allem Wechsel der Witterung
aussetzte. Die V ermuthung , dass dieser Ausschlag ein
Scharlachfieber gewesen, wird noch dadurch bestätigt, dass
nach dem Zurücktreten desselben das Gesicht sogleich öde-
matös anschwoll, gastrische und nervöse Zufälle verschiedener
Art und Fieberbewegungen sich einstellten, und zu diesen
allgemeinen Symptomen locale in der Rachenhöhle hinzutra-
ten. Die Schleimhaut derselben wurde trocken und dunkel
geröthet, die Deglutition ausserordentlich schmerzhaft , die
Stimme heiser, die lymphatischen Drüsen am Halse, die
Uvula und die linke Tonsille schwollen bedeutend an, und
die Kranke sah sich genöthigt, mit kurzen L nt erbrech ungen
fast drei Monate lang das Bett zu hüten. Durch erweichende
Kataplasmen, welche auf die linke Seite des Halses applicirt
wurden, gelang es, den in der Tonsille sich bildenden Abscess
zur Reife zu bringen. Derselbe öffnete sich plötzlich wäh-
rend des Schlafs, und eine reichliche Menge grünlichen Eiters
wurde ausgeworfen. Von dieser Zeit an schritt die Besse-
rung der Kranken schnell vorwärts. Die Kräfte nahmen zu,
der Körper gewann wieder an Fülle ; allein merkwürdigerweise
7 /
beschränkten sich der Turgor, die Rothe, die zunehmende
Fülle im Gesichte nur auf die rechte Hälfte desselben, wäh-
rend die linke collabirt und abgemagert blieb. Zuweilen ga-
ben sich auch noch ziehende Schmerzen in der linken Kör-
perhälfte kund, die vorzugweise zur Winterszeit imd bei
stürmischer Witterung exacerbirten. Die Menstruation hatte
sich zwar zu achtzehn Jahren eingestellt, aber nur mit star-
ken Beschwerden und nach der Anwendung treibender Mittel.
Im Sommer 1842 winde die Kranke in der Klinik vorge-
stellt, und bot folgende Erscheinungen dar : Schon beim er-
sten Anblick zeigte sich ein wesentlicher Unterschied beider
Gesichtshälften: die rechte hatte das normale Ansehn eines
28jälmigen Mädchens, die linke das einer alten Frau, so dass
man versucht sein konnte, die linke flu die gesunde Seite,
die rechte aber für angeschwollen zu erklären. Die Mittel-
linie des Gesichts bildete eine scharfe Grenze, auf deren
linken Seite das Alter, auf deren rechten die Jugend den
Beschauer anblickte. Der Haarwuchs der linken Kopfhälfte
war bei weitem dürftiger, als der der rechten, so dass die
Kranke, um die kahlen Stellen zu verbergen, die Haare von
rechts nach links hinüber zu kämmen pflegte. Die linke
Seite der Stirn war weniger convex imd voll als die rechte,
so dass das Tuber frontale der erstem deutlicher hervortrat.
Querrunzeln zeigten sich nur rechterseits, während linkerseits
die Haut ohne Unterlage von Fett imd subcutanem Zellge-
webe dicht auf dem Knochen lag. Daher war auch der linke
Arcus supraciliaris schroffer zu fühlen, als der rechte. Die
Augenbrauen der linken Seite waren grösstentheils ausgefal-
len, die Augenlieder länger und dünner, die Cilien des un-
tern Augenlieds sehr sparsam, die linke Caruncula lacrymalis
kleiner und blasser als die rechte. Der ganze linke Augapfel
war mehr in die Orbita zurückgesunken als der rechte, ob-
wohl die Convexität der Cornea suf beiden Augen dieselbe
zu sein schien. Sehr auffallend war die Atrophie des linken
Nasenflügels und Nasenrückens, welcher letztere sich gleich-
sam terrassenf örmig zu jenem absenkte. Auch die bewegliche
78
Scheidewand der Nase zeigte eine Neigung nach links,
wodurch der Raum der Nasenöffnung dieser Seite beengt
wurde. Kinn und Wange der linken Gesichtshälfte waren
bei weitem platter, schlaffer, mehr eingesunken, als dieselben
Theile der rechten, ja die linke Hälfte des Kinns fehlte fast
ganz und war gleichsam nur als ein kleiner Anhang der
rechten zu betrachten. Die an den Nasenflügeln und Mund-
winkeln herablaufenden Falten waren linkerseits zahlreicher
und deutlicher ausgeprägt, fehlten dagegen auf der rechten
Seite gänzlich, so dass der Unterschied beider Gesichtshälf-
ten an dieser Stelle am entschiedensten hervortrat. Wegen
der Atrophie des linken Theils der Ober- und Unterlippe
war auch der linke Mundwinkel stumpfer als der rechte.
Die geringere Ernährung machte sich auch noch auf der linken
Seite des Halses bis zur Mitte desselben bemerkbar: von
hier abwärts liessen beide Körperhälften durchaus keinen
Unterschied wahrnehmen.
Bei der Untersuchung der Mundhöhle zeigte sich das
Zahnfleisch der linken Seite blasser, die linke Hälfte der Zunge
und der Uvula dünner und schmaler als die rechte, die Gau-
menbögen der linken Seite atrophisch, weiter ausgeschweift,
als die der andern Seite. Die linke Tonsille endlich fehlte
ganz, und an ihrer Stelle zeigte sich eine beträchtliche Narbe,
als Spur der früher stattgehabten Ulceration. Am besten
wird man den Unterschied beider Gesichtshälften erkennen,
wenn man die Maasse mit einander vergleicht.
Länge des Gesichts von der Stirn bis zum Kinn in der Mittellinie
beträgt 7 Zoll.
linkerseits, rechterseils.
1. Von der Incisur. supraorbit. bis zum Mundwinkel 3‘/2" 4"
2. Von der Insertion des Nasenflügels bis zur
Spitze des Tragus 4" 4'/,"
3. Von der Mitte der Glabella bis zur Spitze des
Tragus 5" S1/,"
4. Von dem innern Augenwinkel über die Ohr-
muschel bis zur Nackengrube und den Dorn-
fortsätzen S’A" 9'//'
5. Von der Mitte der Glabella über den Nasen-
rücken bis zum innern Augenwinkel . . o"‘ 61"
79
6.
8.
9.
Von der Mitte der Glabella über den Nasen-
rücken bis zum äussern Augenwinkel
Von der Mitte der Glabella bis zum Winkel
des Unterkiefers
Vom Mundwinkel bis zum Philtrum (auf der
Oberlippe)
Vou der Spitze des Tragus bis zur Nacken-
grube und den Dornfortsätzen . . . .
linkerseits.
rechlcrscits.
l’A"
2"
57."
6"
l "
1" 3"'
4"
47."
Auch in der Consistenz und Farbe zeigten sich Unter-
schiede: während die rechte Wange eine jugendliche Weich-
heit imd Elasticität darbot, war die linke rauh, runzelig, in
zahlreiche Falten gelegt, und von bleicher erdfahler Farbe.
Dagegen liess sich durch das Thermometer weder auf der
Oberfläche noch in der Mundhöhle ein Unterschied zwischen
beiden Seiten auflinden.
Die Sensibilität sowohl der Hautnerven des Gesichts
und der Mundhöhle, als auch der Sinnesnerven war vollkommen
ungestört. Die Funktionen der motorischen Nerven, des Fa-
cialis, des Oculomotorius, der kleinen Portion des Quintus,
des Hypoglossus, gingen auf der linken Seite mit derselben
Energie, wie auf der rechten von Statten. Eben so wenig
liess sich irgend ein Unterschied in den Secretionen bemer-
ken. Thränen- imd Speichelabsonderung waren auf der atro-
phischen Seite nicht im geringsten beeinträchtigt, imd nach
der Aussage der Mutter und der Kranken selbst schwitzte
die letztere eben so reichlich, als die gesunde.
Der einzige Unterschied, der sich ausser den bereits ge-
nannten zwischen den beiden Körperhälfte auflinden Hess,
bestand darin, dass derPuls der linken Carotis etwas schwächer,
als der der rechten zu sein seiden, imd auch die stethosko-
pische Untersuchung ein dumpferes Geräusch, als in der
rechten Carotis nachwies.
Die unglückliche Kranke verfiel später durch Gram
über ihren Zustand und ihre Armuth in Mania religiosa und
wurde einer Irrenanstalt übergeben. Bei ihrer Entlassung
80
aus derselben in ihre Heimath hatte die Atrophie der linken
Gesichtshälfte noch zugcnonnnen. *)
*) Vergl. die Abbildung auf der ersten Tafel.
Diesem Falle reihe ich einen in mehreren Beziehungen ähnlichen an,
welcher in Paritv’s lehrreichen Collections from tlie unpublislied writings
Yol. I. p. 478 beschrieben ist.
Miss F., '28 Jahre alt, schlank und hager, doch von blühendem
Aussehn, wurde vor ungefähr dreizehn Jahren in der Schule plötz-
lich von einem mässigen Grade einer Hemiplegie der linken Seite be-
fallen, wobei die Intellektualität nur vorübergehend gestört war. Ob-
wohl sich die ursprünglichen Symptome jetzt nicht mehr mit Genauigkeit
angeben lassen, so ist doch so viel ermittelt, dass die Kranke zu ver-
schiedenen Zeiten an Kopfschmerzen gelitten hatte, und dass seit dem
Eintritt des Anfalls die linke Gesichtshälfte anfing magerer als die rechte
zu werden. Gleichzeitig sank das linke Auge mehr in die Orbita zu-
rück, und wurde scheinbar kleiner. Das Merkwürdigste war aber, dass
von dieser Zeit an das Haar auf dem obern Theilc der linken Kopfhälfte,
welches früher eine dunkelbraune Farbe hatte, anfing, weiss zu werden,
was jetzt in einem solchen Grade zugenommen hat, dass nicht ein ein-
ziges braunes Haar unter den weissen zu bemerken ist. An derselben
Seite, und zwar am unteren Rande der behaarten Kopfhaut, nahe am
Nacken, zeigt sich, nach einem natürlich gefärbten Zwischenräume, noch
eine einzelne vollkommen weisse Locke. Die Beschaffenheit des Auges
und des Gesichts ist bisher dieselbe geblieben, die Zunge wird, beim
Herausstrecken aus dem Munde , nach links gewendet. Dagegen be-
merkt man keine Spur von Ptosis, von Verziehung der Mundwinkel, oder
irgend eine Schwäche und Taubheit der entsprechenden Extremitäten.
Der Puls von 84 Schlägen in der Minute ist mässig stark in den Radi-
alarterien', doch ungewöhnlich voll und kräftig in den Carotiden. Der
Appetit ist gut, die Füsse sind mässig warm ; die Catamenien treten sel-
ten öfter als einmal binnen sechs Wochen oder zwei Monaten ein. Die
Kopfschmerzen hatten sich durch den Genuss des Weins, der ihr von
einem Arzte verordnet wurde, bedeutend gesteigert, haben aber fast ganz
aufgehört, seitdem die Kranke die Quantität des täglich genossenen auf
ein Glas beschränkt hat.
Die Haut des Kopfes war niemals der Sitz von Ulccrationen, weder
in Folge der Application eines Vcsicators, noch aus andern Ursachen.
Beine rkenswerth ist, dass die ganze Familie dieser jungen Dame, die ich
zum Theil behandelt habe, einer übermässigen Blutüberfüllung der Hirn-
gefässe, und den mannichfachen aus dieser Quelle entspringenden Krank-
heiten unterworfen ist.
Die Eltern des jungen Mädchens erzählten mir nachträglich, dass
heim Eintritt des Anfalls eine Taubheit des Gefühls in der linken Ge-
sichtshälfte, und eine Schwäche des linken Arms deutlich zu bemerken
war. Diese Symptome sind jetzt ganz verschwunden ; nur ein geringer
81
Grad von Taubheit auf dem linken Ohre besteht seit dem Anfalle fort.
Zuweilen empfindet die Kranke beim Niederlegen lästige Pulsationen im
Kopfe, die sich beim Liegen auf der liuken Seite so steigern, dass sie
ihre Lage ändern muss. Die Zunge wendet sich beim Herausstrecken
aus dem Munde nicht allein nach der linken Seite, sondern ihre linke
Hälfte ist auch offenbar dünner als die rechte. Die weisse Färbung des
Haars wird durch die Mittellinie des Kopfes genau begränzt ; auf der
rechten Seite derselben ist nicht ein einziges weisses Haar zu bemerken.
Einige vereinzelte zeigen sich auch in den Stirn- und Angenbraunhaa-
ren der linken Seite.
Noch eines Falles erwähne ich, der mir von dem Regimentsarzte
Hrn. Dr. Lehmann in Danzig mitgetheilt worden ist. Er betrifft ein
IS jähriges Mädchen, von blühender Gesichtsfarbe und kräftigem Kör-
perbau, welches nach Aussage der Eltern in den Kinderjahren an scro-
phulösen Anschwellungen der Halsdrüsen, Aufgetriebenheit des Bauches und
unregelmässiger Verdauung gelitten hat. Im sechszehnten Jahre stellten
sich die Katamenien ein und kehrten regelmässig wieder. Vor drei Jah-
ren machte sich an zwei kleinen Stellen der linken Gesichtshälfte, unter-
halb des äussern Augenwinkels auf dem Jochbein und am Unterkiefer in
der Gegend des Foramen mentale, eine Blässe der Haut bemerkbar. Mit
der seit zwei Jahren mehr und mehr eingetretenen Fülle des Körpers und
namentlich des Gesichts war ein allmählig zunehmendes Zurückbleiben
der Entwicklung der betreffenden Gesichtshälfte nicht zu verkennen.
Die Haut zeigt zwar dieselbe Frische, Temperatur und Sensibilität wie
auf der andern Seite, ebenso gehen die Bewegungen normal von Statten ;
allein die ganze linke Gesichtshälfte ist eines grossen Theils ihres Fett-
polsters beraubt, besonders an den erwähnten beiden Stellen, von denen
die obere unregelmässig geformte von dem Umfange eines Achtgroschen-
stücks, die untere im Umfange eines Silbergroschens der Fettunterlage
zu ermangeln scheint, so dass die Haut das Ansehen hat, als wäre sie
mit dem darunter liegenden Knochen verwachsen. Diese beiden Haut-
stellen sind von weisslick schillernder Farbe und unterscheiden sich von
wirklichen Narben dadurch, dass sie ganz glatt anzufühlen und ver-
schiebbar sind. R.
6
Krankheiten des lilutcs.
Zu dieser grossen Klasse von Krankheiten gehören sowohl
diejenigen, welche in einer blos quantitativen Veränderung
der einzelnen Bestandteile des Blutes ihren Grund haben,
als auch die Zustände, die durch qualitative Alterationen je-
ner Flüssigkeit bedingt, und unter dem gemeinsamen Kamen
der Dyscrasieen zusammengefasst werden. Wenn auch die
Fortschritte der organischen Chemie in der jüngsten Zeit die
Kenntniss der Blutkrankheiten wesentlich gefördert haben,
so ist dennoch das Dunkel, welches auf einem grossen und
für die ärztliche Praxis sehr wichtigen Theil derselben lastet,
noch nicht gelichtet, und dieser Umstand mag zur Entschul-
digung dienen, dass in diesen Abschnitt Gele Krankheiten
hineingezogen worden, in denen, wie man allen Grund hat an-
zunehmen, die veränderte Beschaffenheit des Blutes eine
Hauptrolle spielt, deren chemische Charaktere aber bisher
noch nicht genügend ermittelt werden konnten.
Unter allen Krankheiten des Blutes kam
1) die Blutarmut h, Anaemia, am häufigsten in der
Poliklinik vor. Diese dem weiblichen Gesclilechte, wenn auch
nicht ausschliesslich, doch vorzugsweise zukommende Krankheit,
muxle zwar gewöhnlich bei jimgen Mädchen in der Puber-
tätsperiode, nicht selten aber auch im kindlichen Lebensalter
beobachtet. Am seltensten bot sich die Krankheit bei Frauen-
zimmern im vorgerückteren Lebensalter dar, und wo dies
der Fall war, liess sich fast immer ein entschiedenes Cau-
salmoment, z. B. starke Blutverluste, Mctrorrhagiecn in der
Decrepiditätsperiode , organische Krankheiten des Uterus u.
dgl. m. nachweisen, wodurch das reine Bild der Krankheit
83
mehr oder weniger getrübt wurde. Die Untersuchungen der
neuesten Zeit haben auch das Vorkommen eines anämischen,
acut verlaufenden Zustandes im frühesten Kindesalter kennen
gelehrt, welcher zuerst von Makshall IIall unter dem
Namen Hydro cephaloid beschrieben worden ist. Die in
der Poliklinik beobachteten Fälle dieser Art charakterisirten
sich vorzugsweise durch eine mehr und mehr zunehmende
Sohlummersucht, mit aufwärts gerollten Augäpfeln, so dass
nur die Selerotica zwischen den halbgeöffneten Augenlidern
sichtbar blieb, durch auffallende Blässe des Antlitzes, und
kühle Temperatur aller prominirenden Theile der Hände,
Fiisse, Wangen und Nasenspitze. Durch sorgfältige Beob-
achtung dieser Symptome und genaue Erforschung des Ver-
laufs der Affektion war man immer im Stande, sie von der
oft damit verwechselten Blutüberfüllung des Gehirns zu un-
terscheiden. Bei einem zweijährigen Kinde hatte eine er-
schöpfende Diarrhoe die erwähnten Zufälle hervorgebracht,
während in zwei andern Fällen die energische Antiphlogose,
welche gegen eine intensive Bronchitis angewendet worden
war, als Ursache betrachtet werden musste. Eine einfache
excitirende Behandlung durch Chamillenbäder, kleine Dosen
der Ammoniumpräparate, z. B. Liq. Comu Cervi succin.
(3 — 5 Tropfen pro dosi in Aq. Foeniculi), Fleischbrühe mit
Eigelb, frische reine Luft genügte, jene Zufälle verschwinden
zu machen.
Bei älteren Kindern und jungen Mädchen tritt diese
Reaktion des Gehirns gegen das mangelhafte Blut in den
Hintergrund, während sich die Erscheinungen mehr in der
Sphäre des respiratorischen und circulatorischen Systems be-
merkbar machen. In den meisten Fällen genügt zwar eine
aufmerksame Betrachtung des Kranken, die auffallende Blässe
des Antlitzes, so wie der Zunge, der Mund- und Augen-
lidschleimhaut, um die anämische Basis ihrer Leiden zu er-
mitteln ; indess lehrt der folgende Fall, dass die Unterscheidung
von organischen Krankheiten des Herzens keineswegs immer
so leicht ist, als man gewöhnlich annimmt.
6 *
84
Eine 24jährige Nätherin von zartem Körperbau und
florider Gesichtsfarbe, klagte über heftige, mit einem zusam-
menschnürenden Angstgefühle verbundene Palpitationen des
Herzens, welche zwar nie ganz nachliessen, sich von Zeit zu
Zeit aber zu heftigen Anfällen steigerten. Ein lebhaftes
Sausen vor den Ohren, Kopfschmerz, eine bei jeder Bewegung
zunehmende Dyspnoe, durchfahrende Stiche in der Brust,
unruhige^, von ängstlichen Träumen unterbrochener Schlaf
waren ausserdem Züge einer Krankheit, deren Sitz im Her-
zen unzweifelhaft schien. Die Percussion ergab zwar keine
V eränderung des Herzumfanges, doch war der Impuls ausser-
ordentlich verstärkt, und der erste Herzton langgedehnt und
sehr dumpf. Mit längeren oder kürzeren Intermissionen be-
hauptete die Kranke schon seit sechs Jahren an den erwähnten
Zufällen gelitten zu haben, wozu sich noch Anschwellung der
Füsse und Hämoptysis zu wiederholten Malen hinzugesellt
hatte. Nach sorgfältiger Erwägung dfer genannten Symptome
wurde die Diagnose auf einfache Hypertrophie des linken
Herzventrikels gestellt, eine entsprechende Behandlung einge-
leitet, und eine geraume Zeit, allein ohne den geringsten Er-
folg, fortgesetzt. Die Zunahme der Beschwerden veranlasste eine
wiederholte sorgfältige Untersuchung, bei welcher die Kranke
gestand, dass ihre Katamenien schon seit längerer Zeit schwach,
unregelmässig, das Blut sehr blass und wässrig sei ; die Ge-
sichtsfarbe wechselte nach ihrer eigenen Aussage sein häufig ;
in der Regel bleich, rötheten sich die Wangen bei grosser
körperlicher oder geistiger Aufregung, z. B. während ihrer
Vorstellung in der Klinik. Der schwache, kleine Puls der
Radialarterie contrastirte mit der stürmischen Aktion des
Herzens, und in der rechten Carotis Hess sich ein deutliches
Summen hören. Diese Resultate der neuen Untersuchung
mussten die zuerst gestellte Diagnose erschüttern, und einen
anämischen Zustand annehmen lassen, ein Verdacht, welcher
durch die Aussage der Kranken, dass ihr innerhalb acht
Jahren 75 Aderlässe gemacht worden, first zur Gewissheit
erhoben wurde. Trotz der drohenden Erscheinungen in der
Sphäre des Herzens wurde nun der Kranken das Spaawasser
und der Gebrauch der SrAHL’schen Pillen verordnet, welche
Mittel nach einigen Monaten vollständige Heilung der anfangs
fyrffnungslos scheinenden Krankheit herbeifülirten.
Das für die Anämie so charakteristische summende Ge-
räusch in den Carotiden wurde in keinem Falle vermisst, liess
sich aber in der rechten Carotis ungleich häufiger hören, als
in der linken (in zwölf Fällen hörte man es neunmal in der
rechten und nur dreimal in der linken). In der Kegel konnte
der auf die Carotis lose aufgelegte Finger ein Schwirren
fühlen. Ein Blasebalggeräusch zwischen den Sternalenden
der zweiten und dritten Rippe, in der Gegend der Semilu-
narklappen der Aorta, wurde nur sein1 selten wahrgenommen.
Der Einfluss der mangelhaften Beschaffenheit des Blutes
auf das Nervensystem äusserte sich sowohl im Allgemeinen
dinch die grosse Mattigkeit und Schwäche solcher Kranken,
welche sie zu jeder Anstrengung unfähig machte, als auch
im Gebiete einzelner Nerven, vorzugsweise des Vagus: die
Gastrodynia neuralgica war eine ausserordentlich häufige Be-
gleiterin dieser Zustände. Ueberhaupt zeigte sich die Anä-
mie als eine der wichtigsten Quellen von Neurosen beim
weiblichen Geschlechte, und hartnäckige hysterische Erschei-
nungen, welche den gepriesensten Nervinis Trotz geboten
hatten, wichen endlich dem Gebrauche der eisenhaltigen Mi-
neralwässer. Die sogenannte Pica winde in den meisten
Fällen beobachtet, doch war sie nur ein paarmal auf Kreide
und Sand, gewöhnlich auf salzige und saure Dinge gerichtet.
Störungen der Digestion waren in der Regel Folgen, zu-
weilen aber auch Ursache der mangelhaften Blutkrasis, und
äusserten sich hauptsächlich durch Appetitmangel imcl Stuhl-
verstopfung. Bei anämischen Kindern wurde gewöhnlich ein
auffallendes Zurückbleiben des Wachsthums beobachtet.
In den meisten Fällen waren es junge Nätherinnen oder
andere eine sitzende Lebensart führende Arbeiterinnen, welche
von der Krankheit befallen wurden. Der Mangel an Bewc-
O
gung und frischer Luft, zu welchem sich gewöhnlich noch
86
schlechte Nahrung hinzugesellt, ist wohl genügend, das Ent-
stehen der fehlerhaften Blutmischung zu erklären. Bei erwach-
senen Mädchen war die Krankheit, wenn auch nicht immer,
doch meistentheils von Störungen im Verlaufe der Katame-
nien begleitet (Chlorosis).
Die einfache und selten erfolglose Behandlung dieser
Zustände war folgende: In Fällen, wo die Digestion wesent-
lich beeinträchtigt, und Stuhlverstopfung zu berücksichtigen
war, wurde die Kur durch leicht tonisirende und eröffnende
Mittel, wie Ehe um, Calamus aromaticus u. a., eingeleitet, und
nach einem längere oder kürzere Zeit fortgesetzten Gebrauch
derselben zu den Eisenpräparaten übergegangen. Der Man-
gel des Cruorins im Blute, welcher das Wesen dieser Krank-
heit ausmacht, und eine relative Zunahme des Faserstoffs
nebst einer davon abhängigen nicht seltenen Neigung zu
Entzündungen begründet, weiset schon auf den Gebrauch
dieses in der Anämie fast spezifischen Mittels hin. Ge-
wöhnlich wurde mit der Limatura Martis in Verbindung mit
Pulv. Rad. Rhei der Anfang gemacht und späterhin zur
Tinctura Martis aperitiva übergegangen. In den letzten Se-
mestern bediente man sich mit trefflichem Erfolge einer Ver-
bindung der Eisenpräparate mit den leichteren Tonicis, z. B.
in folgender Formel: Infus. Rad. Calami arom. (ex oij)
^iv. Colat. adde: Tinct. Mart, aperitiv. 5j— ij. Syr. Cortic.
Aurant. 3j. M.D.S. viermal täglich einen Esslöffel voll zu
nehmen. Auch die leicht verdaulichen Auflösungen des Ei-
sens, das künstliche Pyrmonter- und Spaawasser wurden in
vielen Fällen zu einem bis zwei Weingläsern, Morgens nüchtern
zu trinken, mit dem besten Erfolge verordnet. Der durch
diese Mittel leicht herbeigeführten Stuhlverstopfung ward
durch den abendlichen Gebrauch zweier Pilul. aperient. Stahki
wirksam vorgebeugt. Hartnäckige Fälle und die häufig vor-
kommenden Recidive erforderten die gleichzeitige Anwen-
dung der Eisenbäder, welche entweder durch Zusatz von
Pulv. Globul. Mart, *ij oder Tinct. Ferri muriat. oxydul. 31)
bereitet wurden. Eine nahrhafte Diät, und tägliche stunden-
87
lange Bewegung in frischer Luft blieben indess Hauptbedin-
gungen, ohne deren Erfüllung eine gründliche Kur nicht in
Aussicht gestellt werden konnte.
2. Cyanosis. Diese Krankheit kam, abhängig von ei-
ner angebornen Krankheit des Herzens, bei einem noch jetzt
lebenden vicijührigen Knaben vor. Gesicht, Hände und Füsse
sind von dunkler, bläulicher Farbe, ebenso die Schleimhaut
des Mundes und der NasenöfFnungen. Die letzten Finger-
glieder zeigen die bekannte kolbige Anschwellung. In der
Herzgegend fühlt die aufgelegte Hand das sogenannte Katzen-
sch wirren, während die stethoskopische Untersuchung ein
sehr lautes, beide Herztöne verdeckendes Blasebalggeräusch
ergiebt, welches, je mehr man sich der Gegend der zweiten
und dritten Kippe nähert, an Intensität zunimmt, und auch
noch am rechten Kande des Brustbeins deutlich hörbar ist.
Bei der Percussion zeigt sich der matte Herzton in einem
grossem Umfange, besonders nach rechts verbreitet. Die
Respiration ist anhaltend beschleunigt, schon bei unbedeu-
tenden Anstrengungen, oft auch in der Ruhe treten Anfälle
von Dyspnoe mit Zunahme der bläulichen Färbung auf. Am
bedenklichsten wird der Zustand, wenn sich Störungen in
den Athmungsorganen, sei es auch nur ein einfacher Catarrh,
hinzugesellen. Ueber Kälte der Extremitäten und des Ge-
sichts klagt der kleine Kranke beständig, weshalb auch sein
Befinden im Sommer im Allgemeinen weit besser, als im
Winter ist. — Die Krankheit beruht in diesem Falle wahr-
scheinlich auf einer Verengerung am Ursprünge der Arteria
pulmonalis, in deren Folge sich Dilatation des rechten Herz-
ventrikels entwickelt hat. Eine Vermischung des venösen
und arteriellen Blutes ist zur Entstehung der Cyanose durch-
aus nicht nothwendig, da auch bei Erwachsenen, die an Er-
weiterungen des rechten Herzens leiden, eine livide Farbe
der Haut und Schleimhäute sein oft beobachtet wird.
In einem andern früher beobachteten Falle von Cyanose er-
gab die Section eine angeborneMissbildung: Die Arteria pulmona-
lis entsprang aus dem finken, die Aorta aus dem rechten V entrikel.
88
Geringere Grade cyanotischcr Färbung wurden in allen
Fällen starker und anhaltender Störungen der Respiration be-
obachtet, vorzugsweise im Emphyscma pulmonum , in der
Bronchitis, im Croup. Diese Blutentmischung giebt, beson-
ders in der letztgenannten Krankheit, zu wichtigen Sympto-
men Anlass, von denen bei der Darstellung der häutigen
Bräune selbst die Rede sein wird.
3. Purpura. Das häufige Vorkommen dieser Krank-
heit erklärt sich leicht aus der grossen Verbreitung ihrer
Grundbedingungen, die von denen der Anämie wenig abwei-
chen. In den meisten Fällen zeigte sich nur die sogenannte
Purpurasimplex, gegen welche die Säuren, mineralische und
vegetabilische, vorzugsweise der Cremor Tartari (zu 10 Gx*.
pro dosi), mit Erfolg angewende t wurden ; doch gehörte auch
das V orkommen der Purpura haemorrhagica (Morb. ma-
culosus) keineswegs zu den Seltenheiten. Mit Uebergehung
einiger minder wichtigen Fälle sei hier nur der eines sieben-
jährigen Mädchens erwähnt, dessen Krankengeschichte aber
durch die von den Eltern verweigerte Erlaubniss zur Section
leider unvollständig geblieben ist: — Das siebenjährige
Kind, welches vor vier Jahren eine exanthematische Ki*ank-
heit mit darauf folgendem Hydrops (wahrscheinlich Scarla-
tina) überstanden hatte, litt seit einem Jahre an Purpura, die
in Gestalt blaxu’other und gelblichgrüner linsengrosser Flecke
und Striemen nicht allein über das grünlichbleiche Antlitz
und die ganze Oberfläche des Körpers, sondern auch über die
Schleimhaut der Zunge und Wangen verbreitet, und mit wie-
derholten Blutungen aus Mund, Nase, Ohren, Augen, Dann
und Nieren verbunden war. Anschwellung der Cervicalclrü-
sen, Appetitverlust, Stuhlverstopfung, grosse Hinfälligkeit
begleiteten diese lästige Krankheit, für welche sich weder in
den diätetischen Verhältnissen der kleinen Kranken , noch in
dem Zustande ihrer Oi’gane (die Milz zeigte sich bei der
Untersuchung vollkommen normal) irgend eine Ursache auf-
finden liess. Die tonisirende Behandlung durch China, Ei-
senbäder xmd kalte Waschungen des ganzen Körpers war be-
89
reits während einer Woche fortgesetzt worden, als plötzlich
am Morgen des neunten Tages die heftigsten Convulsionen
ausbrachen, und das Kind in einen soporösen Zustand verfiel,
welcher öfters durch lautes Aufschreien (ähnlich dem Schrei
hydrocephalischer Kinder) und durch wiederholte Convulsio-
nen unterbrochen wurde. Die Anwendung der kalten Um-
schläge auf den Kopf, der Essigklystiere, der Blutegel u. s. w.
blieb erfolglos ; am dritten Tage nach dem Eintritt der be-
schriebenen Zufälle erfolgte Hemiplegie der linken Körper-
hälfte, Lähmimg des rechten Antlitznerven, und gegen Abend
der'Tod des Kindes. Es ist mehr als wahrscheinlich, dass in die-
sem Falle ein ähnlicher Bluterguss, wie er bisher aus verschie-
denen Organen stattgefimden, plötzlich in die rechte Hemisphäre
des Gehirns erfolgt war. Für diese Annahme spricht noch ein
von Mauthner in seiner Schrift über Gehirn- und Kücken-
markskrankheiten der Kinder mitgetheilter Fall, in welchem
sich, nach analogen Symptomen während des Lebens, in der
einen Hirnhemisphäre ein starkes Blutextravasat vorfand , so
wie auch die im Journal für Kinderkrankheiten Bd. IV. Heft
-i. p. 318 mitgetheilte Beobachtung eines englischen Arztes,
der bei einem an Purpura leidenden und im Sopor gestorbe-
nen Knaben einen Bluterguss zwischen den Blättern der
Arachnoidea fand.
Die leicht erklärbare Complication der Purpura mit
Anämie zeigte sich vorzugsweise bei einem zwölfjährigen
Mädchen, welches, ursprünglich an Anämie leidend, drei Som-
mer hinter einander von Purpura befallen wurde, zu welcher
sich wiederholtes Nasenbluten, einmal auch Hämoptysis ge-
sellte. Durch den Gebrauch der Eisenpräparate imd einer
Ghinaabkochung in Verbindung mit Mineralsäuren kam die
Genesung zu Stande.
In manchen Fällen von Masern, namentlich bei Kindern
aus der ärmsten, in feuchten, dumpfen Kellern wohnenden
Klasse, zeigten sich zwischen dem eigentlichen Masernaus-
schlage dunkle, geröthete, nicht wegdrückbare, verschieden ge-
staltete 1 lecke, welche offenbar von einer kleinen Blutergies-
90
sung unter der Epidermis herrührten. Obwohl sie als Be-
weis für die schlechte Blutcrasis dieser Kinder betrachtet
werden konnten, äusserten sie doch auf den normalen Ver-
lauf der Krankheit durchaus keinen störenden Einfluss.
4. Morbus Brightii. Die Albuminurie wurde zwar
nicht selten als Begleiterin des Scharlach- imd zuweilen auch
des Wechselfiebers beobachtet; doch kamen nur wenige Fälle
zur Behandlung, wo sie, nebst der begleitenden Wassersucht,
die Haupterscheinung der Krankheit bildete. Die Bright-
sche Krankheit ist in symptomatischer und pathologischer
Beziehung so vielfach beschrieben worden, dass ein ausführ-
liches Eingehn auf diesen Gegenstand hier am Unrechten Orte
sein würde. Deshalb schien es am zweckmässigsten , nur
einige Fälle, die vorzugsweise ein therapeutisches Interesse
darbieten, hier mitzutheilen.
Erster F all.
Ein eilfjähriges Mädchen von torpidem, scrophulösem Ha-
bitus, deren Gesundheit, mit Ausnahme eines ^wöchentli-
chen Keuchhustens , und einer Impetigo capitis granulata,
stets imgestört gewesen, wurde fünf Tage vor seiner Meldung
in der Klinik von ödematöser Anschwellung der untem Ex-
tremitäten und des Gesichts, namentlich der untern Augen-
lider, befallen. Ein spannendes Gefühl in der Nierengegend,
vorzugsweise beim tiefen Druck auf der rechten Seite sich
zum lebhaften Schmerze steigernd, leichte Beschwerden beim
Urinlassen und Brechneigung begleiteten diesen Zustand.
Der Urin war hell , quantitativ beträchtlich vermindert,
schäumte stark beim Schütteln des Glases und ergab bei der
Untersuchung durch Siedehitze und Salpetersäure einen be-
deutenden Gehalt von Albumen. Fieber war nicht vorhanden.
Nach Aussage der Mutter hatte sich die Krankheit plötzlich,
ohne dass ein acutes Exanthem vorausgegangen war, entwik-
kelt, und im Verlaufe ivenigerTage schnell zugenommen. In
diesem Falle liess sich ein inniger Zusammenhang zwi-
schen dem Hydrops albuminosus und einer entzündli-
chen Reizung der Nieren, besonders der rechten, nicht ver-
9i
kennen, imd eine dieser Annahme entsprechende antiphlogisti-
sche Behandlung hatte einen schnellen und bleibenden Erfolg.
Topische Blutendeerungen in der Nierengegend, Einreibungen
derselben mit grauer Salbe, der innere Gebrauch eines Pul-
vers aus Calomel gr. \ imd Pulv. Ilb. Digitalis gr. { Mor-
gens imd Abends genommen, in Verbindung mit ruhiger
Lage im Bette imd sparsamer Diät, führten nach acht Tagen
vollständige Genesimg herbei. In der Nacht zwischen dem
vierten imd fünften Tage trat eine reichliche Transpiration
der bisher trocknen Haut ein, die Schmerzhaftigkeit der Nie-
rengegend verschwand gleichzeitig mit der ödematösen An-
schwellung imd der in gehöriger Menge entleerte Urin nahm
seine natürliche Beschaffenheit wieder an.
Zweiter Fall.
Ein 45 jähriger, gesunder, dem Branntweintrinken sein-
ergebener Mann hatte sich vier Wochen zuvor bei einer zur
Nachtzeit in der Nähe seiner Wohnung ausgebrochenen Feu-
ersbrunst stark erkältet. Schon am folgenden Tage traten
fieberhafte Zufälle, Kopfschmerz, Uebelkeit, Schwindel und
leichte Brustbeklemmung ein, wozu sich bald ödematöse
Anschwellung der untern Extremitäten bis zum Knie, imd
des Unterhautzellgewebes am obern Theile des Halses hin-
zugesellte, so dass an dieser Stelle eine teigige, sackartig
herabhängende Geschwulst gebildet war, deren Umfang wäh-
rend der Nacht sich bedeutend verminderte, am Tage zunahm
und gegen Abend sein Maximum erreichte. Die Untersu-
chung des in reichlicher Menge gelassenen imd stark
sauer reagirenden Harns ergab einen bedeutenden Eiweiss-
gehalt desselben. Da bei diesem Kranken der Mangel aller
entzündlichen Erscheinungen in den Nieren die Anwendung
der antiphlogistischen Methode nicht erforderte, die Krankheit
Gehn ehr, wie in den meisten Fällen, in einer krankhaft ver-
änderten Blutmischung ihren Grund zu haben schien, so
wurde, um unmittelbar auf letztere einzuwirken, das Jodeisen
in form des Syrupus Fern jodati in Gebrauch gezogen, und
vom 19. December 1843 an acht Wochen hindurch in stei-
92
gender Dosis, von \ — 1 Gran , dreimal täglich fortgesetzt.
Der Erfolg dieses Versuchs war auffallend günstig, indem
nicht allein das Allgemeinbefinden des Kranken sich merklich
besserte, sondern auch die ödematösen Anschwellungen und
mit denselben jede Spur von Eiweiss im Urin verschwanden.
Der Kranke ist jetzt ein gesunder, kräftiger Mann, der nicht
die geringste Spur mehr der Gefahr drohenden Krankheit
darbietet.
D ritt er F all.
Ein 48 jähriger, sonst gesunder Nachtwächter hatte vor
vier Tagen eine Anschwellung der untern Extremitäten be-
merkt. Bei seiner Vorstellung in der Klinik zeigte sich je-
doch nicht allein eine ödematöse Geschwulst der Unterschen-
kel bis zum Knie , sondern auch im Unterleibe Hess sich
Fluctuation wahmehmen. Der Urin war stark eiweisshaltig.
Störungen des Allgemeinbefindens, Kopfschmerz, Beklemmung
waren liier wie im vorigen Falle zugegen. Die einmal be-
obachtete günstige Wirkung' des Syrup. Fern jodati veran-
lasste eine Wiederholung des Versuchs bei diesem Kranken,
die eben so glücklich ausfiel. Nach einem sechswöchentli-
chen Gebrauch des Syrups war der Kranke vollkommen her-
gestellt, und hat auch bisher kein Recidiv seines früheren
Uebels erlitten.
Herr Dr. Schleussner aus Kopenhagen hatte die Güte,
die Untersuchung des Urins und des Bluts dieses Kranken
vorzunehmen ; die von ihm erhaltenen Resultate waren folgende :
Analyse des Harns.
Spezif. Gewicht 1,007.
1000 Theile enthielten:
Wasser ....
. . 981,51
Festen Rückstand .
. . 18,49
Salze
. . 3,02
Harnsäure ....
. . 0,17
Harnstoff ....
. . 1,52
Eiweiss
. . 4,08
Extraktivstoff . .
. . 9,70
9 3
Analyse des Bluts.
1000 Theile enthielten:
Wasser 816,83
Festen Rückstand . . . . 183,17
Fibrine 6,1529
Fett aus der Fibrine . . . 0,0071
Fett aus dem Serum . . . 2,78
Blutrotk 57,9629
Eiweiss 62,39
Extraktivstoff 50,57
Salze 3,98
Von Harnstoff war keine Spur aufzufinden.
Wenn auch der Erfolg eines Mittels in zwei Fällen noch
nicht genügen kann, um demselben die Heilung der Krank-
heit zuzuschreiben, so fordert er doch jedenfalls zur wieder-
holten Anwendung auf, zumal in einer Krankheit, deren streng
rationelle Behandlung bei unsem bisher nur mangelhaf-
ten Kenntnissen kaum möglich ist.*) Wo die Krankheit
mit so entschieden ausgesprochenen Symptomen, wie im er-
sten der mitgetheilten Fälle, auftritt, da liegt allerdings auch
die zu erfüllende Indication sehr nahe. Allein in der Regel
zeigt sich die Krankheit nach Art des zweiten und dritten
Falls, und befällt meistens, wie auch in der Klinik beobach-
tet wurde, solche Individuen, die sich viel in freier Luft be-
wegen, allem Wechsel der Witterung blossgestellt, und dem
*) Ich habe in mehreren andern Fällen dieser Krankheit grossen,
wenn auch nur temporären Erfolg vom Jodeisen beobachtet, den schnell-
sten hei einem fremden Officier, im Anfang der dreissiger Jahre, der we-
gen einer mit Albuminurie verbundenen Leberaffektion von seinen Aerz-
ten nach Carlsbad geschickt worden war. Dort verfiel er in Ascites und
Anasarca, und kam in einem verzweifelten Zustande, mit bedeutender
Dyspnoe und sehr geringer Harnabsonderung nach Berlin. Die Schenkel
waren zu dem Dreifachen ihres normalen Umfangs geschwollen und von
ausserordentlicher Härte. Der Gebrauch des Jodeisens und des Wildlin-
ge1 Hassers beseitigte in drei Wochen den Hydrops gänzlich und bewirkte
auch eine Abnahme des Albumcn im Urin. Der Kranke reisete schein-
bar genesen ab, allein nach einem halben Jahre kehrten, wie mir brief-
lich gemeldet wurde, die früheren Symptome zurück. R.
94
Genüsse der Spirituosa ergeben sind, Schiffer , Fuhrleute,
Nachtwächter u. s. w.
5. Diabetes mellitus. Diese überhaupt seltene
Krankheit kam auch in der Poliklinik nur einmal, bei einem
36jährigen Zuckersieder, vor. Sie begann vor sechs Monaten,
ohne deutliche V eranlassung, mit einem plötzlich ausbrechen-
den heftigen Durste, zu dem sich bald ein bedeutend ver-
meinter Urinabgang gesellte. Als der Kranke in der Klinik
Hülfe suchte, hatten diese Symptome den höchsten Grad er-
reicht, so dass clie Menge des in 24 Stunden entleerten Urins
eilf Quart betrug. Spröde, trockene Haut, Röthe der Zunge,
starke Abmagerung und Verfall der Kräfte trotz imgestörten
Appetits und reichlicher Mahlzeiten, so wie vollkommenes Er-
loschensein der männlichen Potenz wurden bei diesem Kran-
ken, wie fast in allen Fällen des Diabetes mellitus, beobachtet.
Der stark sauer reagirende Urin, von dem verstorbenen Dr.
Franz Simon chemisch untersucht, enthielt in einem Quart
zwei Unzen und drei Drachmen Zuckerstoff. Sein spezifi-
sches Gewicht betrug 1034. Bei der gänzlichen Unwirksam-
keit aller bisher gegen den Diabetes mellitus empfohlenen
Mittel wurde diesem Kranken , in Verbindung mit der rein
animalischen Kost, der Syrupus Fern jodati in steigender
Dosis verordnet. Der Erfolg war anfangs auffallend günstig,
indem gleichzeitig mit der Abnahme des Durstes und der
verminderten Quantität des Urins die Reproduktion sich we-
sentlich verbesserte. Allein diese günstige Veränderung war
leider nur von kurzer Dauer : zur Steigerung der schon ge-
nannten Symptome gesellte sich noch eine täglich zunehmende
Schwäche des Sehvermögens, ein quälender, später mit einem
reichlichen eiterartigen Auswurfe verbundener Husten. L nter
zunehmender Entkräftung und Abmagerung erfolgte drei-
viertel Jahr nach seiner Vorstellung in der Klinik der Tod
des Kranken.
24 Stunden nach dem Tode wurde die Section vorge-
nommen.
Geringe Ansammlung von Serum fand sich in beiden
Pleurasäcken vor. Die linke Lunge enthielt in ihrem obern
Lappen, welcher stark an der Rippenpleura adhärirte, zahl-
reiche crude Tuberkeln. Letztere fanden sich auch in dem
obern und mittlern Lappen der rechten Limge, wo sich
bereits eine umfangreiche tuberculöse Excavation von der
Grösse eines Pliilmereies gebildet hatte. Die Leber war
sehr voluminös und blutreich, die Milz etwas geschwunden,
welk, im Innern von braunrother Farbe und matschig weichem
Gefüge. Die Yena portarum zeigte sich in ihrem ganzen
Verlaufe bis zur Einsenkung in die Fossa transversa der
Leber vollkommen normal. Beide Nieren waren sehr hyper-
trophisch , fest imd blutreich , die Harnleiter normal , die
Blase etwas erweitert und in ihren Wandungen bedeutend
verdickt. — Herr Dr. Remak, welcher die Güte hatte, eine ge-
naue Untersuchung der erkrankten Nieren vorzunehmen, find
eine ungewöhnliche Umfangzunahme der Corticalsubstanz,, be-
dingt durch Y erdickung der Nierenkanälchen und vorzugsweise
der mit Blut überfüllten MALPiGm’schenDriischen, die sich schon
dem blossen Auge in überraschender Menge darstellten. Die
Kanälchen waren nicht durchscheinend, sondern von weisslicher
Farbe, welche von einer Ueberfüllung der äussem Zellen-
schicht der Kanälchen mit fettähnlichen Körperchen herrührte,
die bei der Behandlung mit Aether und kochendem Alkohol
unkenntlich wurden. Auch freies Fett in Form grösserer
Kugeln Hess sich stellenweise innerhalb der Kanälchen und
auf der Schleimhaut der Nierenkelche wahrnehmen. Das
Zellgewebe, welches die Nierenkanälchen unter einander und
mit den MALPicm’schen Driischen verbindet, war verhärtet.
Zucker Hess sich aus der Nierensubstanz auf keine Weise
darstellen.
Wenn auch in diesem Falle wichtige Veränderungen in
den Nieren und der Blase gefunden winden, so würde man
doch gewiss mit dem grössten Unrecht den Sitz der Krank-
heit in die uropoetischen Organe verlegen. Vielmehr lässt
sich mit Bestimmtheit annehmen, dass die Texturveränderun-
gen derselben nicht Ursache, sondern Folge des Diabetes
96
mellitus waren. Es unterliegt wolil keinem Zweifel, dass die
durch einen congestiven Vorgang bedingte Hypertrophie der
Nieren in dem Heiz des zuckerhaltigen Urins ihren ersten
Grund hatte, und auch die Verdickung der Muskelhaut der
Harnblase lässt sich aus der gesteigerten Aktion der Muskel-
biindel, als Folge der bedeutend vermehrten Diurese ohne
Schwierigkeit erklären. Die Vorgefundene Alteration der
Milz ist bei ihrem häufigen Vorkommen in den verschieden-
sten Blutkrankheiten von keinem erheblichen Belang;. Wich-
tiger ist die schnell tödtlich gewordene Erkrankung der Lun-
gen, die ausgebreitete Tuberculose, welche in der Hegel das
Leben der Diabetischen beschliesst, sich in diesem Falle je-
doch durch einen ungewöhnlich raschen Verlauf auszeichnete.
Sie ist ein entscheidendes Argument für die Erkrankung der
gesammten Blutmasse, welche in der Pathologie des Diabetes
mellitus die wichtigste Rolle spielt.
6. Rhacliitis. Die Erscheinungen dieser Krankheit
boten, so weit sie in der Klinik beobachtet wurde , nichts
Neues dar. Um so mehr nahmen die chemischen Charaktere
des Urins und der Knochen, und überhaupt die pathischen
Veränderungen der letztem, die in der neuesten Zeit von
Güehin beschrieben worden sind, die Aufmerksamkeit in An-
spruch. Herr' Dr. Ephraim untersuchte den Urin von vier
in der Poliklinik behandelten Kindern, so wie das Oberschen-
kelbein eines zweijährigen rhachitischen Knaben, der an einer
Bronchitis gestorben war, und hat die gewonnenen Resultate,
die im Auszuge hier folgen, in seiner Inauguraldissertation
(Ad Morphologiam rhachitidis Symbolae nonnullae. Berolim
1843) mitgetheilt. Die Untersuchungsmethode war im All-
gemeinen dieselbe, deren sich auch Dr. Simon, unter dessen
Leitung diese Analysen vorgenommen wurden, zu bedienen
pflegte (Medizin. Chemie, I. p. 354). Unter R. findet man
die mittleren Verhältnisse des rhachitischen Urins, von
Dr. Ephraim aus seinen vier Analysen zusammengestellt;
unter K. die Zusammensetzung des Urins eines zweijährigen
gesunden Kindes, welchen der Verf. des Vergleichs halber
genau untersuchte; clie dritte Reihe (E.) enthält die mittleren
Verhältnisse aus den von Berzelius, Becquerel, Lecanu,
Simon und Lehmann angestellten Analysen des Urins er-
wachsener Personen. 1000 Theile Ham enthielten:
Harnstoff ....
Harnsäure ....
F euerbestänclige Salze
Sehwefelsaures Kali .
Phosphorsaures Natron
Erdphosphate . . .
Chiorsaures Natron .
Milchsäure Alkalien .
R.
20 . 1
1 . 8
42 . 13
6 . 6
5 . 4
. 1 . 15
K.
27 . 65
0 . 34
36 . 52*)
8 . 57
9 . 84
0 . 57
E.
41 . 1
1 . 5
25 .
9 . 09
5 . 71
1 .75
Hieraus ergiebt sich mm folgendes Resultat:
1) Die Quantität der feuerbeständigen Salze im rhachi-
tischen Urin übersteigt immer die im Urin Erwachsener vor-
kommende, und auch die bedeutende in der Analyse K.
2) Die Erdphosphate und die Harnsäure sind bedeutend
vermehrt, der Harnstoff dagegen vermindert.
3) Die Reaction des Urins war immer sauer, Sedimente
aber fehlten. Stand der Urin einige Stunden, so wurde die
Reaktion alknählig alkalisch, und die Erdphosphate schieden
sich als Sedimente aus. Das spezifische Gewicht betrug im
Mittel 1008.
Die Analyse des Oberschenkelbeins eines zweijährigen
rhachitischen Knaben ergab die unter E. angegebenen Pro-
portionen , womit unter V. die von Valentin angestellte
Analyse des Condyl. femor. ext. eines gesunden Mädchens,
unter B. Berzelius Untersuchung eines nicht näher bezeich-
neten Knochens von einem gesunden Individuum zusammen-
gestellt -worden ist.
*) Der Verf. bemerkt, dass diese sehr grosse Quantität feuerbestän-
diger Salze nicht auf einem Fehler der Analyse beruhe, da dieselbe so-
wohl von ihm, als auch von Dr. Simon mit dem zu anderer Zeit gelasse-
nen Urin desselben Kindes wiederholt wurde und gleiche Resultate ergab.
7
98
100 Theile des Knochens enthielten:
E.
V.
64 . 271
35 . 73
44 . 83
31 . 29
37 . 89
4 . 02
1 . 98
0 . ' 42
5 . 04
B.
Organische Substanzen .
Anorganische Substanzen . 35 . 73 44 . 83 67 . 14
Erdphosphate 31 . 29 37 . 89 54 . 64
Kohlensaurer Kalle .... 4 . 02 1 . 98 1 . 20
Kohlensaures u. salzs. Natron 0 . 42 5 . 04 1 1 . 30
/
Aus diesen und andern Analysen gesunder Knochen von In-
dividuen verschiedener Lebensalter ergiebt sich , dass das
mittlere Verhältniss der anorganischen Substanzen der Kno-
chen gesunder Kinder zu dem Erwachsener wie 29 : 32, da-
gegen das der rhachitischen Knochen zu dem Erwachsener
wie 37 : 65 , und zu demjenigen neugeborner Kinder wie
37 : 58 ist.
Die wichtigen Veränderungen der Knochen, welche
Guerin beobachtet und beschrieben hat, veranlassten auch
den Verf. zur genauen Untersuchung des Knochengewebes,
wobei er sich der Anleitung und Unterstützung des Herrn
Dr. Remak zu erfreuen hatte. Durch diese Untersuchung
wurden indess Guerin’s Ansichten durchaus nicht be-
stätigt, vielmehr ergab sich, dass die Anschwellung der Epi-
physen auf einer Vermehrung der Knorpelmasse selbst be-
ruht. Die Knorpelkörperchen liegen (wahrscheinlich von
einer Flüssigkeit umspült) lose in ihren Zellen, und können
daher unter dem Mikroskop frei herumschwimmend beobachtet
werden. Die Knochenkörperchen und die Knochenkanäle er-
scheinen durchsichtiger, und enthalten weniger Kalksalze als
im Normalzustände.
Die in der Klinik übliche Behandlung der Rhachitis
bestand hauptsächlich in dem Gebrauche der Eisenpräparate
(m der letzten Zeit auch des Syrupus Eerri jodati) in Ver-
bindung mit aromatischen und mit Eisen versetzten Bädern.
Reibungen des Bauchs, des Rückens, der Extremitäten mit
durchräucherten Flanelllappen, Herumkriechen der Kinder
auf freien sonnigen Sandplätzen zeigten sich von Nutzen.
Nährende Diät, gutes Bier, Fleischspeisen, mit Vermeidung
aller Fette und mehlhaltiger Nahrungsmittel, waren zum
Gelingen der Kur unerlässlich.
Von den Blutvergiftungen betrachten wir vorzugs-
weise deu typhösen Process und die acuten Exantheme,
t. F ebris typhosa.
Olme auf die Symptomatologie dieser so vielfach be-
sprochenen Krankheit ausführlicher einzugehen, sei hier nur
der Grundsätze gedacht, nach denen die Behandlung der
Typhuskranken in der Poliklinik geleitet wurde. Jedes ge-
waltsame Eingreifen in den noch unbekannten Krankheits-
vorgang vermeidend, weder grosse Dosen des Calomel, noch
andre gepriesene Mittel in Gebrauch ziehend, bezweckte die
Behandlung nur die grösstmöglichste Reinheit des Krank-
heitsverlaufs, die Verhütung gefahrdrohender Complicationen,
und, so weit es anging, Erhaltung der normalen Blutkrasis,
deren Verlust ohne Zweifel als eins der wichtigsten Momente
in der Pathologie des Typhus zu betrachten ist. Ruhe des
Gemiiths *) imd Körpers, strenge Diät und der innere Ge-
brauch der Aqua oxymuriatica reichten in den gelinderen
Fällen der Gastrico - nervosa gewöhnlich zur Pleilung hin.
Durch strenges Befolgen der Vorschrift, die Kranken, auch
wenn die funktionellen Symptome nicht dazu auffordern soll-
ten, täglich zu auscultiren, war man oft im Stande, die spä-
ter so verderbliche Bronchitis schon in ihrem Beginn zu ent-
decken, und durch geeignete Mittel zu unterdrücken. Allge-
meine Bluten tleerim gen wurden in solchen Fällen nur selten
angewendet: man beschränkte sich Gelmehr auf topische,
liess den Gebrauch des Chlorwassers aussetzen, und verord-
*) Kein Moment fand ich von so verderblichem Einflüsse auf den
Ausgang des Typhus als deprimirende Gemüthsaffccte, welche der Mensch
mit in die Krankheit hineinnimmt. Bei Kaufleuten mit verunglückten
Spekulationen sah ich auch den gelindesten Grad tödtlich werden. Bei
den typhösen Armen bemühte ich mich daher, von Anfang an die Lage
durch Unterstützungen, und wenn es ein Familienvater war, durch Bewah-
rung der Seinigcn vor Noth und Elend zu verbessern. Ich stehe nicht
an, in diesen Fällen der Beruhigung des Gemüths einen wesentlichen An-
theil an dem günstigen Erfolge zuzuschreiben. - . K.
7*
100
nete statt desselben, um so wenig als möglich zu schaden,
eine einfache Oelemulsion. Machte die Affektion der Lun-
genschleimhaut dennoch Fortschritte, traten feuchte Rasselge-
räusche an die Stelle der sonoren und pfeifenden, so leisteten
Vesicatore auf der Brust, und der innere Gebrauch der Ar-
nica und der Senega treffliche Dienste, zumal in diesem Sta-
dium der Krankheit der Verfall der Kräfte die Anwendung
excitirender Mittel zu fordern pflegt. Was die Darmsymptome
betrifft, so ging gewöhnlich Stuhlverstopfung, Aveit seltener
Diarrhoe , der Krankheit voraus , und bestand auch in der
Regel wahrend des Verlaufs derselben fort. Milde Abführ-
. mittel, Oleum Ricini, Electuarium lenitivum wurden Aron Zeit
zu Zeit verordnet, und die Aqua oxymuriatica bis nach er-
folgtem Stuhlgänge ausgesetzt. Die Schmerzhaftigkeit des
Bauches erforderte nur selten die Application Aron Blutegeln,
die überhaupt hier wenig fruchten: in der Regel begnügte
man sich mit warmen Fomentationen und Kataplasmen. Kalte
UeberschTäge über den Kopf und örtliche Blutentleerungen
fanden bei vonvaltenden Cerebralerscheinungen, zumal bei
Kindern, ihre Anwendung. Von warmen Bädern, die sonst
zweckmässig zur Bethätigung der Haut angewendet werden,
liess sich der imgünstigen Verhältnisse Avegen, worin die
Kranken lebten, sein selten Gebrauch machen.
Diese einfache Methode, welche Avenigstens den Vortheil
der Unschädlichkeit vor dem Pruritus praescribendi voraus
hat, wurde in vielen Fällen unter den' ungünstigsten Um-
ständen von glücklichem Ei-folge gekrönt, so dass das
Mortalitätsverhältniss der in der Klinik behandelten Typhus-
kranken sich günstig gestaltete.
In ZAvei Fällen wurde gegen das Ende der Krankheit
Schwerhörigkeit beobachtet. Dieses Symptom, welches gleich
der erhöhten Empfindlichkeit des Ohrs im Anfänge immer
einen stärkeren Angriff auf das Gehirn bekundet, verliert in
den spateren Stadien diese Bedeutung, und darf daher nicht
beunruhigen. Ein wichtiger Unterschied zeigte sich, je nach-
dem die Krankheit, Erwachsene oder Kinder befiel. Bei letz-
101
tem war ein Vorherrschen der bronchitischen Erscheinungen
unverkennbar, ja der ganze typhöse Process schien sich in
vielen Fällen allem auf der Bronchialschleimhaut zu concen-
triren, während der Unterleib fast gar keine krankhafte Er-
scheinungen darbot. Bei Erwachsenen hingegen trat die
Krankheit fast immer als Abdominaltyphus auf, und erst nach
der vollständigen Entwicklung desselben gesellte sich die
LungenafFektion hinzu.
In einem Falle, bei einem achtjährigen Knaben, bildeten
sich am zwölften Tage der Krankheit auf der leicht gerötheten
Haut des Gesässes erbsengrosse Pusteln, mit lividem, stellen-
weise sogar blutig gefärbtem Inhalt. Obwold diese Erschei-
nung immer auf eine weit vorgeschrittene Dccomposition der
Säftemasse hindeutet, hatte sie doch in diesem Falle auf den
Verlauf der Krankheit keinen imgiinstigen Einfluss.
Bei einem andern, eilfjährigen Knaben entwickelte sich
in der Reconvalescenz am ersten Backzahn ein putrides Ge-
schwür, welches das Ausfallen des Zahns bald zur Folge
hatte, und alle Charaktere der Stomacace annahm. Trotz
der Anwendung der kräftigsten örtlichen Mittel, einer stär-
kenden Diät, imd des innern Gebrauchs der Chinarinde, un-
terlag das bereits durch die Krankheit erschöpfte Kind dem
von neuem auflodemden Fieber.
2. Febris scarlatina.
Als die gefährlichste Complication des Scharlachfiebers
zeigte sich immer die mit einem Leiden des Gehirns oder
der Meningen, wofür folgender Fall als Beispiel dienen mag :
Ein sechsjähriges, bisher gesundes Kind, seit mehreren Ta-
gen bereits an Fieberbewegungen leidend, verfiel am 18. Ja-
nuar 1845 plötzlich in heftige, mehrere Stunden anhaltende
Convulsionen, die sich auf die rechte Körperhälfte beschränk-
ten. Lnmittelbar nach denselben trat ein soporöser Zustand
ein, aus welchem jedoch das Kind mit leichter Mühe zu er-
wecken war. Beim Versuche zu trinken klagte es über hef-
tige Schinerzen im Halse, welche ein wiederholtes Regurgi-
tiren der I lÜ3sigkeit veranlassten, und wie die Untersuchung
102
ergab, in einer intensiven Entzündung der Rachenhöhle ihren
Grund hatten. Am 20. brach der Scharlachausschlag; am
ganzen Körper hervor, ohne dass jedoch die Intensität der
vom Gehirn her drohenden Zufälle sich verminderte. Die
Application von Blutegeln an den Kopf, kalte Ueberschläge,
Ableitungen auf den Darmkanal vermochten den Eintritt wie-
derholter heftiger Convulsionen, die sich ebenfalls nur auf der
rechten Seite des Körpers kund gaben, nicht zu verhüten.
Dabei war, trotz der enormen Pulsfrequenz von 150 Schlä-
gen, die Temperatur der Haut nicht bedeutend erhöht. Am
23. war das Exanthem völlig verschwunden , die Gehim-
symptome nahmen jedoch auf beunruhigende Weise zu, die
Conviüsionen wiederholten sich, das Kind konnte nicht mehr
aus dem Sopor geweckt werden, und starb trotz der Anwen-
dung der kräftigsten Mittel am 26. Am folgenden Tage ward
die Sektion vorgenommen. Ausser einer starken Injektion
der Pia mater zeigten sich vermehrte Consistenz und auffal-
lende Blutüberfüllung des Gehirns selbst, so dass die Schnitt-
fläche ein gleiclnnässiges rosafarbenes Colorit darbot. Exsu-
dation war weder in den Ventrikeln noch an der Aussen-
fiäche des Centralorgans wahrzunehmen. Im untern Lappen
der rechten Lunge fand sich ein erbsengrosser, in Erweichung
übergegangener Tuberkel, in seiner Umgebung noch einige
Heinere. Beide Lungen waren vorzugsweise in ihren untem
Lappen mit Blut angefüllt. Die Schleimhaut des Oesopha-
gus war lebhaft geröthet, und zumal in der Nähe der Cardia
mit Lagen abgestossenen Epitheliums bedeckt; die Mucosa •
des Magengrundes war im Umfange eines Zweithalerstücks
dunkel braunroth , und völlig erweicht. Auffallend ist die
Halbseitiffkeit der Convulsionen, während die sorgfältigste
o
Untersuchung; des Gehirns kernen Unterschied in den bei-
den Hemisphären auffinden konnte. Ausserdem verdient die
Röthe der Speiseröhrenschleimhaut, und der auf derselben
stattfindende Dcsquamationsprocess,- so Avie die Erweichung
der Schleimhaut des Magengrundes besonders hervorgehoben
zu werden, Avclche letztere sich während des Lebens durch
103
kein einziges Symptom kundgegeben hatte. Diese Magener-
weichung kommt überhaupt bei acuten und chronischen Him-
krankheiten, ohne dass man sie ' während des Lebens vermu-
then komite, nicht selten vor, womit Rokitansky’ s Beobach-
tungen übereinstimmen.
Prognostisch nicht minder schlimm, als die Complication
mit einem Gehirnleiden ist die Abweichung des Fiebercha-
rakters vom synochösen zum asthenischen, typhösen. Da
Fälle dieser Art bei uns nicht häufig Vorkommen, so dürfte
die folgende Krankengeschichte sowohl in pathologischer, wie
in therapeutischer Hinsicht nicht ohne Interesse sehr:
Ein neunjähriger Knabe ward vor sieben Tagen von
heftigen Leibschmerzen und darauf folgendem Erbrechen be-
fallen, wogegen Blutegel auf den Unterleib und ein paar
Dosen Rheum verordnet wurden. Trotz reichlicher Stuhl-
entleerungen besserte sich der Zustand des Kindes nur in so
weit, als die quälenden Schmerzen im Unterleibe und das
Erbrechen nachliessen : dafür bildete sich allnrählig ein fie-
berhaftes, zur Nachtzeit mit Delirien verbundenes Leiden
heraus, welches die Mutter nöthigte, in der Klinik Hülfe zu
suchen.
Bei der ersten Untersuchung fand man den Knaben in
Somnolenz unbeweglich auf dem Rücken liegen, aus welchem
Zustande er jedoch leicht geweckt werden konnte. Aus der
Nase floss eine corrodirende Flüssigkeit, die Mundwinkel wa-
ren wund, wie geätzt. Die intensiv rothe Zunge zeigte hie
und da weisse Flecken, die sich weit nach hinten über das
geröthete Yelum palatinum und den Pharynx erstreckten.
Aus dem geöffneten Munde drang ein widriger, fauliger Ge-
ruch hervor. Das Gesicht war bleich, und contrastirte stark
mit der Farbe des Körpers. Der Hals, an dessen rechter
Seite die Lymphdriisen angeschwollen waren, und die Brust
zeigten eine schmutzig livide, auf den Fingerdruck momentan
verschwindende Röthe ; die Haut war spröde, trocken, heiss ;
der Puls klein, leicht zu comprimiren, von 144 Schlägen in
der Minute , während in derselben Zeit nur 28 Inspiratio-
104
nen erfolgten, der Urin sparsam und dunkel. Die Hautrötbe
in Verbindung mit den anginösen Erscheinungen und dem
heftigen Fieber Hess das Vorhandensein eines Scharlachfiebers
nicht verkennen. Allein die Beschaffenheit der Röthe, der
torpide Charakter des Fiebers, die ätzende Eigenschaft des
Secrets der Nasenschleimhaut, der faulige Geruch aus dem
Munde, die aphthöse Eruption in demselben, und endfich die
Mitleidenschaft des Sensoriums, alle diese Symptome sprachen
dafür, dass man es in diesem Falle mit einer der gefährHch-
sten Formen dieser Krankheit, der Febris scarlatina putrida,
zu thun hatte. Die Prognose musste in Betracht des vorge-
rückten Stadiums der Krankheit sehr imgiinstig gestellt
werden, und die Heilung war wohl nur noch von der Erzie-
lung eines mächtigen Eindrucks auf den Organismus, und der
Erzeugung einer kräftigen Reaktion in demselben zu erwarten.
Diesen Zweck erreicht man am besten durch die V erbindung
der Kälte mit der Erschütterung, und es wurde demgemäss
verordnet, den Kranken alle zwei Stunden im warmen Bade
mit kaltem Wasser zu übergiessen, in der Zwischenzeit aber
den Körper mit kaltem Essig und Wasser zu waschen. In-
nerlich erhielt er einen Tamarindenaufguss mit V einstein-
säure. Gegen Abend (den 19. November) stieg die Frequenz
des Pulses auf 160 Schläge in der Minute; der comatöse
Zustand nahm zu imd der Kranke konnte aus demselben nur
noch durch die Begiessungen erweckt werden. V ährend
der Nacht trat indess ein ruhiger Schlaf ein; gegen ein Uhr
brach ein duftender Sclnveiss über, den ganzen Körper aus,
mit welchem das Bewusstsein zurückkehrtc. Am 20. hatte
sich das Aussehen des kleinen Kranken um \ ieles gebessert.
Schon das klare Auge deutete eine grössere Freiheit des Sen-
soriums an, die sich auch in den Antworten des Knaben auf
die ihm vorgelegten Fragen kund gab. Die Pulsfrequenz
hatte sich auf 120 Schläge ermässigt, die Haut war weich,
duftend, während das Exanthem in voller Bllithe stand, und
am Halse bereits die Desquamation begann. Auch der Aus-
fluss aus der Nase, die sogenannte Coryza scarlatinosa, che so
105
häufig eine der schlimmsten Nachkrankheiten des Scharlach-
fiebers bildet, hatte abgenommen. Dagegen verharrten die
übrigen Localaffektionen, sowohl die putrid-aphthöse, als die
anginöse und die in prognostischer Hinsicht immer höchst
ungünstige Geschwulst am Halse auf derselben Höhe, wie
O Ö
am Tage zuvor. Bei dem jetzigen Zustande der Haut
war für die kalten Begiessungen durchaus keine Indication
mehr vorhanden. Die Aufgabe war vielmehr, den kriti-
schen Trieb nach der Haut zu unterstützen, wozu sich lau-
warme Waschungen mit gleichen Theilen Essig und Was-
ser am besten eigneten. Zum innern Gebrauche wurde die
Aqua oxymuriatica verordnet, die Temperatur des Kranken-
zimmers auf 15° R. bestimmt. Am 22. war die Besserung
des Kindes im Fortscbreiten begriffen; die Desquamation
verlief regelmässig, sowohl auf der äussern Haut, wie auf den
Schleimhäuten, indem mit dem Stuhlgang und Urin viel Epi-
thehumtrümmer abgingen. Die Zunge hatte das bekannte
erdbeerartige Ansehn. Der Puls machte nur noch 102 Schläge
in der Minute; Haut- und Urinsecretion gingen normal von
Statten, und im Urin zeigte sich ein starkes Sediment. Nur
die Localaffektion der Cervicaldrüsen verrieth noch keine Nei-
gung zur Besserung. Die Therapie beschränkte sich jetzt
auf die Darreichung gelinder Purgantia, um den etwas ange-
haltenen Stuhlgang zu befördern. — Am folgenden Tage
ergab die Untersuchung zwei nicht unwichtige Veränderun-
gen im Befinden des Kranken: 1) Die Geschwulst am Halse
hatte ihre Härte verloren und schien zur Eiterung: zu neigen.
2) Der Urin war plötzlich sehr sparsam und dunkel gewor-
den, eine Erscheinung, die, wenn sie in der Desquamations-
periode des Scharlachs vorkommt, immer den Verdacht auf
eintretenden Hydrops lenken muss. Zur Beförderung der
Diurese wurde reichliches Trinken von Selterserwasser em-
pföhlen, die Geschwulst des Halses aber mit warmen Kata-
plasmen bedeckt. Der nächste Tag rechtfertigte in der Tliat
die am 23. lautgewordenen Befürchtungen. Es zeigte sich
eine ödematöse Anschwellung der untern Augenlider, wäh-
106
rend die Untersuchung des Urins schwache Spuren von Al-
buinen in demselben entdecken liess. Zur Beförderung der
Diurese wurde ein Infus. Hb. Digital, (gr. vm.) 3iij, mit
Kali aceticum ?ij und Syrup. simpl. ^j, stündlich einen Ess-
löffel zu nehmen, verordnet. Beunruhigend war noch eine
umschriebene livide Röthe der rechten Wange, die in Ver-
bindung mit dem Oedem und der vorausgegangenen Krank-
heit die Entwicklung einer Noma wohl befürchten lassen
konnte: es fehlte jedoch in diesem Falle der faulige Geruch
aus dem Munde, der schon im Beginn der Noma fast nie
vermisst wird. Am 25. waren auch die aufNoma deutenden
Erscheinungen bereits verschwunden, doch hatte sich dafür
ein neues sehr lästiges Symptom, Schwerhörigkeit, ein-
gefunden. Im Verlaufe des Scharlachfiebers wird das Ge-
hörorgan nicht selten afficirt. Im ersten Stadium der Krank-
heit deutet ein sehr feines Gehör auf phrenitische Affektion
und drohende Convulsionen , in den spätem Stadien bildet
sich zuweilen eine Otitis im Innern der Paukenhöhle, indem
sich die Entzündung der Rachenschleimhaut durch die
EusxACHi’sche Trompete auf das innere Ohr fortpflanzt, imd
dann zuweilen Paralysis facialis derselben Seite veranlasst;
auch kann die Knochensubstanz des Felsenbeins selbst krank-
haft afficirt werden, Tuberkelstoff sich in demselben ablagern,
und eine langwierige Otorrhöe zur Folge haben. — Die Urin-
ausleerung erfolgte reichlicher als an den vorhergehenden Tagen,
die Desquamation auf der äussern Haut, wie auf den Schleim-
membranen ging normal von Statten. Die Halsgeschwulst
näherte sich der Maturation. Am 26. wurde die Geschwulst
geöffnet, und ein dickes, stinkendes, mit vielem Eiter ver-
mischtes Blut aus derselben entleert. Der ganze Zustand
des Knaben liess ein stetes Fortschreiten zur Besserung nicht
verkennen. — Leider wurde am folgenden Tage der Knabe
von seinen Eltern dem Klinikum entzogen, so dass eine fer-
nere genaue Beobachtung desselben unmöglich war. Doch
brachte man zur Kunde, dass die Genesung vollständig er-
folgte.
107
Unter den Nachkrankheiten des Scharlachfiebers kamen
hyclropische Affektionen am häufigsten vor. In einigen Fäl-
len war die üdematöse Anschwellung des Gesichts, der un-
tern Extremitäten und die Auftreibung des Unterleibs über-
haupt das erste Symptom, welches Aufsehn erregte, und die
Eltern antrieb, ärztliche Hülfe in Anspruch zu nehmen. Bei
genauerer Nachforschung erfuhr man dann, dass vor einigen
AVochen ein fieberhafter, mit Schlingbeschwerden verbundener
Ausschlag vorausgegangen sei; zuweilen Hessen sich selbst
noch Spuren der Desquamation entdecken. Die Beschaffen-
heit des Urins wechselte, wenn auch seine Quantität immer
mehr oder weniger beschränkt war. In fünf Fällen enthielt
er nur zweimal Albumen, wahrscheinlich von beigemischtem
Cruor, welcher den Urin dieser Kranken dunkel rothbraun
färbte; dagegen Hess sich in drei andern Fällen in dem kla-
ren, hellgelben Ham keine Spur von Eiweiss auffinden.
Schmerzhaftigkeit der Nierengegend wurde selbst da, wo
Albuminurie vorhanden war, niemals wahrgenommen. Das
heftige Fieber, welches die hydropischen Erscheinungen ge-
wöhnlich begleitete, liess sich fast immer von einem wichtigen
Leiden der Respirationsorgane herleiten. Livide Färbung
des Gesichts, schnelle oberflächliche Respirationsbewegungen,
quälender Husten, und sonore, pfeifende, oder feuchte Rassel-
geräusche in einer oder in beiden Lungen deuteten in den
meisten Fällen das Vorhandensein einer Bronchitis an. Allein
auch die Ergiessung seröser Flüssigkeit in die Bauchhöhle
liess sich bei einigen Kranken nicht verkennen.
Ein fünfjähriges Kind, welches drei AVochen zuvor von
Scarlatina befallen worden, imd schon während der Desqua-
mationsperiode an Oedem der Hände mit Anschwellung der
Submaxillardrüsen gelitten hatte, bekam vor drei Tagen plötz-
lich ein heftiges, von Husten begleitetes Fieber, wobei die
Auscultation Schleimrasseln vorzugsweise an der AVurzel beider
Lungen nachwies. Die Application einiger Blutegel,' so wie
der Gebrauch des Brechweinsteins hatte zwar eine scheinbare
Besserung zur Folge, allein nach zweitägiger Pause traten
108
die genannten Symptome von neuem und mit noch grösserer
Heftigkeit hervor. Die livide Blässe des ödematös ange-
schwollenen Gesichts, der fortwährende trockne Husten, die
ausserordentlich gesteigerte Dyspnoe deuteten auf eine bedenk-
liche Affektion der Respirationsorgane hin. Die linke Brust-
hälfte liess bei der Untersuchung mit Ausnahme der fortbe-
stehenden Rasselgeräusche keine Anomalieen wahrnehmen, die
rechte hingegen gab bei der Percussion bis zur Höhe der
zweiten Rippe sowohl auf der Vorder- wie auf der Rücken-
fläche einen vollkommen matten Ton; auch war das Respira-
tionsgeräusch nur äusserst schwach hörbar, als wäre die
Lunge durch eben fremden Körper von der Brustwand ge-
trennt. Der scharfe Rand der Leber war unter den falschen
Rippen hervorgedrängt. Entsprechend den hydropischen Er-
scheinungen im Gesicht und am Scrotum, wurde der Urin
nur in geringer Quantität entleert, machte ein stark graugel-
bes Sediment , enthielt jedoch kein Eiweiss. Da an dem
Vorhandensein einer Flüssigkeit in der rechten Brusthälfte
nicht mehr gezwcifelt werden konnte, die Fortdauer des
heftigen Fiebers und der intensiven Rasselgeräusche in der
linken Lunge jedoch das Fortbestelm der Entzündung an-
deutete, so wurde die Application der Blutegel wiederholt,
und innerlich ein Infus. Hb. Digital, mit Kali aceticum ver-
ordnet. Auf die rechte Brust, in welcher der Sitz des Ex-
sudats angenommen werden musste, wurde Sublimatsalbe bis
zur Blasenbildung eingerieben. Schon am folgenden Tage
war die Pulsfrequenz von 160 auf 120 Schläge gesunken, die
bisher trockne Haut secernirte mässig, der Urin war klarer
und reichlicher, die Brusterscheinungen bedeutend ermässigt.
Die Behandlung wurde auf dieselbe W eise fortgesetzt, wobei
allmählig der matte Percussionston der rechten Brusthälfte
dem normalen Platz machte, und das vesiculäre Atlunungs-
geräusch deutlicher hörbar wurde. Am siebzehnten Tage
nach dem Beginne der Kur wurde das Kind als vollständig
genesen vorgestellt.
Die in der Poliklinik übliche Behandlung dieser Nach-
1 09
krankheit des Scharlachfiebers beschränkte sich in einfachen
Fällen von Anasärca ohne begleitendes heftiges Fieber auf
den Gebrauch der antiphlogistischen Diuretica, besonders des
Tartarus depuratus, der zu 10 Gr. zweistündlich gereicht wurde.
Bestand jedoch ein heftiges Fieber, oder gar eine Complication
mit Bronchitis, so zeigte sich eine allgemeine Blutentleerung
von zwei Tassen, die selbst bei kleinen Kindern eine Tasse
voll ohne Scheu angestellt wurde, von der grössten Wirk-
samkeit. Zum iimern Gebrauch verorclnete man gewöhnlich
eine Verbindung der Herb. Digital, mit Cremor Tart. in Pul-
verform oder einen Aufguss der ersteren mit Terra foliat.
Tartan. Diese Behandlung wurde noch dringender erfordert,
wo schon ein Erguss seröser Flüssigkeit in die Brusthöhle
erfolgt war. In diesem Falle zeigten sich Einreibungen
der Sublimatsalbe nicht allein gegen die drohenden suffoca-
torischen Anfälle sehr hlilfreich, sondern schienen auch die
Resorption des Ergossenen kräftig zu befördern. Die Salbe
winde aus einer Drachme Sublimat und einer Unze Fett be-
reitet, wovon stündlich eine haselnussgrosse Quantität bis zu
der eines halben Tlieelöffels in eine umschriebene Stelle der
Brust, von dem Umfange eines Thalers, eingerieben wurde.
Sobald sich diese Stelle röthete, winden die Einreib ungen
ausgesetzt, imd die Entwicklung der pemphigusähnlichen
Blase abgewartet, nach deren spontanem Abtrocknen die Ein-
reibung auf einer andern Stelle in derselben Art von neuem
begonnen wurde.
Schliesslich sei noch einer eigentlnimlichen Erscheinung
gedacht, welche bei einem kräftigen, stets gesunden Kinde in
der Desquamationsperiode eines normal verlaufenden Schar-
lachfiebers vorkam. Es bildeten sich nämlich, ohne deutliche
Ursache, an den einander zugewandten Rändern sämmthcher
Finger Erhebungen der Oberhaut, welche die ganze Länge
des Fingers einnahmen, und mit einem trüben Serum gefüllt,
das Ansehn des Pemphigus darboten. Vielleicht hat man die-
selben nur als eine höhere Entwicklung des Desquamations-
processes zu betrachten, wobei anstatt einfacher Abblätterung
110
der Epidermis diese zuerst in Gestalt von Blasen in die
Höhe gehoben wurde. Nach der künstlichen Eröffnung der-
selben wurden die entblössten Iiautstellen mit einem aus
Ol. Lini und Aq. Calcis bereiteten Liniment verbunden, und
durch Einwicklung der einzelnen Finger mittelst Leinwand-
streifen der Verwachsung derselben vorgebeugt.
3. Die Ma sern traten epidemisch im Wintersemester
18 ^ auf. Die damals herrschende Epidemie zeichnete sich
durch fast nie fehlende gastrische Complication aus, so dass zur
Stillung der Vomituritionen und des wirklichen Erbrechens
sehr oft Emetica erforderlich waren. Nur höchst selten wurde
die Schleimhaut des Larynx, wie es bei drei gleichzeitig an
den Masern erkrankten Geschwistern der Fall war, ergriffen.
4. Auch die Var ioloiden gehörten zu den öfters vor-
kommenden Krankheiten, ohne jedoch besonders hervorzuhe-
bende Erscheinungen darzubieten. Dagegen zeigten die V a-
ricellen in einigen Fällen imgewöhnliche Symptome. Ab-
gesehen von den heftigen Convulsionen , die bei manchen
Kindern dem Ausbruche der Windpocken voherrgingen,
wurde bei einer wahrscheinlich durch ihr Kind angesteckten
Frau im Verlaufe der Krankheit eine heftige Angina mit
Bildung von Bläschen auf der Schleimhaut des weichen Gau-
mens und der Mandeln beobachtet, welche platzend in aphthöse
Geschwüre übergingen. Bei einer Wöchnerin brachen die
Varicellen mit so intensiven, bis in die untem Extremitäten
hineinschiessenden Kreuzschmerzen hervor, dass man beim
ersten Erscheinen der Bläschen Variolois vermuthete, ein
Irrt hum, welcher durch die vollständige Entwicklung der Va-
ricellen bald beseitigt wurde.
Den Krankheiten, welche durch qualitative Veränderun-
gen des Blutes bedingt werden, reihen wir noch den Rheu-
matismus und die Arthritis an.
1 . Rheumatism u s.
In der Behandlung des Rheumatismus acutus wur-
den, mit Verwerfung jedes einseitigen Verfahrens, weder die un-
111
massigen Blutentleerungen nach Bouillaud, deren Anwendung
nur im Falle einer Complication mit Pericarditis oder Endocarditis
gerechtfertigt sein dürfte, noch die früher üblichen, oft wieder-
holten Brechmittel in Gebrauch gezogen. In frischen Fällen
ward die Behandlung mit einem starken Aderlass eingeleitet :
das gelassene Blut zeigte die charakteristische Crusta rheu-
matiea, welche sich durch ihr zähes Ankleben an den Wänden
der Tasse, und durch den Mangel des aufgeworfenen, crene-
lirten Bandes von der phlogistischen wesentlich unterscheidet.
Die geschwollenen , schmerzhaften Gelenke wurden durch
Einwicklung in Watte, Werg u. dgl. m. in einer gleich-
mässigen Temperatur erhalten, und zum innern Gebrauch
mässig auf den Darmkanal ableitende Mittel verordnet, von
denen sich folgende Formel am meisten bewährte: tk Magnes.
sulphuricae 3 j, solve in Aq. commun. 3V, adde: Tinct. Semin.
Colchici aut. ?,iß — ij, Syr. commun. 5 j- Mds. zweistündlich
einen Esslöffel voll zu nehmen. Der Gebrauch dieser Mi-
schung zeigte sich auch für sich, ohne gleichzeitige Anwen-
dung von Bluten tleerungen, in solchen Fällen hiilfreich, wo
einzelne Gelenke, >z. B. das Schultergelenk, der Sitz des
rheumatischen Ivrankheitsprocesses waren, ohne von allgemei-
nen Beaktionserscheinimgen begleitet zu sein. Anders ge-
staltete sich die Behandlung, wo nächtige Complicationen ein
mein- energisches Eingreifen erforderten, wofür der folgende
Fall als Beispiel dienen mag:
Ein 17 jähriges Mädchen, dessen Begehr erst dreimal
eingetreten und stets von heftigen Palpitationen begleitet ge-
wesen waren, hatte bereits zehn Tage zuvor über Glieder-
reissen, Frösteln mit darauf folgender Hitze, Kopfschmerz
und Ohrensausen geklagt. Zur Nachtzeit nahmen die Schmer-
zen bedeutend zu und wurden von starken säuerlich riechen-
den Schweissen begleitet. Am zehnten Tage erfolgte plötzlich
eine Milderung, ja gegen Abend zur grossen Freude der
Kranken ein vollkommener Nachlass der Schmerzen. Um so
unerwarteter traten mitten in der Nacht die heftigsten Deli-
rien ein, die bis gegen Morgen fortdauerten, imd die Ange-
112
hörigen antrieben, in der Klinik Hülfe zu suchen. Bei der
ersten Untersuchung hatten die Delirien zwar schon nachge-
lassen, aber ein heftiger Schmerz tobte in der Gegend der
fünften und sechsten linken Kippe, welcher zwar nicht durch
Druck auf die Intercostalräume, wohl aber durch Aufwärts-
schieben des Zwerchfells auf der linken Seite bedeutend ge-
steigert wurde. In der Herzgegend war das Vibrationsphä-
nomen deutlich fühlbar; bei der Auscultation hörte man ein
Keibimgsgeräusch, wobei die unzählbare Frequenz der Schläge
die Herztöne nicht deutlich zu unterscheiden erlaubte. Die
Percussion ergab keine Vergrösserung des Herzumfangs. Ein
hoher Grad von Dyspnoe, kurzer, trockner Husten, Kälte
der Hände und Fiisse, livide fleckige Röthe des Gesichts,
das heftigste Fieber vervollständigten das Bild einer Krank-
heit, deren Diagnose nach den genannten Symptomen nur
auf P ericarditis gestellt werden konnte. Es wurde so-
gleich eine Vs. von 12 3 gemacht, und diese im Laufe der
nächsten Tage noch zweimal wiederholt. Mehrmals ange-
stellte topische Blutentleerungen in der Herzgegend, Einrei-
bungen mit einer Salbe aus Ung. neapolitan. und Extract.
Digitalis, starke Dosen des Calomeis bewirkten binnen kurzem
einen Nachlass der drohendsten Erscheinungen, so dass am
fünften Tage der früher unzählbare, kleine Puls die Frequenz
von 140 Schlägen in der Minute nicht überstieg. Die bisher
gebrauchten Mittel wurden nun mit einem Infus. Herb. Di-
gital. und der Application eines Blasenpflasters auf die Herz-
gegend vertauscht, und zwar mit so günstigem Erfolge, dass
nach vierzehn Tagen die Kranke als Keconvalescentin be-
trachtet werden konnte.
In diesem Falle winde das Pericardium um so leichter
ein Anziehungspunkt für den rheumatischen Krank heitspro-
cess, als die Kranke schon im gesimden Zustande an einer
grossen Irritabilität des Herzens litt, welche vorzugsweise
zur Zeit der Catamenien sehr belästigend hervortrat. Die
schnelle, fast plötzliche Entwicklung der Pericarditis nach
dem Aufhören der rheumatischen Glieder schmerzen würde
.113
die älteren Aerzte in diesem Falle zur Annahme einer rheu-
matischen Metastase bewogen haben, während im Gegenthcil
das Verschwinden des Rheumatismus aus den äussern Thei-
len nicht Ursache, sondern vielmehr Folge der Concentration
der Krankheit auf den Herzbeutel war. Ob die Pericarditis
rheumatica bei dieser Kranken ohne alle schlimme Folgen
vorübergegangen, oder ob sie, wie so häufig geschieht und
bei der hier obwaltenden Disposition des Herzens zu vermu-
then sehr nahe liegt, den Grund zu einer organischen Er-
krankung des Herzens gelegt, Hess sich nicht mit Sicherheit
bestimmen. Jedenfalls suchte man den schlimmen Folgen
diu'ch längeres Offenhalten des Vesicators vorzubeugen, welches
sich überhaupt bei rheumatischen Entzündungen, insbesondere
der Bauchmuskeln, nach vorausgeschickten Blutentleerungen
sein* wirksam zeigte. /
Das einzige Mittel, welches im Stande zu sein
scheint, den Verlauf des acuten Rheumatismus abzukür-
zen, ist der, auch im Rheumatismus chronicus mit entschie-
denem Erfolge angewandte Sublimat. In der Poliklinik
wurden vorzugsweise diejenigen Fälle, wo der rheuma-
tische Krankheitsprocess sich auf ein einzelnes Gelenk con-
centrirte , imd bereits längere Zeit andern Mitteln hart-
näckig widerstanden hatte, der Behandlung mit Sublimat un-
terworfen. Mangel aller gastrischen Störungen blieb indess
eine Hauptbedingung, ohne welche die Kur nie unternommen
wurde, weshalb man oft Brech- oder Abführmittel, je nach
den Umständen, voranschicken musste. Kindern gab man
den Sublimat zu bis t Gran, Erwachsenen zu £ bis t
Gran zwei- bis dreimal täglich. Bei einem 23jährigen
Mädchen, welches schon seit vier Wochen an einer heftigen,
mit starkem Fieber vei’bundenen rheumatischen Entzündung
des linken Handgelenks litt, wurde nach vorausgeschickter
allgemeiner und örtlicher Blutentziehung , der äussere Ge-
brauch der grauen Quecksilbersalbe mit dem innem des Su-
blimats (zu t Gr. dreimal täglich zu nehmen) verbunden,
wodurch die Krankheit nach vierzehn Tagen vollständig geheilt
8
114
wurde. In einem andern Falle wurde der Sublimat bei einer
schon fünf Wochen bestehenden rheumatischen Entzündung
des rechten Hüftgelenks angewandt , und brachte in Verbin-
dung mit einem in Eiterung erhaltenen Vesicator nach Mo-
natsfrist die Heilung zu Stande.
Von gleich trefflicher Wirkung zeigte sich der Sublimat
im chronischen R heu m a t i s m u s, namentlich in einigen
Fällen, wo die Brustmuskeln den Sitz desselben abgaben.
Auch das Kali hydriodicum wurde zu wiederholten Malen
mit Erfolg gegen diese Krankheit verordnet: doch wird Nie-
mand, der die Hartnäckigkeit derselben lind die Verhältnisse
der meisten in einer klinischen Anstalt behandelten Patienten
berücksichtigt, sich darüber wundem können, dass die gute
Wirkung der Mittel nicht immer von Bestand war.
Das Jodkali bewährte sich vorzugsweise in denjenigen
Fällen, wo eine entzündliche Affektion der Beinkaut (Pe-
riostitis) angenommen werden musste, mochte diese nun
rheumatischer oder syphilitischer Natur sein. Zuweilen ent-
stand die Periostitis auch ohne alle erkennbaren Ursachen.
Am häufigsten hatte sie im Oberschenkelbeine und zwar in
seinem untern Drittheile ihren Sitz, zunächst im Stirnbein
und in der Crista des Darmbeins. Im ersten Falle kann bei
oberflächlicher Untersuchung eine Verwechslung mit Ischias
statt, finden, allein die Schmerzhaftigkeit beim tiefen bis auf
den Knochen gehenden Druck , die Exacerbation bei jeder
Bewegung, der Mangel vollkommen freier Intervalle dienen
zur Unterscheidung. Meist findet man auch eine grössere
oder geringere Aufwulstung des schmerzhaften Knochens, die
sich vorzugsweise an den platten Schädelknochen leicht ent-
decken lässt. In der Klinik kam die Periostitis oft vor,
und fand im Kali hydriodicum ihr kräftigstes Gegenmittel.
Ehi 39 jähriger Schneider, der seit Jahresfrist an einer Pe-
riostitis des Oberschenkelbeines litt, die, weder auf einer sy-
philitischen noch rheumatischen Basis begründet, den verschie-
densten Heilmitteln, selbst der Application von Moxen Trotz
geboten hatte, wurde durch den Gebrauch von sieben Skrupel
115
Jodkali (6 gr. pro dosi, in destillirtem Wasser aufgelöset, dreimal
täglich genommen) binnen kurzer Zeit vollständig hergestellt.
Auf Krücken gestützt, die leidende Extremität wie eine ge-
lähmte nachschleppend, hatte er in der Poliklinik Hülfe gesucht ;
schon nach dem Gebmuch einer halben Drachme konnte er
frei von Schmerzen schlafen, und vierzehn Tage später war er
im Stande, ohne Hülfe eines Stockes die weitesten Wege
zurückzulegen. Eben so wirksam war das Mittel in den Fällen,
wo das Stirnbein den Sitz der Periostitis abgab. Bei rheu-
matischer Diathese wurde die günstige Wirkung des Jodkali
diu'ch russische Dampfbäder kräftig unterstützt.
Schon bei der Betrachtung der Neuralgieen war von
jenen im Körper herumziehenden schmerzhaften Empfindun-
gen die Eede, welche beim weiblichen Geschlechte durch
Störungen der Catamenien herbeigeführt werden. Todd (in
seinem lehrreichen Werke: Practical remarks on gout, rheu-
matic fever and chronic rheumatism of the joints. London 1843
p. 147 f.) Avill auch diese als rheumatische Affektion be-
trachtet wissen, und bringt sie mit der durch Hemmung
der blutigen Uterinsccretion bedingten Säfteentmischung in
Zusammenhang. Für diese Ansicht spricht noch ein andrer,
dem weiblichen Geschlechte vorzugsweise zukommender Zu-
stand, welcher aus gleicher Ursache hervorgehend entschieden
rheumatischer Natur ist, die sogenannte Ar thri ti s nodosa.
Diese im Allgemeinen nicht häufige Krankheit wurde in der
Klinik viermal beobachtet, dreimal in der Decrepiditätsperiode
bei Frauen von 50, 55 und 64 Jahren, und nur einmal be
einem 23jährigen Mädchen. Der letzte Fall soll, da er als Aus-
nahme zu betrachten ist, und das Bild der Krankheit in einem
ausgezeichneten Grade darbietet, hier näher erörtert werden.
A. B., ein 23jähriges Mädchen, als Kind sich einer un-
getrübten Gesundheit erfreuend, wurde in ihrem eilften Le-
bensjahre von einem heftigen rheumatischen Fieber mit Glie-
derreissen und Steifheit der Extremitätengelenke befallen.
Nach dem \ erschwinden des Fiebers bestanden die übrigen
Symptome mit abwechselndem Steigen und Fallen acht bis neun
8*
1 lß
Monate lang fort. Seit dieser Zeit verging kein Jahr, wo
die Kranke nicht im Frühling oder Herbst von reissenden
Schmerzen in den Gliedern oder schmerzhaften Anschwel-
lungen der Gelenke befallen wurde. Vor sechs Jahren be-
merkte sie zuerst eine sehr empfindliche Auftreibung der
Fingergelenke an der rechten Hand, die allen angewandten
Mitteln zum Trotz fort und fort zunahm und endlich die
auffallende Defiguration der Hand zur Folge hatte, die sich
bei der Untersuchung der Kranken in der Klinik heraus-
stellte. Beide Hände, vorzugsweise indess die rechte, sind
stark nach dem Ulnarrande hinübergebogen, so dass letzterer
mit der Ulna einen stumpfen Winkel bildet, ohne dass dadurch
die Bewegung der Hand nach der Radialseite gehindert würde :
vielmehr kann diese von der Kranken selbst mit Leichtigkeit
ausgeführt werden. Sämmtliche Finger (die Daumen aus-
genommen) folgen der Richtung der Hand, und liegen dach-
ziegelartig übereinander, sind aber mit Ausnahme des Dau-
mens, welcher nicht adducirt werden kann, beweglich. Die
Gelenkenden der Fingerphalangen, so wie auch der Mittel-
handknochen sind angeschwollen und beim Druck ausseror-
dentlich schmerzhaft. Zur Nachtzeit treten heftige Schmerzen
in den leidenden Theilen ein. Bei der Untersuchung der
untern Extremitäten zeigte sich eine empfindliche Auftreibung
am hintern Gelenkende der ersten Phalanx der rechten grossen
Zehe. Klagen über Palpitationen, über heftige Dyspnoe bei
jeder Bewegung und Anstrengung veranlassten eine genaue
Untersuchung des Herzens, welche einen sein* verstärkten
Impuls, und ein den ersten Herzton begleitendes rauhes Af-
tergeräusch ergab. Kopiöse, sauer riechende Schweisse fin-
den sicli in jeder Nacht ein, und der sauer reagirende Urin
lagert dicke rosige Sedimente ab. Die Ivatamenicn waren
bis vor drei Monaten vollkommen regelmässig: seit dieser
Zeit sind sie in Folge einer Erkältung weggeblieben.
Die Ursache, welche dieser Krankheit in der Kegel und
auch bei den drei andern Patienten zu Grunde liegt, Stö-
rungen oder Wegbleiben der Menses, ist in dem mitgetlieilten
117
Falle nicht anzuklagen. Es fand hier vielmehr schon früh-
zeitig die Entwicklung der sogenannten rheumatischen Dia-
these statt, die einer spätem Aussage der Kranken zufolge
überhaupt in ihrer Familie obwaltete. Hierauf müssen die
jährlich wiederkehrenden Anfälle, die sauren Schweisse, die
Beschaffenheit des Urins, endlich auch die Theilnahme des
Herzens bezogen werden. Nach den Resultaten der physika-
lischen Untersuchung muss man in diesem Falle eine Hyper-
trophie des linken Ventrikels verbunden mit Insufficienz der
Mitralklappe annehmen. Ob diese Affektion ihren ersten
Grund in dem vor zwölf Jahren stattgehabten Rheumatismus
acutus gehabt, oder sich erst durch allmählige Einwirkung
der rheumatischen Diathese entwickelt habe, lässt sich hier
nicht mit Bestimmtheit angeben.
Bei einer so weit vorgeschrittenen Desorganisation, wie'
sie die vier in der Poliklinik beobachteten Kranken darboten,
würde jede eine Restitution der Gelenke bezweckende Be-
handlung völlig erfolglos geblieben sein. Die neuesten in
England angestellten anatomischen Untersuchungen dieser
Krankheit haben nachgewiesen, dass nach vorgängiger Zer-
störung der die Gelenkenden der Knochen überkleidenden
Knorpelplatten, die Knochenflächen selbst blossgelegt werden,
und vermöge der anhaltenden gegenseitigen Reibung eine dem
polirten Elfenbeine ähnliche Beschaffenheit annehmen. Schon
hieraus ergiebt sich, wie eitel jedes Bestreben, eine radicale
Heilung herbeizuführen, sein würde. Nicht einmal der in
der Klinik angestellte Versuch, durch Aufpinselungen der Jod-
tinctur die knotigen Anschwellungen der Epiphysen zurück-
zubilden, gelang. Man überliess deshalb die Localaffektion
der Natur, und begnügte sich, diejenigen Mittel zu verordnen,
welche der Allgemeinzustand der Kranken, Complicationen,
u. ö. w. zu erfordern schienen.
2. Arthritis.
In Uebereinstimmung mit der Lebensweise und den
\ erhältnissen der behandelten Kranken kam auch nur dieje-
nige iorm der Arthritis in der Poliklinik zur Beobachtung,
118
welche das Eigenthum schwächlicher, alter Leute und des
weiblichen Geschlechts ist, die Arthritis oedematosa.
Sie erschien in der Regel an den untem Extremitäten, zu-
weilen auch an den Händen als schmerzhafte ödematöse An-
schwellung, ohne die Bewegung der Theile wesentlich zu
beschränken. Nicht selten wurden die Kranken gleichzeitig
durch nächtlich exacerbirende Schmerzen in andern Theilen
belästigt. Charakteristisch war immer das Vorausgehen dys-
peptischer Beschwerden, die beim Eintreten der ödematösen
Anschwellung verschwanden. Der in seinem Aeussern varii-
rende Urin zeigte immer überwiegend saure Reaktion. Ge-
linde Ableitungen auf den Darmkanal und der gleichzeitige
Gebrauch des Sodawassers zu zwei bis drei Gläsern täglich,
genügten in der Regel zur Beseitigung dieses Zustandes,
wenn auch früher oder später eintretende Reciclive dadurch
nicht verhindert werden konnten.
Krankheiten des Nalirungskanals und seiner Anhänge.
1. Entzündliche Affektionen der Mundschleim-
haut gehörten, vorzugsweise bei Kindern, zu den in der
Poliklinik am häufigsten beobachteten Krankheiten. Die ver-
schiedenen Formen der Stomatitis, vorzugsweise die aphthöse,
waren fast tägliche Erscheinungen, während von den wich-
tigeren Affektionen Stomacace nur sehr selten, Noma trotz
der grossen Zahl jährlich behandelter Kinder nur einmal vorkam.
Vieles, was man früher unter der umfassenden Benen-
nung Aphthen zusammengeworfen, ist durch die gründlicheren
Untersuchungen der neueren Zeit als Aeusserimg verschie-
dener Krankheitsprocesse von einander getrennt, und auf eine
passendere Weise geordnet worden. Unter „Aphthen”
darf man jetzt nur noch jene kleinen Bläschen verstehen, die
sich auf rothem Grunde mit einem brennenden Gefühle ent-
wickeln, und wenn sie platzen, kleine rundliche Geschwüre
hinterlassen. Diese Form, die auch den Namen Stomatitis
aphthosa führt, unterscheidet sich nur durch die Bläschen -
bildung von der einfachen Stomatitis, welche sich lediglich durch
dunkle Röthe und grosse Schmerzhaftigkeit der Schleimhaut
kund giebt, im Ganzen aber selten vorkommt. Wahre Pu-
steln sieht man wohl nur im Laufe der Variola auf der
Mundschleimhaut entstehn.
Während die Stomatitis aphthosa vorzugsweise Kinder
vom zweiten, dritten Jahre an befällt, hebt die exsudative
Form, der Soor (Muguet der Franzosen), ein noch zarteres
Alter. Diese Krankheit, deren Symptome allgemein bekannt
sind, und von der hier nur bemerkt werden soll, dass die
charakteristischen Exsudate sich oberhalb des Schleimhaut-
120
epitheliums, nicht unterhalb desselben, befinden, steht in der
Kegel mit einer kachektischen Körperbeschaffenheit, oder
schlechter Blutmischung in Verbindung, ergreift vorzugsweise
Kinder, die in schlechter Luft und engen Käumcn leben. Auch
beschränken sich die Exsudate nicht immer auf die Mundhöhle,
sondern erstrecken sich oft weit nach hinten, bis in den Pharynx,
seltener in den Larynx hinein, wo sie dann die in der neueren
Zeit unter dem Namen „Diphtheritis” beschriebene Krankheit
darstellen. Einer der klinischen Zuhörer, Herr La Pierre
untersuchte mittelst des Mikroskops die Exsudate, und erhielt
dabei folgendes Resultat : Der weisse Belag der Mundschleim-
haut liess sich schwer mit dem Spatel entfernen und bildete
fest zusammenhängende, wie Hautfetzen aussehende Massen.
Unter dem Mikroskop zeigte er sich bestehend aus vielen
Epitheliumblättchen, aus den von Vogel (Allg. Zeitung für
Chirurgie 1831. Nr. 23 — 25) entdeckten gegliederten Faden-
pilzen, die an den Enden kolbig anschwellen, und aus den
runden Sporen. Eigenthiimlich war , dass sich in dieser
weissen Masse keine Exsudatkörperchen fanden, deren fau-
lige Zersetzung fast stets der Pilzbildung in pathologischen
Secreten vorangeht, so dass man hier annehmen muss, die
Pilzbildung finde statt begünstigt durch den zu stark abge-
sonderten und faulig zersetzten Epitheliumschleim. Es schien
ferner, als ob der abgesonderte faulige Epitheliumschleim
seine eigentümliche häutige Beschaffenheit den nach allen
Richtungen eingewebten Pilzfäden verdanke. Dass der Epi-
theliumschleim zersetzt und verändert war, erkannte man
aus dem gekörnten, fäcettirten, zerfallenen Aussehn der ihn
bildenden Zellen.
Die verderblichsten Affektionen der Mundschleimhaut im
kindlichen Lebensalter sind jedoch die gangränösen, die ent-
weder in Form der Stomacace oder der Noma auftreten. Die
Stoma ca ce geht in der Regel vom Periosteum des Alveo-
larrandes aus, ergreift zunächst das Zahnfleisch, dann den
Knochen selbst, und bewirkt das Ausfallen des entsprechen-
den Zahns. Diese Form ist bei weitem gutartiger als die
121
N o m a, welche auf der Schleimhaut der Wange als ein asch-
grauer Fleck beginnt, der wegen der geringen Beschwerden,
die er erregt, gewöhnlich ganz übersehn wird. Meist wird
der Arzt erst dann hinzugerufen, wenn der Reflex des Lei-
dens bereits auf der äussern Haut der Wange sichtbar wird.
Diese nämlich schwillt an, wird härtlich, zeigt eine blasse,
livide Röthe , und einen eigentliümlichen fettigen Glanz.
Bald aber erscheint auf dieser Fläche ein schwarzer brandi-
o-cr Fleck, das Zeichen der bevorstehenden Perforation
der Wange. Diese Afiektion, welche sich leicht mit gastri-
schen Störungen, namentlich mit profusen Durchfällen, selten
mit einem typhösen Fieber complicirt, richtet oft die furcht-
barsten Verheerungen im kindlichen Antlitze an. Selbst die
Knochen bleiben nicht verschont, und alle Theile zergehen
unter Erzeugung eines dem faulenden Wildprett ähnlichen
Gestankes in eine bröckliche, braune Masse. Zuweilen ge-
sellen sich noch gangränöse Affektionen andrer Körpertheile
zur Koma hinzu ; so ergreift die Sepsis bei weiblichen Kin-
dern, namentlich in Findelhäusern, zuweilen gleichzeitig die
Schleimhaut der Genitalien. Noma erscheint bekanntlich oft
nach exanthematischen Fiebern, Masern, Scharlach, wenn sie
kachektische , in ungünstigen V erhältnissen lebende Kinder
ergreifen; doch tritt sie auch zuweilen als Folgekrankheit
typhöser Fieber auf. In höheren Ständen ist sie sehr selten.
Die in der Klinik übliche Behandlung der Stomatitis
richtete sich theils nach den Complicationen, theils nach dem
constitutioneilen Befinden des erkrankten Kindes. Der dicke,
weissgelbe Ueberzug der Zunge in solchen Fällen scheint
zwar immer den Verdacht auf eine bedeutende gastrische
Complication hinzulenken, allein man weiss, dass die Schleim-
haut der Zunge bei allen Affektionen in der Mundhöhle von
dem einfachen Zahngeschwür an bis hinauf zum Ptyalismus
mercurialis einen solchen Belag darzubieten pflegt. Dennoch
lässt sich nicht läugnen, dass in der That gastrische Be-
schwerden sehr oft die Quelle dieser Mundaffektion bilden,
und deshalb sind in frischen Fällen Emetica, und darauf
122
folgende gelinde Abführmittel ganz an der Stelle. Am besten
eignen sich hiezu OL Ricini oder Infus. Sennae comp, mit
Vermeidung der reinen Salina, die beim Einnehmen die Rei-
zung der Mundschleimhaut nur noch steigern. Oertlich suchte
man durch Bepinselung der kleinen Geschwüre Linderung
zu verschaffen. Der Borax, der in dieser Beziehung eines
so grossen Rufes geniesst, leistet in hartnäckigen Fällen fast
gar Nichts: dagegen zeigten sich das Cuprum sulphuricum
(5 Gr. auf 3ß Mel rosatum) oder das Acidum muriat. in
Verbindung mit Honig sehr wirksam. Pinselungen mit Cu-
pruin sulphuricum empfehlen sich vorzugsweise bei ausge-
dehnter Stomatitis ulcerosa, wo die geschwürige Fläche ge-
wöhnlich mit einem weissgrauen Exsudate bedeckt, der Athem
sehr übelriechend , die Speichelabsonderung profus, und die
Unterkieferdrüsen mehr oder weniger angeschwollen sind.
Gleichzeitig kann man den Mund mit folgender Mischung
ausspülen lassen: fy: Aq. oxymuriat., Mel. commun. ää jij.
M. D. S. einen kleinen Esslöffel in einer Tasse lauwarmen
Wassers zum Ausspülen des Mundes.
Von der grössten Wichtigkeit ist jedoch die Berücksich-
tigung der Constitution des kleinen Kranken, wonach die
Behandlung hauptsächlich modificirt werden muss. In veral-
teten Fällen, vorzugsweise bei schwächlichen, kachektischen
Individuen, hat man sich vor der Anwendung der Emetica
und Purgantia wohl zu hüten. Das Heil des Kindes beruht
hier einzig und allein auf dem Gebrauch der roborirenden
Methode. In solchen Fällen bewirkt oft ein saturirtes Decoct.
Cort. Chinae in Verbindung mit einer nahrhaften Diät, Bä-
dern u. s. w. die Heilung einer Stomatitis, die lange Zeit den
gepriesensten Mitteln hartnäckig Widerstand geleistet hatte.
Besonders gilt diese Regel für die Behandlung des Muguet,
und der folgende Fall mag dazu dienen, den schnellen Erfolg
der roborirenden Methode darzuthun.
Ein halbjähriges Kind, im hohen Grade abgemagert,
welk und entkräftet, litt seit acht Tagen an einem mässig
starken Durchfall, wobei die Umgegend des Äffers stark
123
geröthet erschien. Weichheit und Schmerzlosigkeit des Un-
terleibs, Mangel des Erbrechens und des Durstes Hessen
den Verdacht eines entzündhchen Darmleidens nicht auf kom-
men. Auf der massig gerötheten Schleimhaut der Wangen
und der Zunge, besonders an den Rändern der letzteren,
zeigten sich zahlreiche Flecke des Soors. Durch eine näh-
rende Diät, Kalbfleischbrühe, kleine Gaben von Wein, und
durch den Gebrauch eines Decoct. Cort. Chinae aus £ij auf
3iij mit j5iij Mucil. Salep. waren nach vierzehn Tagen der
DurchfaH und die Mundaflektion gänzhch geschwunden, und
die Behandlung wurde nur, um die Constitution des Kindes
überhaupt zu kräftigen, noch eine Zeitlang fortgesetzt.
Bei einem zweijährigen Mädchen bildete sich der Soor
schnell auf der innern Fläche der Lippen und der Zunge,
nachdem ein längere Zeit bestehender Durchfall gestopft
worden war. Ein ähnhches Verhältniss findet sich auch bei
Erwachsenen, die nach schnell unterdrückter Dysenterie zu-
weilen von einer exsudativen Entzündung der Mundschleim-
haut befallen werden. In diesem Falle musste die Behand-
lung, weit entfernt zu roboriren , vielmehr mässig auf den
Darmkanal abzuleiten suchen. Das zu diesem Zweck ver-
ordnete Ricinusöl, und die äussere Anwendung eines Pinsel-
safts aus 3ß Zinc. sulphur. und Mel rosat. brachte in
kurzer Zeit die Heilung zu Stande. Aehnhch war der Fall
eines sechs Monate alten Kindes, welches durch den innern
Gebrauch des Acidum muriaticum von einer starken Diarrhoea
aestiva befreit worden war. Ein paar Tage später entwickelte
sich der Muguet, der selbst Pinselsäften aus Zinkvitriol und
Salzsäure hartnäckigen Widerstand leistete. Erst dem wie-
derholten Bestreichen mit einer Auflösung des Höllensteins
(5 Gr. in 3ß Wasser) gelang es, die Heilung herbeizu-
führen.
In manchen frischen, aber doch hartnäckigen Fällen der
Stomatitis aphthosa und ulcerosa, wo die nach oben und un-
ten entleerende Methode keinen schnellen Erfolg hatte, beob-
achtete man von den Säuren, insbesondere vom Acidum mu-
124
riaticum, dieselben trefflichen W irkungen wie bei ekzematösen
Affektionen der äussem Haut.
In der Behandlung der so häufig vorkommenden catar-
rhalischen Angina tonsillaris suchte man den in der Praxis
mit der Application der Blutegel getriebenen Missbrauch so
viel als möglich zu beschränken. Die Erfahrung hat die Un-
wirksamkeit der topischen Blutentleerungen in dieser Krank-
heit hinlänglich bewährt, die nur bei der wahrhaft inflamma-
torischen, mit starkem Fieber verbundenen Angina, oder bei
der scarlatinösen mit Erfolg angewendet werden. In den
übrigen Fällen sind warme Kataplasmen des Halses, anhal-
tend fortgesetzt, bei weitem vorzuziehen, und auch beim
Mangel gastrischer Complication dient ein starkes Emeticum
zur Abkürzung des Verlaufs.
Erwähnung verdient hier ein F all von Angina p h 1 y c t a e-
nosa, der bei einem jungen Manne nach der durch Chinin
bewirkten Heilung eines Wechselfiebers vorkam. Der tveiche
Gaumen und die Schleimhaut der Mandeln waren bei sehr
imbedeutender Röthe mit einer grossen Menge kleiner Bläs-
chen besetzt, welche, ohne Anschwellung der Theile, beim
Schlucken die heftigsten Schmerzen erregten. Man konnte
die Affektion mit gutem Recht als ein Ekzema pharyngis
bezeichnen, und die Annahme einer kritischen Bedeutimg,
ähnlich der des Herpes labialis, liegt in diesem Falle ziemlich
nahe. Mit Alaun versetzte Gurgelwasser, später das Ver-
schlucken des fein gepulverten Alauns bewirkten endlich
Heilung, nachdem die Affektion einige Wochen hindurch
verschiedenen Mitteln Trotz geboten hatte.
Gegen die als Symptom der secundären Syphilis auf-
tretende Angina wurde das Kali hydriodicum in steigender
Dosis mit Erfolg angewendet. Bei einem 40jährigen Manne
beobachtete man eine harte, knotige Degeneration der Uvula
und des Gaumensegels mit Ulceration der Tonsillen. Scro-
phulöse Diathese war nicht zu verkennen, hartnäckige primäre
syphilitische Geschwüre vor Jahresfrist vorangegangen. In
diesem Falle bediente man sich neben dem iimem Gebrauche
125
des Jodkali’s der Aufpinselungen der verdünnten Jodtinctur
auf die entarteten Theile. Unmittelbar nach der Pinselung
empfand der Kranke immer lebhafte Schmerzen : allein schon
nach der dritten Application war die Uvula bedeutend ver-
kleinert, die Ulcerationen verschwunden, und eine gesunde
Köthe an die Stelle der frühem lividen Färbung getreten.
Leider konnte, da der Kranke Berlin verliess, der Fortschritt
der Kur nicht weiter verfolgt werden. In einem zweiten
ähnlichen Falle, der eine 32jährige Frau betraf; wurde durch
dieselbe Behandlung vollständige Heilung erzielt.
2. Der Oesophagus war in zwei Fällen Sitz einer
scirrhösen Degeneration. Beide Kranke, Männer zwi-
schen 40 und 50 Jahren, Schuhmacher von Profession, konnten
genau die Stelle angeben, an welcher der verschluckte Bissen
stecken blieb. Quälende Schmerzen im Schlunde und saures,
schon während des Essens oder unmittelbar nach demselben
eintretendes Erbrechen, sowie schnelle und starke Abmagerung
wurden in beiden Fällen beobachtet. Als Ursache liess sich
bei beiden ein Abusus spirituosorum auflinden, doch ist zu be-
merken, dass der zweite Kranke auch auf der linken Wange
ein hartnäckiges, nach der Beschreihung carcinomatöses Ge-
schwür gehabt hatte, nach dessen Vernarbung die von einer
Krankheit der Speiseröhre herrührenden Zufälle mehr und
mehr hervorgetreten waren. Im ersten Falle befand sich die
unmittelbar über der Cardia hegende Portion des Oesophagus
in einer Strecke von etwa anderthalb ZoU scirrliös degenerirt
und das Lumen der Speiseröhre beträchtlich verengt, da
Erweichung noch nicht eingetreten war. Bei dem zweiten
Kranken hatten die heftigen Schmerzen im Schlunde, sonne
das Erbrechen einige Monate vor dem Tode ganz aufgehört ;
an ihrer Stelle war aber ein unaufhörlicher quälender Husten
eingetreten, mit welchem, namentlich gegen das Ende der
Krankheit, stinkende schwärzliche Stoffe ausgeworfen wurden.
Bei der Leichenöffnung fand sich eine scirrhöse Geschwulst,
welche das ganze obere Drittheil der Portio thoracica des Oeso-
phagus einnahm , und sowohl mit der Wirbelsäule, wie mit
126
dem obern Lappen der rechten Lunge sehr fest verwachsen
war. Das Lumen der Speiseröhre war an der Stelle der
Entartung keineswegs verengt, vielmehr weiter als im Nor-
malzustände, da sich im Innern bereits Exulceration gebildet
hatte: von dem hier bestehenden carcinomatösen Geschwür
erstreckte sich ein schmaler Fistelgang bis in die Substanz
des obem Lappens der rechten Lunge, der zu einer nahe der
Lungenspitze liegenden und mit carcinomatöser Jauche an-
gefüllten Höhle von der Grösse einer welschen Nuss führte.
Ueberhaupt zeigte das Parenchym der ganzen rechten Lunge
eine jauchige, bei jedem Einschnitt aus der Schnittfläche her-
vorquellende Lifiltration. Die Communication der rechten
Lunge mit dem carcinomatösen Theile des Oesophagus er-
klärt hinlänglich den andauernden , mit fötidem Auswurf
verbundenen Husten, -welcher die letzten Monate des Un-
glücklichen verbittert hatte. Wider Y ermuthen fand man aber
an der sehr verengten Cardia selbst eine zweite scirrhöse
Degeneration, welche mit einem wallnussgrossen, auf der un-
tern Fläche des kleinen Leberlappens aufsitzenden Scinims
fest verwachsen war. Auch am obem Rande des Pancreas-
körpers zeigte sich eine steinharte Wucherung von der Ge-
stalt und Grösse einer Haselnuss. Auffallend bleibt bei
diesem Kranken immer der vollkommene Nachlass der Schmer-
zen und des Erbrechens zwei bis drei Monate vor dem
Tode ; denn die Bildung einer Communication mit der Limge
kann nicht dazu beigetragen haben, die von der Entartung
der Speiseröhre herrührenden Symptome zu mildern; imd
wollte man dies auch annehmen, so bleibt doch immer noch
die Degeneration der Cardia und des kleinen Leberlappens,
welche das plötzliche Verschwinden der qualvollsten Zufälle
unerklärlich macht. Diese Beobachtung ist um so wichtiger,
als man nach Rokitansky den Krebs des Oesophagus nur
selten mit Krebs in andern Organen complicirt findet.
3. In denjenigen Fällen, wo man einen entzündli-
chen oder gar ulcerösen Process auf der Magenschleim-
haut selbst anzunehmen berechtigt war, wurde mit Hintenan-
*
127
setzung der pharmaceutiscken Behandlung vorzügliches Ge-
wicht auf die diätetische gelegt. Die Wirksamkeit der Milch-
kur war nicht immer blos palliativ, sondern hat, wie man
annehmen darf, in einem Falle auch radicale Heilung zu Stande
gebracht. Die betreffende Kranke war eine junge früher ge-
sunde Frau, die seit Jahresfrist an heftigen, anfallsweise auf-
tretenden und beim äussern Druck bedeutend zunehmenden
Schmerzen in der Magengegend, gänzlichem Appetitmangel,
und an einem bald nach dem Genüsse von Speisen eintreten-
den Erbrechen litt. Diese Symptome, im Verein mit der
sehr gesimkenen Reproduktion der Kranken, deuteten auf eine
wichtige Krankheit der Magenschleimhaut, und demgemäss
wurde bei gleichzeitigem Gebrauch schmerzstillender Mittel
die Diät in der Art bestimmt, dass die Kranke zum Früh-
stück nur Milch, Mittags nur Milchspeisen, und Abends wie-
derum nur eine Milch suppe gemessen durfte. Der gute Wille
der Kranken kam den ärztlichen Verordnungen zu Hülfe,
und auf diese Weise gelang es, die Frau nach Verlauf eines
halben Jahres so vollständig herzustellen, dass nicht allein
keine Spur der frühem Krankheit mehr übrig ist, sondern
auch Körperfülle und blühende Gesichtsfarbe für das Gelin-
gen der Kur ein erfreuliches Zeugniss ablegen. Aber selbst
da, wo bereits eingetretene Desorganisation des Magens
und der nahehegenden Theile den Gedanken einer gründli-
chen Heilung verbannten, hatte die Anwendung der Milchkur
doch wenigstens einen temporären Erfolg, indem sie nicht
allein die Schmerzen und das Erbrechen linderte, sondern
zuweilen auch die Reproduktion auffallend verbesserte. Diese
gute V irkung zeigte sich vorzugsweise bei einem 35 jähri-
gen, seit drei Jahren an allen Symptomen einer organischen
Krankheit des Pylorus leidenden Schuhmacher. Während
des vierrnonatlichen Gebrauchs der Milchkur hatten Schmer-
zen und Erbrechen ganz aufgehört, das Antlitz ein gesun-
deres Colorit angenommen, der abgemagerte Körper an Fülle
bedeutend gewonnen. Nur das Fortbestehn der palpabeln
Geschwulst in der Magengegend verscheuchte jede Hoffnung
128
auf einen günstigen Ausgang, und nach dem ein halbes Jalu-
später unter grossen Qualen im Charite-Krankenhause erfolg-
ten Tode fand man die Pars horizont. super, des Zwölffinger-
darms in der Nähe des Pylorus im Zustande scirrhöser,
theilweise schon verjauchender Entartung, den Magen selbst
zu einem enormen Umfange erweitert.
4. Ha ematemesis wurde auch unabhängig von einer
organischen Magenkrankheit nicht selten beobachtet. In meh-
reren Fällen liess sich ein Schlag oder Stoss auf die Milz-,
Magen- oder Lebergegend als Causalmoment der Blutung
ermitteln, seltener Suppression der Catamenien mit schmerz-
hafter Anschwellung der Milz. In Verbindung mit einer
energischen Antiphlogose, allgemeinen und örtlichen Blutent-
leerungen, wurden solche Mittel in Gebrauch gezogen, deren
Wirkungen mit dem Heilbestreben der Natur selbst überein-
stimmen und das in den Magen und Darmkanal ergossene
Blut auf eine milde Weise entleeren. Dieser Zweck wird
vorzugsweise durch säuerliche Abführmittel, am besten durch
die Pulpa Tamarindorum, oder das mit Weinsteinsäure ver-
setzte Elect. lenit. erreicht in der vom verewigten Heim ein-
geführten Formel: Electuar. lenitiv ^ j, Sal. essent. Tart.
3ß, Aq.. commun. ^ij, Sacch. alb. ^ß. M. D. S. zweistündlich
einen Esslöffel zu nehmen.
5. Entzündliche Affektionen der Magen- und
Darmschleimhaut wurden sowohl im acuten, wie im chroni-
schen Zustande, besonders im kindlichen Alter beobachtet-
Die acute Gastro - enteritis , für deren Unterscheidung von
minder gefährlichen Zuständen des Darmkanals das Vorhan-
densein oder der Mangel eines heftigen Durstes wohl zu
berücksichtigen ist, suchte man durch Blutentleerungen, Ivata-
plasmen und den innern Gebrauch schleimiger Mittel, am
besten einer einfachen Emulsio oleosa zu bekämpfen. Der
Aelmlichkeit der Symptome wegen mag auch die Gastro-
malacie an dieser Stelle erwähnt werden, wenngleich der
ihr zu Grunde liegende Krankheitsprocess nicht imbedingt
zu den entzündlichen gerechnet werden darf. Die Erweichung
129
des Magengrundes wurde zuweilen gefunden, wo während
des Lebens kein einziges Symptom auf die Entwicklung der-
selben lungedeutet hatte. In der Regel fand dann aber eine
Complieation mit einer wichtigen Krankheit des Gehirns oder
der Lungen statt. Auch konnte sich die Krankheit erst in
den letzten Lebensstunden ausgebildet haben. In fünf Fällen
hatte man Gelegenheit, die während des Lebens gestellte
Diagnose durch die Section zu bestätigen. In der Regel
trat (he Krankheit bei aufgefütterten Kindern im Alter von
sechs bis acht Monaten auf, nur in einem Falle zeigte sie
sich bei einem erst sieben Wochen alten Kinde, welches drei
Wochen die Mutterbrust bekommen hatte, und dann aufge-
füttert worden war. Die Symptome waren in allen Fällen
die nämlichen, Erbrechen, starker Durchfall, intensiver Durst,
so dass die Kinder den gierigen Blick von dem Gefässe,
worin das Getränk enthalten war, kaum ab wendeten. Am
wichtigsten war jedoch die auffallend schnelle Abmagerung,
so dass durch das Y erschwinden des in den Augenhöhlen be-
findlichen Fettes die Augen tief in dieselben zurücksanken,
sich mit einem dunkeln bleifarbenen Ringe umgaben, und
dadurch den der asphyktischen Cholera der Kinder eigenen
Ausdruck bekommen hatten. Dazu kam noch die trockne,
spröde Beschaffenheit der Haut, die sich am Bauche wie ein
Stück Tuch in grossen Falten aufheben liess, Kälte der Hände,
der Ftisse, der Wangen und Nasenspitze. In allen Fällen
war ein comatöser Zustand mit Aufwärtsrollen des Augapfels
damit verbunden, und nach vier- bis achttägiger Dauer der
Krankheit erfolgte der Tod gewöhnlich in einem Anfalle von
Convulsionen. Complieation mit Hautausschlägen, Strophu-
lus, Ekzema, Ekthyma wurde beobachtet: in einem Falle war
gleichzeitig Soor der Mundschleimhaut vorhanden. Die
Section ergab in drei Fällen die bekannten Erscheinungen
der gallertartigen Erweichung des Magengrundes, der schon
bei leiser Berührung einriss. Obwohl sämmtliche Magen-
häute bis auf das Peritonäum in den Erweichungsproeess
hineingezogen waren, liess sich doch in keinem Falle eine
9
130
spontane Perforation wahrnehmen. Im vierten Falle zeigte
sich die zweite von Rokitansky beschriebene Form der
Krankheit, die sich durch eine mehr oder weniger dunkle
Färbung der erweichten Theile auszeichnet. Der Magen
enthielt eine dunkelbraune, dem Kaffeesätze ähnliche Flüssig-
keit, die Schleimhaut war fast in ihrem ganzen Umfange zu
einem Brei erweicht, der im Fundus an mehreren Stellen mit
Blutextravasaten vermischt war. Die übrigen Häute des Ma-
gens hatten an der Desorganisation noch keinen Theil genom-
men. Im fünften Falle endlich bot der Magen selbst gar
keine krankhafte Veränderung dar, dagegen bildete die
Schleimhaut des Jejunum den Sitz der Erweichung. Auch
bei einem der an gallertartiger Gastromalacie gestorbenen Kinder
fanden sich auf der Schleimhaut der Flexura sigmoidea kleine
oberflächliche Geschwüre, die offenbar einer Verschwärung
der Schleimdrüschen ihre Entstehung verdankten (Colitis fol-
licularis). Dieser Befund erklärte den während des Lebens
beobachteten heftigen Tenesmus, welcher in den gewöhnlichen
Fällen der Gastromalacie nicht vorkommt.
Fast noch häufiger als die acute, wurde die chroni-
sche Entzündung der Magen- und besonders der Darm-
schleimhaut im kindlichen Alter beobachtet. In den meisten
Fällen hatte sich bereits bei der ersten Vorstellung der' Kin-
der Phthisis intestinalis und hydropische Ansammlung im
Unterhautzellgewebe oder auch in der Bauchhöhle gebildet.
Die schnelle Zunahme der hydropischen Erscheinungen beim
Nachlass der stets vorhandenen profusen Durchfälle machte
Vorsicht in der Behandlung der letzteren nötliig. Aus die-
sem Grunde wurde mit Verwerfung derjenigen Mittel, welche
schnelle Suppression der Diarrhoe herbeizuführen pflegen, in
sehr vielen Fällen eine Auflösung des Argentum nitrieüm
verordnet, ein Mittel, welches wegen seiner milden, allmähli-
gen und sichern Einwirkung in den angegebenen Fällen vor
allen andern den Vorzug verdient. Die im Klinikum übliche
Formel für das kindliche Alter in den ersten Lebensjahren
ist: Ik Argent. nitr. cryst. gr. ß solve in Aq. destill. q. s.,
131
Dec. Rad. Salep 5ÜJ, Syr. Diacodii ^ß. M. D. S. vier Mal
täglich einen Kaffee- bis Kinderlöffel voll zu nehmen. Auch
gegen die bei Intestinalphthisis der Erwachsenen vorkommen-
den Durchfälle wurde die Auflösung des Höllensteins mit
günstigem Erfolge angewendet, so wie überhaupt gegen alle
hartnäckigen Diarrhöen namentlich des kindlichen Alters,
die frei A-on Complicationen mit gastrischen Zuständen wa-
ren. In einer grossen Reihe sowohl frischer, wie veralteter,
mit den verschiedensten Mitteln erfolglos behandelter Fälle
hat sich das salpetersaure Silber so trefflich bewährt, dass
seine Anwendung nicht dringend genug empfohlen werden
kann.
Als eine der häufigsten Folgen erschöpfender Durch-
fälle bei Kindern, zumal solchen, die in ungünstigen Ver-
hältnissen, in feuchten Kellern leben, zeigte sich eine öde-
matöse Anschwellung der untern Extremitäten, welche am
wirksamsten durch die Verbindung der roborirenclen mit der
diuretischen Methode bekämpft wurde. Zu diesem Zwecke
Avurde gewöhnlich ein saturirtes Decoct der Chinarinde mit
Roob Juniperi verordnet.
Die in der wärmeren Jahreszeit gleichzeitig mit andern
Krankheiten biliösen Ursprungs auftretenden Diarrhöen wi-
chen in der Regel dem Gebrauch des Acidum muriaticum,
bei Kindern zu 2 — 5 Tropfen, versetzt mit Mucil. Gij mirnos.,
eines Mittels, welches auch bei höheren Graden der Krank-
heit, in der Cholera aestiva seine treffliche Wirkung bewährte.
Doch sah man sich in mehreren Fällen der letztgenannten
Krankheit bei unfühlbarem Pulse, Kälte der Nasenspitze und
der Zunge, und äusserster Erschöpfung der Lebenskräfte ge-
nöthigt, sogleich zum Opium seine Zuflucht zu nehmen, wel-
ches A'orzugSAveise in Verbindung mit einem Infus. Rad. Ipe-
cacuanhae niemals in Stich liess.
Bei der sogenannten Febris remittens der Kinder
mit Appetitlosigkeit, Neigung zur Stuhlverstopfung, Leib-
schmerzen, abendlichen Fieberbewegungen bediente man sich
oft mit gutem Erfolge der englischen Methode: Abends gab
9*
132
man '2 Gran Calomel , Morgens 1 — 2 Löffel Infus. Sennae
comp., worauf täglich 2 — 3 grüne Stühle eintraten, und bal-
dige Besserung erfolgte.
6. Die in der Klinik beobachteten Fälle von acuter
Peritonitis boten keine besonders hervorzuhebenden Er-
scheinungen dar. Einer der wichtigsten Fälle, wo eine schnell
tödtliche Peritonitis durch Ruptur eines hydatidösen Eier-
stocks entstanden war, wird weiter unten mitgetheilt werden.
Erwähnung verdient noch der Fall eines an Chorea leiden-
den neunjährigen Mädchens, welches am Abende des sechsten
Tages nach Eintritt der Peritonitis unterlag. In diesem Falle,
wie überhaupt in der Peritonitis der Kinder, zeigte sich
recht deutlich der Unterschied des entzündlichen Schmer-
zes vom neuralgischen. Während die von Kolik befalle-
nen Kinder sich im Bette herumwälzen, und schreien, ver-
harren die an Peritonitis leidenden unverrückt in derselben
Lage, gewöhnlich auf dem Rücken, und stossen nur von
Zeit zu Zeit einen kurzen, sogleich in leises Gewimmer über-
gehenden Schrei aus, indem die durch das Schreien verur-
sachte Spannung der Bauchmuskeln dieselbe Wirkung auf
das entzündete Bauchfell hervorbringt, wie äusserer Druck
oder starke Bewegungen des Körpers. Obwohl bei diesem
Kinde während des Lebens alle Symptome einer über den
ganzen Umfang des Bauchfells verbreiteten Peritonitis vor-
handen waren, zeigten sich doch bei der Section nur diePli-
cae semilunar. Douglasii als Sitz der Entzündung : dieselben
erschienen dunkel geröthet und enthielten eine nicht unbe-
trächtliche Quantität dicken, gelben Eiters. Der übrige
Thcil des Peritonäums hatte, ohne Strukturveränderungen
darzubieten, seine Theilnahme durch reichliche Absonderung
einer klaren serösen Flüssigkeit kund gegeben. — In der
Behandlung der acuten Peritonitis wurde nächst den allge-
meinen und örtlichen Blutentleerungen das meiste Gewicht
auf warme Fomentationen des Unterleibs, am besten mit ei-
nem KamiUenaufgusse , gelegt, welche Tag und Nacht un-
ausgesetzt gemacht werden müssen.
133
Die chronische Peritonitis der Kinder wurde meist
in Verbindung mit einem tuberculüsen Leiden der Lungen,
der Bronchialdrüsen, der Milz und Gekrösdrüsen beobachtet.
Ihre wesentlichen Symptome waren Schmerzhaftigkeit des
Bauches, dumpfer Ton bei der Percussion, nicht selten deut-
liche Fluctuation im Unterleibe; sehr bemerkenswert!! ist
noch das Schreien und schmerzhafte Verziehen des Gesichts
beim Stuhlgange, ein Symptom, welches sich leicht daraus
erklärt, dass die Austreibung der harten Faeces stärkere pe-
ristaltische Bewegungen der Därme erfordert, die wegen der
theilweisen Verwachsung der Darmschlingen unter einander
schmerzhaft sein müssen. In der Pegel ist Stuhl Verstopfung
zugegen, und begleitende Durchfälle müssen immer den V er-
dacht eines gleichzeitigen Erkrankens der Darmschleimhaut
erregen. Dies war z. B. bei einem dreijährigen, äusserst abge-
zehrten Knaben der Fall, welcher neben den angeführten
Symptomen der chronischen Peritonitis (nur die Fluctuation
im Unterleibe war nicht wahrnehmbar) noch an profusen
Durchfällen, Anasarca und quälendem Husten litt. Die Lei-
chenöffnung ergab eine weit vorgeschrittene Tuberculose
der Limgen und Bronchialdrüsen , eine an vielen Stellen in
Ulceration übergegangene Entzündung der Schleimhaut des
Ileum und chronische Peritonitis, welche eine vollkommene
Verwachsung der Leber und Milz mit den Bauchdecken,
Verdickung des serösen Ueberzugs der Milz, und Verwach-
sung des Netzes mit der Bauchwand und den Därmen her-
beigeführt hatte. In sämmtliche Adhäsionen waren zahlreiche
Tuberkel eingesprengt, die Mesenterialdrüsen angeschwollen
und von Tuberkelmaterie durchdrungen. Die chronische Pe-
ritonitis der Kinder ist überhaupt in den meisten Fällen tu-
berculöser Natur, und erfordert daher die Verbindung der
topischen mit einer gegen das Allgemeinleiden gerichteten
Behandlung. Mässig angestellte, aber wiederholte örtliche
Blutentleerungen, Einreibungen der grauen Salbe oder einer
Mischung dieser mit dem Unguent. Kali hydrojod. entspra-
chen der ersten Anzeige ; lauwarme Bäder , der Gebrauch
«
134
des Leberthrans und anderer gegen die scrophulöse Dyscrasie
gerichteter Mittel der zweiten. Von günstiger Wirkung zeigte
sich insbesondere eine Mischung, welche von unserm verewig-
ten Heim gegen die beginnende Tabes mesenterica der Kin-
der empfohlen worden ist. Ijc Kali acetici — ij, Extr. Conii
macul. gr. iv, Aq. commun. ^iij, Syr. Papaver. 3 j-> M. D. S.
viermal täglich einen Kinderlöffel. Auf diese Weise gelang
es in mehreren Fällen, wo die Annahme einer Peritonitis tu-
berculosa vollkommen gerechtfertigt war, vollständige Heilung
herbeizuführen. Ein dreijähriges, früher an Rhachitis behan-
deltes Kind klagte seit vier Wochen über Schmerzen im Un-
terleibe, die beim Stuhlgange bedeutend Zunahmen. Neigung
zur Obstructio alvi war vorhanden, der Leib aufgetrieben,
gegen Druck empfindlich, etwas fluctuirend, Am 16. Fe-
bruar 1844 wurde die Kur mit topischen Blutentleerungen,
Einreibungen der Jodsalbe, lauwarmen Bädern und dem in-
nern Gebrauche der oben mitgetheilten Mischung begonnen.
Am 7. März war noch keine günstige Veränderung einge-
treten, vielmehr hatte die Abmagerung noch zugenommen,
die Urinsecretion war sparsamer, die Fluctuation im Unter-
leibe deutlicher geworden. Da jedoch die Schmerzhaftigkeit
merklich nachgelassen hatte, so suchte man jetzt durch An-
treibung der Diurese die Resorption der angesammelten
Flüssigkeit zu befördern. Es wurde demgemäss zum innem
Gebrauche ein Infus. Hb. Digital, mit Kali acet. imd Tinct.
Scillae kalina, zum Einreiben in den Unterleib eine Emul-
sion aus Ol. Terebinth. 5 j, Vitell. Ovi uuius, Aq. commun.
5viij verordnet. Durch diese Behandlung gelang es, bis zum
15. Mai die hydropische Ansammlung im Unterleibe vollstän-
dig zu beseitigen. Urin wurde reichlich und von normaler
Beschaffenheit entleert. Stuhlgang erfolgte regelmässig und
ohne Schmerzen. Doch war der Unterleib immer noch auf-
getrieben und schmerzhaft. Man begann jetzt die Einrei-
bungen der Jodsalbe von neuem, und verband damit den
Gebrauch des Ol. Jecor. Aselli, wodurch im Laufe des
Sommers vollständige Heilung herbeigeführt wurde.
135
Die eben mitgethcilte Formel wurde auch solchen Kin-
dern verordnet, bei jlenen man eine beginnende Tubercu-
1 o s e d e r M e s e n t e r i a 1 d r ü s e n vermuthen. durfte. Kann
man sich auch in Fällen, wo bereits fühlbare Drüsenge-
schwülste im Mesenterium vorhanden sind , keine Wirkung
davon versprechen, so hat sich doch das Mittel gegen dieje-
nigen Symptome, welche den Anfang jener wichtigen Krank-
heit zu bezeichnen pflegen, oft genug bewährt, um seine An-
wendung liier empfehlen zu können. Sobald bei Kindern*
insbesondere scrophidösen , Abmagerung mit Welkheit der
Haut, Unregelmässigkeiten des Stuhlgangs mit Neigung zur
Obstmction, und gegen Abend leichte Fieberbewegungen ein-
treten, hat man Grund, eine beginnende Degeneration der
Mesenterialdrüsen zu vermuthen. Bei einigen dieser Kinder
beobachtete man trotz der verminderten Esslust sehr reich-
liche Darmentleerungen, die aber nicht wässerig, sondern
vielmehr breiartig und ausserordentlich übelriechend waren.
Man kann in solchen Fällen nur eine vermehrte Absonderung
der Darmhäute, eine eigentliche Secretio faecalis anneh-
men, welche gar nicht selten mit der beginnenden Tubercu-
lose des Unterleibs zusammenfällt.*) Bei weiter vorgeschrit-
tener Entartung der Mesenterialdrüsen findet man oft die
Venen der Bauchbedeckungen stark injicirt, selbst varicös.
*) Ich habe öfters bei carcinomatösen Desorganisationen des Dick-
darms, ohne vorangegangene Stuhlverstopfung , beim Uebergange in das
Stadium der Erweichung eine übermässige Kotlibildung beobachtet, welche
sich durch häufigen Abgang copiöser, weicher, grünlich oder braun gefärb-
ter Massen von der Form und dem Ansehn der Kuhfladen kund gab.
Unser verewigter Fobmey, der an Carcinom des Mastdarms mit Durch-
löcherung der Harnblase unter unsäglichen Leiden verstorben ist, zeigte
mir oft voll Verwunderung die Menge dieses Abgangs mit den Worten:
„mein Fleisch verwandelt sich in Koth.” Auf ähnliche Weise, wie das
Tuberkel in der Lunge die Bronchialschleimhaut zur Secretion anspornt,
reizt der Scirrhus im absteigenden Colon die Schleimhaut des Dickdarms
und untern Theils des Dünndarms zur stärkeren Absonderung , welche
die faulige Zersetzung in Koth eingeht. Dass aber überhaupt ohne einen
aus Nahrungsmitteln gewonnenen Darmbrei Excremente sich bilden
können, lehren die Sectioncn der in Folge von scirrhöscn Stricturcn des
Oesophagus verhungerten Menschen. R.
136
Diese Beschaffenheit der Venen zeigt sich überhaupt bei
Störungen des Blutlaufs im Unterleibe,, sei es nun durch
Ascites oder durch Geschwülste, Mcsenterialtuberkeln , De-
generationen der Ovarien u. s. w. Bei reinen Affektionen
der Dannschleimhaut kommt sie nicht vor.
Bei dieser Gelegenheit darf die sogenannte Atrophia
lactantium, die. in ihren Symptomen der Atrophia inese-
raica ähnlich, doch aus ganz verschiedener Quelle stammt,
flicht unerwähnt bleiben, da sie häufig Gegenstand der klini-
schen Beobachtung war. Ihre Grundursache ist mangelhafte
Ernährung; mag nun bei Kindern, welche die Mutter-
brust .nicht bekommen, die gereichte Nahrung, oder bei
Säuglingen die Muttermilch imzureichend sein. Diese Krank-
heit, eine Atrophie im eigentlichen Sinne des Worts,
hervorgebracht durch Verhungerung des Kindes , cha-
rakterisirt sich durch die bedeutende, schnell zunehmende
Abmagerung, Verlust des Turgors der Haut, die schlaff und
welk sich leicht in Falten legen lässt, ganz besonders aber
durch die Gier nach Nahrung. Säuglinge geben die unge-
nügende Beschaffenheit der Muttermilch schon dadurch zu
erkennen, dass sie nach dem Genüsse derselben, weit entfernt
dadurch befriedigt zu werden, stark zu schreien fortfahren.
Im weitern Verlaufe der Krankheit gesellen sich noch Stö-
rungen in verschiedenen Organen hinzu , insbesondere hart-
näckige Durchfälle und Tuberculose der Mesenterialdrüsen,
wodurch die im Allgemeinen nicht ungünstige Prognose mehr
oder weniger getrübt wird. Nächst den diätetischen Maass-
regeln (Absetzen von der Brust, Genuss einer bessern Milch,
nährenden Brühen, und der frischen Luft) ist ein Mittel drin-
gend zu empfehlen, welches fast spezifisch* in dieser Krank-
heit wirkt, und dessen Anwendung in einer grossen Reihe
von Fällen von dem besten Erfolge begleitet war. Dies ist
der Tokaierwein. Man verordnet ihn zu 5 — 10 Tropfen
dreimal täglich in geringer Verdünnung zu nehmen. Durch
diese Behandlung, die mit stärkenden Bädern aus Malz, Flor.
Chamomill., Rad. Calami u. s. w. verbunden wurde , sind
137
Kinder, die bis auf den äussersten Grad abgezehrt waren,
und bei denen man bereits eine Theilnahme der Mesenterial-
drüsen vermuthen durfte, vollständig wieder hergestellt
worden .*)
Entzündliche Affektionen des serösen Ueberzugs derLe-
ber kamen sowohl für sich, als auch in Verbindung mit Pleuri-
tis und Pneumonie der rechten Lunge besonders während
der heisseren Jahreszeit nicht selten vor. Eben so häufig wie
der aus dieser Quelle stammende Icterus wurde eine an-
dre Art desselben, die von einer, meist catarrhali sehen , Hei-
zung der Duodenalschleimhaut abhängig ist, beobachtet. Bei
der in solchen Fällen sein1 vermehrten Gallenabsonderung
hatte die abführende Methode immer schnellen und sichern
Erfolg. TVar aber, was nicht selten verkam, diese Form des
Icterus von Durchfall begleitet, so wurde, um die Reizung
der Duodenalschleimhaut zu mindern, nebst topischen Blut-
entleerungen eine einfache Oelemulsion mit dem besten Er-
folge verordnet. Häufiger, als die acuten, waren die chro-
nischen Affektionen der Leber Gegenstand der klinischen
Beobachtung. Bei einer grossen Anzahl von Kranken, welche
über „Magenkrampf” klagend in der Poliklinik Hülfe such-
ten, fand sich bei genauer Untersuchung eine schmerzhafte
Anschwellung des kleinen Leberlappens als Ursache ihrer
Leiden. Eine sorgfältige Untersuchung ist hier um so mehr
nothwendig, als die paroxysmenweise auftretenden, unter das
Brustbein und in die obem Extremitäten hinaufstrahlenden
Schmerzen leicht zur Annahme einer neuralgischen Affektion
verleiten können. Bemerkenswerth ist, dass in mehreren Fäl-
len clironischer Leberkrankheiten ein hoher Grad von Pru-
ritus am ganzen Körper beobachtet wurde, ohne dass eine
*) Und nicht bloss in der Atrophie der Säuglinge , auch in andern
atrophischen und Erschöpfungszuständen der Kinder nach Diarrhöen, pro-
fuser Eiterung hat mich eine langjährige Erfahrung von dem Nutzen des
ächten alten Tokaierweins (zu 20—25 Tropfen Kindern von 8—12 Jah-
ren, dreimal täglich) überzeugt, welcher alle anderen Mittel entbehrlich
machte. t>
138
Spur von Icterus, welcher dieses Symptom so oft zum Be-
gleiter hat, oder Prurigo wahrzunehmen war. Die Behand-
lung dieser Zustände musste bei den von Zeit zu Zeit ein-
tretenden entzündlichen Erscheinungen die antiphlogistische
sein, nach deren Beseitigung man zur Anwendung der Resol-
ventia überging. Mit Uebergehung der gewöhnlich in solchen
Fällen versuchten Mittel, sei hier nur der Radix Belladonnae
gedacht, welche, in der Regel mit Pulv. Rad. Rhei verbun-
den, zu i Gr., alhnählig bis zu i— 1 Gran steigend, dreimal
täglich gegeben wurde. Der alte Ruf dieses Mittels als kräf-
tiges Resolvens ist ein wohlbegründeter, und seine Anwen-
dung kann in den betreffenden Fällen, zumal narkotische
Wirkungen fast niemals danach beobachtet werden, mit gutem
Rechte empfohlen werden. Am wirksamsten zeigten sich
jedoch immer die Brunnenkuren, welche in jedem Sommer
von einer Anzahl Kranker in der berühmten Anstalt des
Herrn Hofraths Soltmann, dessen Liberalität unsem aufrich-
tigen Dank erheischt, gebraucht wurden.
Tuberkeln, zuweilen eingekapselt und gelb gefärbt, fan-
den sich nicht selten in der Leber bei scrophulösen Kindern
in Gemeinschaft mit Tuberculose andrer Organe, ohne dass
ein Symptom während des Lebens das Vorhandensein der-
selben angedeutet hätte.
Unter den Krankheiten der Milz kamen Anschwellun-
gen dieses Organs in Folge hartnäckiger Wechselfieber am
häufigsten vor. Eine fühlbare Geschwulst unter den falschen
Rippen der linken Seite war in diesen Fällen keineswegs
eine constante Erscheinung, vielmehr ergab nicht selten we-
der die Manualuntersuchung noch die Percussion irgend eine
krankhafte Veränderung im linken Hypochondrium. Man
darf indcss nicht übersehen, dass die anschwellende Milz sich
ebensowohl in der Richtung nach oben gegen den Thorax,
als nach unten gegen die Bauchhöhle ausdehnen kann, imd
dass die auf diese Weise verursachte Schmerzhaftigkeit
der untern und seitlichen Partie der linken Brust, so wie
/
139
die Mattheit des Percussionstons an dieser Stelle leicht zur
irriiren Annahme einer Pleuritis verleiten kann.
Ein solcher Irrthum ist indess nur bei Erwachsenen
möglich; bei Kindern, besonders in den ersten Lebensjahren,
wo ciie AXilz und die Leber überhaupt noch der mesogastri-
schen Region nahe hegen, findet die Anschwellung der Milz
immer in dieser Richtung statt, und kann deutlich durch die
Bauchdecken gefühlt werden. Bei einem eilf Monate alten
Künde begleiteten Mangel des Appetits, mit Diarrhöe abwech-
selnde Verstopfung und ödematöse Anschwellung des Ge-
sichts imd der untern Extremitäten das Milzleiden. Charak-
teristisch war aber in diesem, wie in einem zweiten ähnlichen
Falle das gelblichweisse Colorit des Antlitzes und der gan-
zen Körperoberfläche, eine wahre Wachsfarbe, wie sie sich
bei keiner andern Krankheit findet. Auch bei diesem zwei-
ten, ein Jahr alten Kinde zeigte sich Oedem ‘des Gesichts
und der untem Extremitäten, ausserdem noch Erbrechen sehr
sauer reagirender Stoffe. Die Section dieses Kindes, welches
wiederholten Anfällen einer mit der Dentition in Verbindung
stehenden Eclampsie unterlag, zeigte den Umfang der Milz
dergestalt vergrössert, dass sie bis 1" unter den Nabel hinab-
reichte, wobei der vordere Rand 1|" von demselben entfernt
war. Ihr Gewicht betrug ll£ während es in diesem Al-
ter gewöhnlich auf 4 — 5 5, ja selbst bei Erwachsenen nur auf
8 5 sich beläuft. Die merkwürdigste Erscheinung in diesem
Falle war aber das Vorhandensein zahlreicher kleiner Ekchy-
mosen auf der Oberfläche verschiedener Organe, namentlich
der Lungen, des Herzbeutels, des Herzens und der Nieren.
Wenn man einen Schnitt in die beiden letztgenannten Or-
gane durch eine der gedachten Ekchymosen hindurchführte,
so konnte man deutlich wahmehmen, dass die kleinen Blut-
ergiessungen etwa 1 tief in die Substanz der Organe ein-
drangen. Diese Affcktion, die man mit vollem Recht als
eine Purpura interna bezeichnen könnte, ist um so interessan-
ter, als sie der auf der äussem Haut vorkommenden Pur-
pura, die zuweilen bei Milzkrankheiten beobachtet wird, ent-
140
spricht. Hierdurch wird ein neuer Beweis geliefert, welchen
wichtigen Einfluss Affektionen der Milz auf die Blutkrasis
ausüben, von deren krankhafter Veränderung ohne Zweifel
auch die erwähnten hydropischen Erscheinungen abhängen.
Denn wollte man dieselben von dem Drucke der angeschwol-
lenen Milz auf die Unterleibsvenen herleiten, so hätte bei
vorzugsweiser Beeinträchtigung des Pfortadersystems Asci-
tes die Folge sein müssen, während derselbe gänzlich fehlte,
und nur ödematöse Anschwellung des Gesichts und der un-
tern Extremitäten stattfand.
Schliesslich muss noch bemerkt werden , dass mehrere
für charakteristisch gehaltene Symptome, z. B. der eigen-
tümliche Schwindel, die Epistaxis, besonders aus dem linken
Nasenloche, in der Mehrzahl der Fälle vermisst wurden.
i
Krankheiten der Geschlechts- und Ilarnorgane.
IJ ngeachtet der grossen V erbreitung des Lasters der Ona-
n i e dürfte sie doch nur selten einen so hohen Grad erreichen,
als es bei zwei Brüdern, Knaben von sechs und sieben Jah-
ren, der Fall war. Weder Gewalt, noch ärztliche Behandlung
vermochte dem Laster Einhalt zu thun, und selbst die auf
Lallemand’s Empfehlung vorgenommene Kauterisation der
Harnröhre mit Lapis infernalis blieb ohne allen Erfolg. Beide
Kinder starben -fast gleichzeitig unter den Symptomen gänz-
licher Erschöpfung der Lebenskräfte. Bei dieser Gelegenheit
darf eine Erscheinung nicht unerwähnt bleiben, die man in
neuester Zeit als ein Hülfsmittel, die Onanie bei Kindern zu
entdecken, hat benutzen wollen. Man kann nämlich kaum
ein treffenderes Beispiel von Reflexbewegung sehen, als wenn
man bei gesunden kleinen Kindern mit den Fingerspitzen
über die Haut an der innern Fläche der Oberschenkel, vor-
zugsweise an der der Fossa ovalis der Schenkelbinde ent-
sprechenden Stelle, hinstreicht : man bemerkt dann fast augen-
blicklich ein schnelles Hinaufziehn des Testikels derselben
Seite. Diese Reflexerscheinung erlischt nun bei allen Krank-
heiten, in denen die Centralorgane des Nervensystems mehr
oder weniger afficirt sind, und soll auch bei Onanie treibenden
Kindern vermisst werden, ein Mangel, der sich aus der be-
deutenden Beeinträchtigung der motorischen Kraft des Riik-
kenmarks durch die Onanie wohl erklären Hesse. Allein die
in der Klinik gemachten Beobachtungen sprechen nicht zu
Gunsten dieses diagnostischen Iliilfsmittels, indem auch bei
solchen Kindern, die unzweifelhaft Onanie trieben, eine Re-
flexbewegung dcutüch beobachtet werden konnte.
142
In der Behandlung primär syphilitischer Affektio-
nen der Genitalien wurde die Anwendung des Quecksilbers
der einfachen antiphlogistischen Methode vorgezogen. Die
gewöhnlich verordneten Präparate waren das Calomel, der
Mercur. solubilis Hahnemanni und der rothe Präcipitat in
Verbindung mit Antimon, crudum. Gegen Condylome erwies
sich vorzugsweise der innere Gebrauch des Sublimats vonNutzen.
Zur Bekämpfung der in Folge des Trippers entstandenen
E p i di d y m i t i s dienten besonders warme Breiumschläge
in ruhiger Rückenlage, bei nicht zu grosser Schmerzhaftig-
keit aber und starker Geschwulst die FmcKE’sche Ein-
wicklung.
Bei allen Kranken, die wegen eines Fluor albus Hülfe
in der Poliklinik suchten, wurde, wo es die Umstände ge-
statteten, zuvor eine genaue Untersuchung der innem Ge-
schlechtstheile mittelst des Speculum vorgenommen. Zeigte
sich Granulationsbildung auf der Vaginalschleimhaut, so wurde
dieselbe mit Erfolg durch Touchiren mit Höllenstein zerstört.
In andern Fällen entdeckte man Excoriationen, Geschwüre
u. s. w., welche sich bei oberflächlicher Untersuchung dem Auge
entzogen haben würden, und eine antisyphilitische Behand-
lung erforderten. Bei Kindern zeigte sich der Fluor albus am
häufigsten auf scropliulöser Basis, öder in schlaffen anämischen
Constitutionen: antiscrophidöse Mittel, eine Verbindung des
Aethiops antimonial. und mineral, mit Rheum, Eisenpräparate
reichten in solchen Fällen zur Heilung hin. Zum Waschen
oder zu Einspritzungen diente die Aq. Calcis, in hartnäckigen
Fällen eine starke Auflösung des Höllensteins. Bei kleinen
Kindern von einem oder zwei Jahren steht der Fluor albus
zuweilen mit der Dentition in Zusammenhang. Bei älteren
Kindern berücksichtige man immer etwa stattfindende Onanie,
ja selbst Coitus, der in zwei Fällen Ursache des Fluor albus
war. Uebrigens hüte man sich, einen lange bestehenden
weissen Fluss schnell zu supprimiren, indem dann leicht, be-
sonders im kindlichen Alter, ein heftiger Catarrh, Bronchitis,
ja selbst Lungentuberculose sich ausbilden kann.
143
Obwohl Kranke mit Geschwülsten und Degenerationen
der innem Sexualorgane, namentlich der Ovarien, fast zu
den gewöhnlichen Erscheinungen gehören, dürfte doch die
ausführliche Mittheilung eines hieher gehörigen Falls durch
seinen seltenen Ausgang gerechtfertigt sein.
Minna S . . ., ein 20jähriges Mädchen, hatte, abgesehn
von den gewöhnlichen Kinderkrankheiten und wiederholten,
in Eiterung übergegangenen Anschwellungen der Cervical-
drtisen, eine gesunde Kindheit verlebt. Im siebzehnten Jahre
trat die Periode ein, die auch bis zum Tode vollkommen re-
gelmässig blieb. Ein Jahr nach dem Eintritt der Katamenien
bemerkte die Kranke zuerst eine Anschwellung des Unter-
leibs, welche alhnäblig zunahm, ohne dass jemals Sinnen
einer ödematösen Geschwulst der untern Extremitäten bemerkt
winden. Bei der Vorstellung der Kranken in der Klinik am
17. Juli 1843 zeigte sich der Unterleib beträchtlich, aber
gleichmässig angeschwollen ; Fluctuation war durch die von
stran<rartigen Venen durchzogenen Bauchdecken deutlich
fühlbar; die Percussion ergab im ganzen Umfange des Un-
leibs mit Ausnahme der epigastrischen Gegend und der beiden
Hypochondrien einen matten Ton, der indess in der Seiten-
lage einem helleren Tone auf der entgegengesetzten Seite
Platz machte. Trotz der sorgfältigsten Untersuchung liess
sich in keinem Organe weder des Unterleibs noch der Brust
eine krankhafte Veränderung wahrnehmen, auf welche man
die Wasseransammlung in der Bauchhöhle, die sich entschie-
den als Ascites aussprach, hätte beziehen können ; die innere
Untersuchung konnte wegen des noch vorhandenen Hymens
nicht vorgenommen werden, und zur Exploration per rectum
wollte sich die Kranke durchaus nicht entschliessen. Die
natürlichen Secretionen gingen auf normale Weise von Stat-
ten, und auch die Reproduktion hatte nicht wesentlich ge-
litten: doch sprach die blasse kachektische Gesichtsfarbe für
ein tiefes organisches Leiden, welches zu entdecken unter den
obwaltenden Umständen nicht möglich war. Am 28. Juli
wurde der durch die Ausdehnung des Unterleibs verursachten
144
Dyspnoe halber die Paracentese in der Linea alba vorgenom-
men, und vier Quart einer hellgelben Flüssigkeit von ölartiger
Consistenz , wie Leberthran , entleert. Der verewigte Dr.
Franz Simon erhielt bei der Untersuchung derselben folgen-
des Resultat: die entleerte Flüssigkeit hat eine dickliche, öl-
artige Consistenz, und wenn man das Wasser = 1000 ansetzt,
ein spezifisches Gewicht von 1019. Sie ist geruchlos, von
gelblicher Farbe, fast klar. Auf dem Boden des Gefässes
befinden sich zahlreiche Flocken, und der hier abgesetzte Theil
ist zugleich röthlich gefärbt. Die Reaktion auf Lakmuspa-
pier ist deutlich alkalisch. Mit dem Mikroskope erkennt man
besonders in den untern Theilen der Flüssigkeit Blutkörper-
chen, spärlich zerstreute Zellen, den Schleimkörperchen ähn-
lich, die grossem granulirten Exsudatzellen, und amorphe,
theils zu dichten grauen Massen zusammengefügte, theils
leichtere und lichtere Conglomerate bildende Partikeln, welche
aus Fibrine im ersten Zustande der Fällung bestehen. Die
ölartige Consistenz rührt nur von dieser körnig präcipitirten
Fibrine her. Durch chemische Hülfsmittel wurde eine sein-
ansehnliche Menge Albumen, aber keine dem Kasein ähnliche
Materie, ziemlich viel schmieriges Fett, die gewöhnlichen ex-
traktiven Materien und Salze nachgewiesen. Plarnstoff Hess
sich nicht auffinden.
Aus diesen Resultaten schloss Dr. Simon, dass das Ex-
sudat, welches zu den lymphatischen gehörte, noch nicht
lange im Körper verweilt haben konnte, und bei seiner Ab-
sonderung die Nieren höchst wahrscheinlich nicht betheiligt
waren. Von den gewöhnlichen hydropischen Flüssigkeiten
unterschied sich das Exsudat durch ein höheres spezifisches
Gewicht, durch eine grössere Menge von Albumen, und durch
die Gegenwart der präcipitirten Fibrine.
Die Geschwulst des Unterleibs fiel sogleich zusammen,
aber auch jetzt konnte man trotz genauer Untersuchung kerne
Abnormität in der Bauchhöhle entdecken. Der Zustand der
Kranken blieb indess unverändert, so dass am 24. November
die zweite, und am 28. Februar 1844 die dritte Punction an
145
derselben Stelle gemacht und jedesmal eine grosse Menge Flüs-
sigkeit von gleicher Beschaffenheit entleert wurde. Im März
trat eine profuse, vier Wochen anhaltende Metrorrhagie ein,
welche auf den Heerd der Krankheit im Ovarium deutete, nach
deren Beseitigung die Unterleibsgeschwulst und die Athem-
noth der Kranken bereits wieder einen so hohen Grad er-
reicht hatten, dass die Wiederholung der Operation beschlos-
sen ward, als die Kranke plötzlich am Morgen des 4. April,
während sie am Brunnen mit der Wäsche beschäftigt war,
von einem so gewaltigen Schmerze im Unterleibe befallen
wurde, dass sie ohnmächtig zu Boden sank. Die kurz darauf
vorgenommene Untersuchung stellte die Entwicklung einer
heftigen eonsecutiven Peritonitis ausser Zweifel, welcher die
Kranke nach 21 Stunden unter den fürchterlichsten Qualen
erlag.
Am folgenden Tage wurde die Section von Herrn Prof.
Schlemm gemacht.
Beim Einschneiden des stark aufgetriebenen und fluctui-
renden Unterleibs ergoss sich eine beträchtliche Quantität
Flüssigkeit von derselben öligen Beschaffenheit, wie die durch
die Punction entleerte. Das Peritonäum war in seinem gan-
zen Umfange stark injicirt, an manchen Stellen gleichmässig
geröthet ; ein purulentes, flockiges, mit der meinfach erwähnten
öligen Flüssigkeit vermischtes Exsudat füllte die Bauchhöhle.
Das rechte Ovarium bildete eine fast mannskopfgrosse,
schwärzlich gefärbte, höckrige, aber elastisch anzufühlende
Geschwulst, welche vom kleinen Becken bis einen Zoll unter
den Kabel hinaufreichte, und dadurch, dass sie sich vor dem
Uterus und dem gesunden linken Ovarium gelagert hatte,
diese Organe ganz verdeckte. Bei der genaueren Untersu-
chung der Geschwulst ergab sich 1) eine ziemlich schlaffe
schwärzliche Hülle, welche aus der äussem Haut des Ova-
riums und dessen Peritonäalüberzuge zu bestehen schien.
An mehreren Stellen derselben fanden sich Ulcerationen, und
nahe der Spitze der Geschwulst eine runde Perforation von
der Grösse eines halben Silbergroschens, die von einem auf*
10
146
geworfenen entzündeten Rande umgeben war. 2) Die ganze
Substanz des Ovariums war in Hydatiden degenerirt, welche
concentrisch in einander eingeschachtelt, eine ölige Flüssig-
keit, zum Theil auch knochige Concremente enthielten. Zu
bemerken ist noch, dass auch beim Einschneiden der äussem
Hülle der Geschwulst ein massiger Erguss jenes ölartigen
Fluidums stattfand. Alle übrigen Organe schienen vollkom-
men gesund.
Dieser Fall liefert einen neuen Beweis, wie schwer es
zuweilen ist, eine wassersüchtige Anschwellung des Ovariums
vom Ascites zu unterscheiden. In der That konnte nach den
während des Lebens beobachteten Erscheinungen und bei
der Unmöglichkeit, eine Untersuchung per vaginam et rectum
vorzunehmen, das Vorhandensein eines Ascites nicht zweifel-
haft sein, zumal auch die V eränderungen des Percussionstons
je nach der Lage der Kranken, ein so chai’akteristisches
Symptom des Ascites, dafür sprachen. Der Sectionsbefund
erklärt die diagnostischen Schwierigkeiten dieses Falls. Die
Geschwulst des Unterleibs wurde nämlich vorzugsweise durch
die äussere Hülle des degenerirten Ovariums, welche von der
enthaltenen öligen Flüssigkeit zu einem enormen Umfange
ausgedehnt war, gebildet, während der hydatidöse Eierstock
selbst grüsstentheils im kleinen Becken verborgen blieb. V er-
möge seiner lockern Befestigung konnte der wassergefüllte
Sack je nach der Lage der Kranken dem Gesetze der
Schwere folgen, eine Erscheinung, die bei ^accwassersuchten
sonst nicht vorzukommen pflegt. Auch unterhegt es keinem
Zweifel, dass bei den Functionen eben dieser Sack angesto-
chen, und die ölige Flüssigkeit, deren Sitz man in der Bauch-
höhle vermuthete, aus der zwischen der äussem Hülle und
der eigentlichen Substanz des Ovariums befindlichen Cavität
entleert wurde. Es könnte zwar nocli auffallend scheinen,
dass auch nach der Paracentese die sorgfältigste Untersuchung
keine Spur einer Geschwulst aufzufinden vermochte: wenn
man indess die schlaffen dünnen Wände der Kyste, und die
weiche, nachgiebige Beschaffenheit der Hydatiden selbst bc-
147
denkt, so wird auch das Auffallende dieses Umstandes
schwinden. Vorzugsweise wichtig ist aber dieser Fall durch
seinen ungewöhnlichen Ausgang in Ruptur der Kyste, die
an einer der ulcerirten Stellen bei einer heftigen Anstrengung
erfolo-te, und sofort eine schnell tödthehe Peritonitis herbei-
führte. Die mit purulentem Exsudat untermischte ölige
Flüssigkeit, welche in der Bauchhöhle selbst angetroffen wurde,
war offenbar aus dem Sacke in den Peritonealraum ausgetreten :
ein Theil derselben wurde noch innerhalb der Ivyste vorgefun-
den. Bemerkenswerth ist endlich noch der Umstand, dass eine
Flüssigkeit von ganz gleicher Beschaffenheit auch in den
Hydatidenblasen enthalten war.
Unter den Affektionen der Harnorgane verdient
besonders die Folgekrankheit eines Trippers hervorgehoben
zu werden, welche bei einem 32jährigen Manne vorkam.
Derselbe hatte vor zwei Jahren an Tripper und Epididymitis
der rechten Seite gelitten, nach deren Heilung ein unaufhörlicher
lästiger Drang zum Urinlassen zurückgeblieben war. Die
sein1 häufig zur Nachtzeit eintretenden Pollutionen waren blu-
tig gefärbt, und der Beischlaf verursachte schmerzhafte Em-
pfindungen. Uebrigens wurde der Urin in ununterbrochenem
Strahle entleert, und der Katheter . konnte mit Leichtigkeit
in die Blase eingeführt werden, wobei nur im hintern Theile
der Harm-öhre nahe ihrer Einmündung in die Blase ein ge-
ringer Schmerz empfunden wurde. Die Diagnose wurde auf
entzündliche Reizung der Urethralschleimhaut, in der Gegend
des Colliculus seminalis , so wie der Ausführungsgänge der
Saamenbläschen gestellt , und demgemäss eine antiphlogisti-
sche Behandlung eingeleitet: wiederholte Application von
Blutegeln an das Perinäum, Einreibungen mit grauer Salbe, der
innere Gebrauch eines Thees aus Semin. Lini mit Sem. Can-
nabis bewirkten nach einigen Wochen Heilung, womit gleich-
zeitig die Neigung zu Pollutionen verschwand. Allein schon
nach Ablauf eines Vierteljahrs fanden sich die früheren Zu-
fälle von neuem ein und leisteten allen angewandten Mitteln
den hartnäckigsten Widerstand : erst einer lange fortgesetzten
10*
148
Behandlung, namentlich lauwarmen Bädern, gelang es wieder,
einen Nachlass der Erscheinungen herbeizuführen.
Dieser Fall giebt einen neuen Beweis für die Abhängig-
keit der Saamenergiessungen von Reizen, die in der Sclüeim-
haut der Harnröhre ihren Sitz haben, gegen welche Lallemakd
die Kauterisation der letztem mittelst des Höllensteins em-
pfohlen hat. Fälle dieser Art scheinen indess nicht so häufig
vorzukommen, als Lallemano angiebt : denn die Mehrzahl
der Kranken, welche in der Klinik Hülfe gegen zu reichliche
Pollutionen suchten, bot durchaus keine Erscheinungen
von Irritation der Urethra dar. Meist waren es junge, kräftige
Individuen, die an diesem Uebel litten, daher auch die in sol-
chen Fällen so oft gemissbrauchten roborirenden Mittel streng
gemieden wurden. Vielmehr sah man von der entgegenge-
setzten Behandlungsweise fast immer den besten Erfolg : ne-
ben dem innern Gebrauche der Mineralsäuren verdienen wie-
derholte Applicationen blutiger Schröpf köpfe in den Nacken,
kalte Waschungen und Anwürfe des Nackens und Rückens,
im Sommer Flussbäder, dringend empfohlen zu werden.
Dieselbe Behandlung erwies sich auch gegen die heftigen
Schmerzen im Hinterhaupte, die bei Onanisten und nach zu
reichlichen Pollutionen zuweilen Vorkommen, wirksam.
Störungen der U r i n a u s s c h e i d u n g kamen nicht
selten vor. In einigen Fällen schienen dieselben auf einer
entzündlichen Affektion der Nieren selbst zu beruhen, und
wichen einer antiphlogistischen Behandlung. Diese Kranken
klagten gewöhnlich über schmerzhaftes Drängen zum Urin-
lassen, und ein brennendes Gefühl während der Urinentlee-
vi mg selbst. Der Urin war dunkel und etwas trübe. Ob-
wohl die Kranken selbst alle ihre Beschwerden auf die Blase
und Harnröhre bezogen, ergab die Untersuchung dieser Or-
gane doch nichts Krankhaftes, während ein tiefer Druck in
der Nierengegend auf einer oder beiden Seiten lebhafte
Schmerzen erregte. Blutegel, Mercurialeinreibungen, schlei-
mige Getränke und Oelemulsionen waren die Mittel, welche
diese Affektion gewöhnlich bald beseitigten. Häufiger liess
149
- sich Entzündung des die Blase bekleidenden Peritonäurns,
am seltensten sich ein Leiden der Urinblase selbst als Sitz
der schmerzhaften Affektion nackweisen.
Ein dreijähriges Mädchen litt bereits mehrere Wochen
an Unvermögen, den Urin gehörig zu entleeren, Avobei
sich gleichzeitig heftige Schmerzen in der hypogastrischen
Gegend einstellten. Seit vier Tagen hatten diese Schmerzen
an Intensität bedeutend zugenommen : das Kind zeigte, na-
mentlich vor dem Urinlassen, eine lebhafte Unruhe, worauf
der Harn in starkem Strahle reichlich ausfloss. Nach ein-
stündigem Intervall trat dann dieselbe Symptomenreihc von
neuem auf. Zu bemerken ist, dass seit dem Eintritte dieser
Zufälle das Kind an Stuhlverstopfung litt, Avelche die Mutter
durch Klystiere vergebens zu heben trachtete. Die Unter-
suchung des Unterleibs ergab keine Anomalie, so Avie auch
der allgemeine Gesundheitszustand des Kindes nichts zu
Avünschen übrig liess.
©
Die erste Frage, die sich bei Betrachtung dieses Falls
aufdrängte, betraf den Sitz des Leidens. Waren hier die
hamsecernirenden oder die excernirenden Apparate ergriffen?
Wären erstere der Sitz der Krankheit gewesen, so hätte die
Secretion des Urins, der hier ganz normal Avar, soAVohl quan-
titativ Avie qualitativ wesentlich beeinträchtigt sein müssen;
es würden sich consensuelle Symptome, namentlich in der
Sphäre des Digestionsapparats, Aufstossen, Erbrechen u. a. m.
kund gegeben haben. War man somit darin übereingekom-
men, dass die Affektion liier in den harnexcernirenden Or-
ganen, und zwar, der Topik des Schmerzes nach zu urtheilen,
in der Blase ihren Sitz habe, so musste nun die Natur des
Uebels selbst genauer erforscht Averden. Wahre Entzündung
der Urinblase ist bei Kindern ausserordentlirh selten; diese
sind vielmehr vorzugsweise folgenden drei Affektionen unter-
worfen: 1) Einem catarrhalischen Zustande der Blasenschleim-
haut, wobei der Urin mit sehr vielem Schleim gemengt ist,
in der Regel aber keine heftige Schmerzen vorhanden sind.
• 2) Der Steinbildung, besonders bei männlichöti Kindern.
150
3) Dev Neuralgie der Blase, die meistens durch Reize im
Darmkanale, und zwar vorzugsweise im Mastdarme, als Mit-
empfindung bedingt wird, und secundär wieder die Muskel-
haut der Blase zu anomaler Thätigkeitsäusserung anreo-t.
Diese Krankheitsform, die besonders häufig während der
Dentitionsperiode beobachtet wird, war auch in diesem Falle
vorhanden. Die Behandlung bestand in der Anwendung
lauwarmer Bäder (von 27 0 R.), Fomentationen der Blasen-
gegend mit einem warmen Kamillenaufguss, und Einreibun-
gen des Oleum Papaveris. Der Causalindication genügte man
durch den Gebrauch des Ricinusöls, worauf das Kind bald
als geheilt vorgestellt werden konnte. Sehr häufig wurde
bei weiblichen Kranken eine schmerzhafte Austreibung des
Urins beobachtet, die nach vorausgegangenem heftigen Drange
sturzweise erfolgt, und in Berlin unter dem Namen „schnei-
dendes Wasser” bekannt ist. Diese Affektion ist in den
meisten Fällen rheumatischer Natur, und findet im Camphor
ihr wirksamstes Gegenmittel. Man verordnet dieses Mittel in
einer Emulsion und lässt gleichzeitig das Oleum camphora-
tum in die Blasengegend einreiben.
Bei dieser Gelegenheit sei auch einer bei Kindern sehr
häufig vorkommenden Affektion, der sogenannten Enuresis
nocturna, mit einigen Worten erwähnt. Mädchen leiden
daran häufiger als Knaben. Man hielt diese lästige Krank-
heit (wenn man diesen Ausdruck gebrauchen will) früher für
die Folge einer Lähmung des Blasenhalses, imd quälte daher
die armen Kinder mit kalter Douche, kalten Waschungen,
Chinadecocten, Eisen u. a. m. Diese Mittel haben aber nicht
den geringsten Erfolg, und können es auch nicht, weil die
Quelle des Uebels eine ganz andere ist. Schon im gesunden
Zustande der Blasenschleimhaut zeichnen sich zwei Stellen
derselben durch einen höheren Grad von Sensibilität vor den
übrigen aus : es sind die Mündungen der Harnleiter. Hiervon
kann man sich sowohl bei solchen Individuen überzeugen,
avo in Folge eines Bildungsfehlcrs die Schambeine vom nicht
o-eschlossen und durch die so gebildete Lücke die Blasen-
)
151
Schleimhaut vorliegt, wovon ein Fall bei einem sechsjähri-
gen Mädchen im Klinikum vorkam, als auch bei jeder Un-
tersuchung der Blase, indem bei Berührung der genannten
Punkte mit dem Katheter sogleich ein lebhafter Drang zum
Urinlassen empfunden wird. Wird nun die ohnehin schon
sehr rege Sensibilität dieser Region der Blasenschleimhaut noch
krankhaft gesteigert, so muss auch der Reiz des Urins um
so lebhafter gefühlt, uud dieser durch einen schnellen Reflex
auf den Muse, detrusor urinae mit Heftigkeit ausgetrieben
werden, was um so leichter während des Schlafs, wo der
Wille seine Herrschaft über die Reflexthätigkeit verliert, ge-
schehen wird. Von diesem Gesichtspunkte ausgehend, ver-
dient folgende einfache Behandlung als die beste empfohlen
zu werden: Man lasse die Kinder während der Nacht auf
dem Bauche liegen, um jene beiden Stellen der Blasenschleim-
haut vor der Einwirkung des sich ansammelnden Urins so
lange wie möglich zu schützen; innerlich verordne man
schleimige, demulcirende Mittel zur Milderung der reizenden
Beschaffenheit des Urins.
Krankheiten der Respirationsorgane.
Entzündliche Affektionen der Larvnx- und Tracheal-
schleimhaut traten zuweilen als Begleiter der Masern auf;
nur in einem Falle wurde die acute Tracheitis als selbststän-
dige Krankheit beobachtet. Die Kranke war ein sechsjähriges
Mädchen, welche in ihrem zweiten Lebensjahre zum ersten
Male von der in ßede stehenden Krankheit befallen wurde,
die sich im Laufe der vier folgenden Jahre fünfmal wieder-
holte. Die Hauptsymptome waren: starke, besonders zur
Nachtzeit zunehmende Dyspnoe, pfeifende Inspiration, gewalt-
same Aktion aller Athemmuskeln bei normaler Frequenz der
Athembewegungen , sehr rauhes Athmungsgeräusch in der
Trachea, nebst einem starken pfeifenden Bhonchus an der
Wurzel der Lunge. Ein imbedeutender Husten begleitete
den fast fieberlosen Zustand. Der merkwürdigste Umstand in
diesem Falle war das wiederholte, fast paroxysmenartige Auf-
treten der Krankheit, welches, hätten die Ergebnisse der
physikalischen Untersuchung nicht dagegen gesprochen, leicht
zur Annahme einer Affektion des N. vagus hätte verleiten
können. An den ächten Croup konnte liier nicht gedacht
werden, da die Krankheit ohne wesentliche Steigerung der
Symptome bereits zwei Wochen gedauert hatte. Alle Erschei-
nungen sprachen vielmehr für eine einfache, sich bis auf die
Bifurcation der Luftröhre ausdehnende Tracheitis, und die
dagegen eingeleitete Behandlung mittelst örtlicher Blutent-
leerungen und starker Dosen des Brechweinsteins beseitigte
die Krankheit in kurzer Zeit.
Bei weitem dringender gestalteten sich die Symptome,
wo wirklicher Croup oder die ihm ähnliche Diphtheritis
I
153
stattfanden. Obwohl die letztere in der Regel der Ausdruck
eines allgemeinen Leidens zu sein pflegt , trat sie doch in
einem Falle bei einem in jeder Beziehung gesunden Knaben
auf, und unterschied sich von der Laryngitis exsudativa vor-
zugsweise durch die freien Intervalle, welche die heftigen
Anfälle von Dyspnoe trennten, und der Krankheit eine Aehn-
lichkeit mit dem reinen Spasmus glottidis gaben. Da in die-
sem Falle Genesung erfolgte, so lässt sich die Gränze des
im hintern Theile der Mundhöhle entwickelten exsudativen
Processes uicht bestimmen : es ist jedoch wahrscheinlich, dass
nur der oberste Theil der Kehlkopfsschleimhaut, vielleicht
nur die Epiglottis, an der Krankheit Theil nahm. Allein auch
ohne diphtheritische Erscheinungen traten bei mehreren Kin-
dern Symptome auf, welche denen des Croups sehr ähnlich
waren. Ausserordentlich beschleunigte Respiration, gewalt-
same Anstrengung der Athemmuskeln, holder bellender Hu-
sten, starkes Fieber, heisere Stimme charakterisirten diese
Affektion, die sich aber durch den Mangel der spastischen
Paroxysmen, durch den langsameren Verlauf, und endlich
durch ihren glücklichen Ausgang vom ächten Croup unter-
schied. Man muss sie als einfache Laryngitis betrachten,
und demgemäss antiphlogistisch behandeln.
Die wahre Laryngitis exsudativa (der Croup),
eine in Berlin nicht gar häufige Krankheit, wurde fünfmal
beobachtet. Das jüngste der befallenen Kinder war 1 1, das
älteste 1\ Jahr alt; in keinem einzigen Falle konnte der un-
glückliche Ausgang verhütet werden. Das vorausgehende ka-
tarrhalische Stadium dehnte sich von fünf bis auf vierzehn Tao-e
aus, und unterschied sich nur in einem Falle durch zeitweise
eintretende pfeifende Inspirationen von einem gewöhnlichen
Katarrh. Das erste Auftreten der Croupsymptome mit einem
heftigen Spasmus glottidis erfolgte fast immer zur Nachtzeit,
worauf die Krankheit entweder schnell zunahm, oder auch
nach 24 Stunden und länger auf derselben Höhe verharrte,
fm letztem Falle wiederholte sich zwar der Glottiskrampf
von Zeit zu Zeit, aber die Respirationsstörungen in den In-
154
tervallcn waren nicht bedeutend genug, um die Eltern zur
schleunigen Hinzuziehung ärztlicher Hülfe aufzufordern. Die-
ser Umstand hat ehiige Aerzte zur falschen Annahme eines
spastischen Croups verleitet, und eben so hat man auch viele
Fälle der unter dem Namen Asthma Millari bekannten Krank-
heit zu deuten. In allen von der Klinik aus behandelten
Fällen beschränkte sich die Entzündung nicht bloss auf den
Kehlkopf und die Luftröhre , sondern die Schleimhaut der
Bronchien nahm wesentlichen Antheil, so dass Rasselgeräu-
sche verschiedener Art im Intrascapularraume nie vermisst
wurden, während auf der Vorderfläche der Brust das puerile
Athnumgsgeräusch theils wegen des verdeckenden Rasseins,
theils wegen des verhinderten Eindringens der Luft nicht
selten ganz fehlte. Die Heiserkeit stieg in einigen Fällen
bis zur Aphonie, und der begleitende Husten, der gleich den
asthmatischen Anfällen durch Versuche zu sprechen, zu trin-
ken, immer aber durch äussem Druck auf den Larynx ge-
weckt winde, hatte jenen eigenth tunlichen feinen, krähenden
Ton, der bei weitem mehr zu fürchten ist, als der in so
schlimmem Rufe stehende bellende Klang, den der Husten
bei Kindern in gewöhnlichen katarrhalischen Zuständen oft
genug annimmt. Als Hauptsymptom erschien aber in allen
Fällen die ausserordentlich erschwerte Respiration, wie sie
fast in keiner andern acuten Krankheit beobachtet wird. Dies
beweiset die stürmische Aktion aller Atkemmuskeln, das ge-
waltsame Spiel der Nasenflügel, die tiefe Grube, welche sich
bei jeder, von einem schnarrenden Tone begleiteten Inspira-
tion zwischen den beiden Mm. stemocleidomastoidei bildet,
das Rückwärtsziehen des Kopfs durch den Cucullaris, als
sollte die Luftröhre dadurch verlängert werden, die gewalt-
same Contraction des Zwerchfells. Als Folgen des gestörten
Athmens und der dadurch beeinträchtigten Oxydation des Blu-
tes zeigte sich nun livide Färbung des Antlitzes, besonders
um Nase und Mund, nicht selten aber auch Störung der
Gehirn thätigkeit. Li dieser Beziehung verdient der Fall ei»
nes siebenjährigen Knaben erwähnt zu werden, bei welchem
155
durch eine energische Behandlung die von Seiten der Respi-
rationsorgane drohenden Erscheinungen glücklich beseitigt
waren, dessen fast cyano tische Gesichtsfarbe jedoch auf eine
bedeutende Entmischung des Blutes hindeutete, ln der That
starb der kleine , mit Mühe erhaltene Kranke in der Nacht
vom dreizehnten zum vierzehnten Tage in einem heftigen
Anfalle von Convulsionen , denen schon am Abend Trübung
des Bewusstseins und leichte Delirien vorausgegangen waren.
In allen übrigen Eällen erfolgte der Tod schon am drit-
ten oder spätestens am fünften Tage nach dem ersten Ein-
tritte der Croupsymptome entweder in einem heftigen Anfalle
von Glottiskrampf, oder in Folge der ausgebreiteten Bron-
chitis : ein comatöser Zustand, auch wohl leichte Zuckungen,
fehlten in den letzten Tagen selten. Die Annahme, dass
die Suffocation durch das plastische Exsudat in den Luft-
wegen bedingt werde, ist nicht immer gerechtfertigt, da
mitunter Fälle von bedeutender Ueberfüllung der Bronchien
mit Concrementen Vorkommen, ohne dass eine beträchtliche
Dyspnoe die Folge davon wäre. Vielmehr ist es entweder
der Spasmus glottidis oder die Heftigkeit der Bronchitis,
wodurch der Athmungsprocess und die Oxydation des Blutes
so wesentliche Störungen erleiden, welche den Tod in den
meisten Fällen bedingen, woraus auch die Nutzlosigkeit der
Tracheotomie in dieser Krankheit erhellt.
Nur bei zwei Kindern konnte man den Tod von dem
mechanischen Hinderniss in den Luftwegen herleiten. Bei
dem einen Kinde, einem sechsjährigen Mädchen, welches am
fünften Tage der Krankheit unterlag, fand man in der Höhle
des Larynx eine Exsudation von gallertartiger Lymphe, wel-
che die Glottis fast zur Hälfte verklebte; in der Luftröhre
selbst sass ein röhrenförmiges Exsudat von anderthalb Zoll
Länge und vier Linien Dicke, unter welchem die Schleimhaut bei
weitern blasser als an ihren freien Stellen erschien. Dao-eo-en
r» Ö Ö
fand man eine sehr starke Iiöthung an der Bifurcation, von
■\\o aus sie sich bis in die feinsten \ erzweigungen der Bron-
chien verfolgen liess. In dem zweiten Falle, wo der Tod
156
schon am dritten Tage erfolgte, waren die Trachea und die
Bronchialschleimhaut ganz frei von krankhaften Erscheinun-
gen, dagegen zeigte sich der untere Lappen der linken Lunge
im Zustande der Hepatisation. Die Schleimhaut des Larynx
war besonders an der Glottis mit einer Schicht einer gelblich
weissen purulenten Masse bedeckt, welche auch die Mor-
GAGNi’schen Ventrikel vollständig ausfüllte. Das Exsudat
Hess sich, besonders in der Gegend der Stimmbänder, leicht
von der gerötheten Schleimhaut trennen, und bestand nach
den Resultaten der mikroskopischen Untersuchung zum
grossen Tlieil aus Zellen, welche denen des Cylinderepithe-
liums glichen, aber mit andern mehr in die Länge gezogenen
vermischt waren, welche letzteren das Ansehn sich in Fasern
verlängernder Zellen hatten. Auch Eiterkörperchen fanden
sich in grosser Menge vor. Auffallend war in diesem Falle
noch eine bläschenartige Auftreibung der Papillen an der
Zungenwurzel, aus welchen sich eine eiterartige Flüssigkeit
ausdrücken Hess.
In einem dritten Falle, wo das Exsudat erst unterhalb
der Glottis begann, und vorzugsweise fest an der nicht ge-
rötheten Schleimhaut der hintern Luftröhrenwand haftete,
ergab die von Herrn Dr. IIelbert, welcher damals als Prak-
tikant die Klinik besuchte, angesteUte Untersuchung folgen-
des Resultat: Die der Schleimhaut zunächst Hegende, also
zuletzt exsudirte Schicht zeigte in einem amorphen Cytobla-
stem ZeUen mit ziemHch runden , grossen dunkeln Kernen,
in welchen sich wiederum zwei und drei Nuclei unterscheiden
Hessen. Die den Kern eng umschHessende ZeUenmembran
war sehr dünn und löste sich in Essigsäure auf. Die äusserste,
zuerst exsudirte Schicht zeigte viele vollkommen ausgebildete
Fasern, in welchen noch hie und da die ZeUenkerne sichtbar
waren. Zwischen den Fasern lagen geschwänzte, mit ihren
Enden sich berührende ZeUen, deren Kerne nicht mehr so
otoss wie die der vorerwälmten ZeUen waren, und daher eine
Ö
weit deutlichere ZeUenmembran darboten. In der ganzen
Masse des Exsudats waren viele EpitheUumzellen eingestreut.
Eine beim Husten ausgewogene Croupmembran hatte Herr
Dr. Rem ak die Güte, mikroskopisch zu untersuchen. Die
Membran bestand grüsstentheils aus einem sehr feinen Gewebe
von Faserstoff, worin zahlreiche Schleimkörperchen einge-
filzt waren. Dagegen Hessen sich weder Epithehumzellen
noch Eiterkörperchen deutlich nachweisen, indem sich die letz-
tem wegen ihrer grossen Aehnlichkeit mit geplatzten Schleim-
zellen nicht hinlänglich von diesen unterscheiden. Beim Zu-
satz von Essigsäure löste sich das feine Faserstoffgewebe
auf, und die eingefilzten Körperchen schwammen frei in der
Flüssigkeit umher.
Die in der PoHkHnik übliche Behandlung des Croup
bestand hauptsächlich in wiederholten Blutentleerimgen und
dem innern Gebrauche starker Dosen des Brechweinsteins.
Aderlässe leisten nicht viel, pflegen sogar die spastischen
Zufälle noch zu steigern; man beschränkte sich deshalb auf
die topischen Blutentleerungen durch Blutegel, welche, um
die Yorderfläche des Halses für andre Zwecke frei zu erhal-
ten, gewöhnlich in der Grube oberhalb des Manubrium sterni
applicirt winden. Die Wiederholung der Blutentleerung lich-
tete sich vorzugsweise nach der Intensität der begleitenden
Bronchitis, aus welchem Grunde die wiederholte Auscultation
der Brust in ihrem ganzen Umfange niemals verabsäumt
•wurde. In diesem Falle apphcirte man die Blutegel in ge-
höriger Menge auf die Brust selbst, und Hess die Stiche,
reichlich nachbluten. Zum innern Gebrauche Avurde von An-
fang an der Tart. stibiatus im brechenerregender Dosis ge-
reicht, Avelchem das in dieser Krankheit so sehr gepriesene
Calomel an Wirksamkeit bei weitem nachsteht. Die Reaktion
gegen den Tartar, einet, war aber in der Regel so unbedeu-
tend, dass nach ein- oder zweimaHgcm Erbrechen trotz der
verstärkten Dosen die nauseöse Wirkung ausbHeb, und nur
die purgirende förtdauerte ; ja selbst das Cuprum sulphuricum,
zu welchem in einigen Fällen übergegangen wurde, blieb
ohne Erfolg, und nur die in voUer Dosis verordnete Ipeca-
cuanha vermochte starkes Erbrechen und den Auswurf hau-
158
%
tiger Gebilde zu bewirken. Obwohl die Ausstossung des
Exsudats keineswegs die Hoffnung auf Genesung erwecken
darf, so hatte sie doch bei jenem schon oben erwähnten Kna- •
ben, der am vierzehnten Tage der Krankheit unter Convul-
sionen starb, einen auffallenden Nachlass der gefahrdrohend-
sten Erscheinungen zur Folge. Als Gegenreiz ander vordem
Fläche des Halses wurde entweder das Ol. Croton. oder eine
Mischung von Unguent. einer, mit Tart. stibiat., oder ein
Vesicator, zu dessen Offenhaltung man sich der grauen
Quecksilbersalbe bediente, angewendet. Bei steigender Gefahr
sind noch starke Ableitungen an verschiedenen Kürpertheilen,
im Nacken, an den Extremitäten, zu empfehlen. Die von
Petersburg aus gerühmten kalten Begiessungen wurden, da
sie sich in einigen ausserhalb der Klinik beobachteten Fällen
durchaus nicht bewährt hatten, in der Klinik nicht in Ge-
brauch gezogen.
Bei weitem häufiger als die acuten, kamen die chro-
n i s c h e n entzündlichen Affektionen des Kehlkopfs und der
Luftröhre zur Behandlung. Meistentheils waren sie catar-
rhalischer Natur; wenigstens liess sich in keinem Falle eine
bestimmte dyskrasischc Grundlage nachweisen, es müsste
denn, wie es allerdings nicht selten der Fall war, gleichzeitig
Tuberkulose der Lungen bestanden haben. Mit Uebergehung
der hinlänglich bekannten Symptome, mögen hier nur einige
Worte über die übliche Behandlung dieser Zustände ihre
Stelle finden. Nachdem man sich durch eine sorgfältige phy-
sikalische Untersuchung der Brustorgane von der Integrität
derselben und der Beschränkung der Affektion auf den ober-
sten Theil der Luftwege überzeugt hatte, wurde die Be-
handlung mit topischen Blutentleerungen, die von Zeit zu
Zeit wiederholt wurden, begonnen. Einreibungen mit der
grauen Quecksilbersalbe, und der innere Gebrauch einer
Verbindung des Calomels mit Sulphur aurat., die in solchen
Fällen sehr zu empfehlen ist, bewirkten dann gewöhnlich
einen baldigen Nachlass der Schmerzhaftigkeit und des rau-
hen, quälenden Hustens. Gegen die von allen Symptomen
159
am längsten bestehende Heiserkeit zeigten sich Einreibungen
in die V orderfläche des Halses mit Ol. Croton. von entschie-
dener Wirksamkeit. Der Erfolg derselben war nicht selten
so schnell, dass schon nach dem ersten Erscheinen des ekze-
matösen Ausschlags eine auffallend günstige Veränderung der
Stimme beobachtet wurde. Ein Haupterforderniss zum Ge-
lingen der Kur ist aber Schonung des erkrankten Organs:
der Kranke muss es sich zur Pflicht machen, so wenig als
möglich zu sprechen. Durch eine so geleitete, beharrlich
fortgesetzte Behandlung gelang es in den meisten Fällen, wo
nicht Complicationen mit einem wichtigen Leiden der Brust-
organe stattfanden, die Heilung zu Stande zu bringen. Bei
dieser Gelegenheit sei noch eines Mineralwassers gedacht,
welches in chronischen Entzündungen des Kehlkopfs, nament-
lich solchen, die in einer impetiginösen Basis zu wurzeln
scheinen, mit vollem Recht empfohlen werden kann. Dies
ist die Weilbachcr Schwefelquelle, die man Morgens (auch
wohl im Bette) bei nüchternem Magen zu drei Weingläsern
trinken lässt. Dieses Schwefelwasser zeigt sich nicht selten
auch da noch erfolgreich, wo man schon beginnende Tuber-
kelbildung in den Lungen vermuthen darf, und kann auch
bei nicht nachweisbarer impetiginöser Grundlage ohne Scheu
versucht werden. Doch darf nicht verschwiegen werden, dass
es in einem in der Klinik behandelten Falle völlig unwirksam
blieb, was freilich durch die Sektion erklärt wurde, da beide
Stimmbänder bereits durch Ulceration zerstört, die Lungen
selbst durch und durch mit Tuberkeln angefüllt, an einigen
Stellen auch schon Excavationen gebildet waren.
In der acuten Bronchitis und Pneumonie wurde
nach vorausgeschickten allgemeinen und örtlichen Blutentlee-
rungen, wenn nicht Contraindicationen stattfanden, die Be-
handlung mittelst des Tartar, emeticus (4 — 6 Gran in vier
Tnzen Wassers, zweistündlich einen Esslöffel voll, für Er-
wachsene) allen andern Methoden vorgezogen. Nur bei der-
jenigen 1 orm der Bronchitis kleiner Kinder, welche mit der
Dentition iin Zusammenhänge steht, fand das Calomel in
160
V erbindung mit kleinen Dosen der Radix Ipecacuanhae seine
Anwendung. Die Bronchitis der Kinder erfordert überhaupt
die grösste Vorsicht in der Behandlung: sie erträgt starke
Blutentleerungen bei weitem nicht so gut, wie die Pneumonie,
und eine zu energische Antiphlogose straft sich leicht durch
übermässige Secretion der Schleimhaut und drohende Suffo-
cation. Der Zeitpunkt, wo der Uebergang von der antiphlo-
gistischen Methode zur stimulirenden gemacht werden muss,
lässt sich freilich nicht mit Bestimmtheit angeben: am we-
nigsten dürfen aber die Resultate der physikalischen Unter-
suchung hier in Betracht gezogen werden. Vielleicht ist dies
der einzige Fall, wo Laennec’s glänzende Entdeckung eher
Schaden als Nutzen stiften kann, indem die Ergebnisse der
Auscultation leicht zur Fortsetzung der Antiphlogose auffor-
de'rn können, während der Allgemeinzustand des Kranken
das Vertauschen derselben mit der reizenden Heilmethode
dringend erfordert. Sobald daher Prostration der Kräfte,
bleiche Farbe des Antlitzes, auch wohl kühle Temperatur
der Wangen, bei Kindern ein Aufwärtsrollen der Augäpfel
eintrat, Hess man sich durch das Fortbestehen der physikah-
schen Symptome nicht davon abhalten, bei Erwachsenen das
Opium, bei Kindern ein Infusum Radic. Senegae mit kleinen
Dosen des Licp C. C. succin. zu verordnen, worauf in der
Regel schnelle Besserung; eintrat. Auch bei Erwachsenen
leistete die Senega, nach vorgängiger Anwendung des Opiums,
durch Verbesserung und Erleichterung des Auswurfs die
trefflichsten Dienste.
Unter den Folgekrankheiten der Pneumonie verdient be-
sonders ein Fall in therapeutischer Beziehung mitgetheilt zu
werden. Derselbe betrifft einen 55jährigen, früher gesunden
Mann, welcher in Folge einer heftigen Lungenentzündung
in Phthisis pulmonum verfallen war. Dafür sprachen nicht
allein che funktionellen Symptome, hektisches Fieber mit pro-
fusen Nachtschweissen, bedeutende Abmagerung, Ocdem der
untern Extremitäten, Luftmangel, und Husten mit eiteri-
gem Auswurf, sondern auch die physikaüsche Untersuchung
I
161
ergab alle Symptome, welche zur Annahme einer Excavation
im mittleren Lappen der rechten Lunge berechtigten. Die
bisher ungetrübte Gesundheit, der Mangel jeder erblichen
Anlage, und das Auftreten der Krankheit in Folge einer
vorauso-ecfanffenen Pneumonie machten das Bestehen eines
Lungenabscesses in diesem Falle wahrscheinlicher , als die
Annahme einer wirklichen Phthisis tuberculosa. Unter dieser
Voraussetzung wurde dem Kranken, nach vorausgeschicktem
vierwöchentlichem Gebrauch des schlesischen Obersalzbrun-
nens, die China im Decoct verordnet, deren mehrere Monate
lang fortgesetzter Gebrauch, unterstützt durch den Aufent-
halt auf dem Lande, den Kranken vollständig herstellte.
Nachdem derselbe zur Nachkur noch längere Zeit den Le-
berthran gebraucht hatte, stellte er sich sieben Monate nach
dem Anfänge der Kur als vollkommen genesen in der Klinik
vor. Zum Beweise der wiedererlangten Gesundheit dient
noch der Umstand, dass er seinem Geschäfts ale Frisör,
wobei er viel umherlaufen und Treppen steigen muss, jetzt
ohne alle Beschwerden vorstehen kann.
Das Emphysema pulmonu m als F olgekrankheit und
Begleiter chronischer Katarrhe wurde in fünf Fällen beobachtet.
Sein- auffallend war bei einem dieser Kranken die bereits
von Stokes erwähnte Aufwulstung und livide Färbung der
Lippen, die vorzugsweise in den asthmatischen Anfällen ihr
Maximum erreichte. Eine von Louis angegebene Erschei-
nung, die Ausfüllung der Supraclaviculargruben, zeigte sich
nur in einem Falle, während in allen übrigen die genannten
Gruben tiefer, als im gesunden Zustande ausgehöhlt waren. .
Der Tod des einen Kranken gab Gelegenheit, die während
des Lebens gestellte Diagnose durch die Section zu bestäti-
gen. Bei einem 43jährigen Manne hatte sich in Folge an-
strengender Arbeiten im Freien ein chronischer Bronchialka-
tarrh entwickelt, zu welchem sich bald heftige Anfälle von
Athemnoth , namentlich bei starken Bewegungen und zur
Nachtzeit hinzugesellten. Von Zeit zu Zeit schwollen die
Füsse ödematös an. Bei der Untersuchung zeigte sich eine
11
lf>2
starke Hervorwölbung der ganzen Brust; die Leber war
durch Abwärtsdrängen des Zwerchfells unter den falschen
Rippen deutlich fühlbar. Die Percussion ergab einen sonoren,
an einzelnen Stellen fast tympanitischen Ton im ganzen Um-
fange der Brust, während die Auscultation einen gänzlichen
Mangel des vesiculären Athmungsgeräusches, welches durch
trockne Rasselgeräusche verschiedener Art ersetzt wurde,
nachwies. Die genannten Symptome, welche die Diagnose
des Lungenemphysems unzweifelhaft machten, steigerten sich
im Laufe weniger Jahre zur furchtbarsten Qual, welcher
eine sich hinzugesellende allgemeine Wassersucht ein ersehntes
Ende machte. Bei der Section fand man ausser den Erschei-
nungen des Ascites und Ilydrothorax die vermuthete Krank-
heit in beiden Lungen. An verschiedenen Stellen derselben,
besonders aber in der Nähe der vordem Ränder, zeigten sich
elastisch anzufühlende Hervortreibungen, die sich durch eine
hellere Färbung von ihrer Umgebung auszeichneten, und aus
einer lufthaltigen , atrophischen Lungensubstanz bestanden.
Sie sanken beim Einschnitte schnell zusammen, und aus den
erweiterten Lungenzellen entwich die Luft ohne deutliches
Knistern. Der Umfang des Herzens war durch eine Dilata-
tion und Hypertrophie des mit schwarzem Blute überfüllten
rechten Ventrikels bedeutend vergrössert.
Die Behandlung des Emphysems war vorzugsweise auf
Bethätigung der Nierensecretion gerichtet, zu welchem Zwecke
man sich eines diuretischen Thees, der Präparate der Scilla
(Tinctur. Scill. kalin., mit Acetum scilliticum bereiteten Sa-
turation des Natron carbonicum) bediente. In einigen Fällen
sah man vom Gebrauche des Kali sulphuratum, für sich oder
in Verbindung mit Gm. ammoniacum in Pillenform gegeben,
temporär gute Wirkung.
Bei dem überaus häufigen Vorkommen der Phthisis
tuberculosa pulmonum darf es nicht Wunder nehmen,
dass die Mehrzahl der in der Klinik behandelten Lungen-
kranken an diesem Uebel litt, woran leider alle Heil ver-
suche scheiterten. Zu wiederholten Malen hatte man Gele-
genheit, die Entwicklung der Tuberkeln in Folge acuter
Exantheme, des typhösen Ivrankheitsprocesses, des Keuch-
hustens zu beobachten. Bei acut auftretender, schon im Be-
ginne von starker allgemeiner Reaktion begleiteter Tuberku-
lose zeigten sich wiederholte kleine Blutentleerungen, Molken-
kuren, überhaupt eine gelind antiphlogistische Behandlung
und eine entsprechende Diät, am wirksamsten. Von Exuto-
rien an der dem Sitze der Tuberkeln entsprechenden Stelle
der Brustwand beobachtete man keine Erfolge. Anders ge-
staltete sich die Behandlung in den Fällen, wo sich eine
anämische Basis der Tuberkelbildung nachweisen Hess, in
welcher Beziehung vorzugsweise zwei Fälle bemerkenswert!!
sind. Der erste betrifft eine 36jährige Frau, welche nebst
einer Reihe hysterischer Symptome alle Erscheinungen der
Anämie, auch das anämische Geräusch in der rechten Karotis
darbot, und seit einiger Zeit sichüich abgemagert war. Muss
nun schon bei Hysterischen Abmagerung immer Verdacht erre-
gen, so war dies bei dieser Kranken um so mehr der Fall,
da sich gleichzeitig ein quälender Husten mit geringem,
schleimigem Auswurfe eingestellt hatte, und die Auscultation
im obem Theile der rechten Lunge am Rande des Brustbeins
ein auffallend schwaches Respirationsgeräusch ergab. Unter
diesen Umständen wäre eine antiphlogistische Behandlung
der beginnenden Tuberkulose ganz am imrechten Orte ge-
wesen: vielmehr wurde eine Auflösung des Extract. Chinae
ffig. parat, und gleichzeitig ein Tliee aus Rad. Valerianae
mit Herb. Trifol. fibrini verordnet. Der günstige Erfolg dieser
Mittel veranlasste bald die Verbindung derselben mit dem
Gebrauche des Spaawassers, welches mit Milch vermischt,
Morgens zu einem bis zwei Weingläsern, getrunken wurde, imd
sich so wirksam zeigte, dass die Kranke nach Verlauf eines
Vierteljahrs als vollkommen genesen betrachtet werden konnte,
indem nicht allein die beunruhigenden functionellen Symptome
ganz verschwunden Ayarcn , und die Reproduktion sich gebes-
sert, sondern auch das Respirationsgeräusch an der verdäch-
tigen Stelle seinen natürlichen Charakter wieder angenommen
11*
164
hatte. Auch im zweiten, dem eben erwähnten ganz ähnlichen
Falle, wo die Bildung der Tuberkeln durch übermässige
Laktation (die Kranke säugte zwei kräftige Kinder gleich-
zeitig) bedingt zu sein schien, hatte der Gebrauch der China
in Verbindung mit einer Milchkur die Besserung des Allge-
meinbefindens und gleichzeitig ein Zurücktreten der von den
Lungen herrührenden Symptome zur Folge.
Eine besondere Betrachtung erheischt die tuberkulöse
Lungenphthise des kindlichen Alters, da sie in mancher
Beziehung von der der Erwachsenen wesentlich abweicht.
Während bei diesen das Beschränktsein der Tuberkelbil-
dung auf die Lungen eine häufige Erscheinung ist, wurde
bei Kindern fast ohne Ausnahme eine Complication mit tu-
berkulöser Entartung andrer Organe, namentlich der Mesen-
terialdrüscn und der Milz, seltener des Gehirns, beobachtet.
Auffallend ist ferner die Vorliebe, welche die Tuberkeln im
kindlichen Alter für die Bronchialdrüsen zeigten, die
nicht selten zu umfangreichen käsigen Massen entartet wa-
ren, wenn auch die Tuberkelbildung in der Limge selbst erst
ihren Anfang gemacht hatte. Durch die physikalische Unter-
suchung lässt sich die Diagnose dieser Affektion nur selten,
und zwar in den Fällen feststellen, wo durch den Umfang
der tuberkulösen Drüsen die grossen Bronchialstämme com-
primirt werden, oder nach dem Eintritt des Erweichungssta-
diums eine Communication des Abscesses mit einem Bronchus
entsteht, wobei indess das stattfindende Rasseln leicht zur
Annahme einer Excavation in den Lungen selbst verleiten
kann. In einem Falle fand man in der Bifurcation der Luft-
röhre und an der Wurzel der Lunge ein hühnereigrosses
Paket tuberkulöser Drüsen, welches mit dem rechten Bronchus
verwachsen, denselben so comprimirte, dass der Eintritt der
atmosphärischen Luft in die rechte Lunge dadurch gehindert
wurde. Dieser Befund erklärte den während des Lebens
beobachteten Mangel des vesiculären Athmungsgeräusches in
der rechten Brusthälfte. Auch die grossen Venenstämme der
Brust sind in solchen Fällen der Compression ausgesetzt,
165
wovon li viele Färbung des Gesichts, ödematöse Anschwellung'
der Hände, der untern Augenlider u. s. w. die Folge ist.
Am merkwürdigsten und in diagnostischer Hinsicht am wich-
tigsten sind indess diejenigen Symptome, welche von einer
C'ompression des N. vagus oder seiner Aeste abhängen, und
noch nicht nach Gebühr' gewürdigt worden sind. Anfälle
von Beklemmung, welche auf jede Anstrengung sich einstel-
len, und bei Versuchen, tief zu inspiriren, an Intensität bis
zur drohenden Erstickung zunehmen, geräuschvolles, zischen-
des Athmen, flüsternde, rauhe, heisere Stimme, Hustenstösse,
die wegen des gellenden oder schrillenden Schalles beim Ein-
athmen mit der Tussis convulsiva Aehnlichkeit haben, Ras-
selgeräusche in den Lungen, welche oft schon in einiger
Entfernung hörbar sind, bei mangelnder Empfindung der
Ueberfüllung der Bronchien, — sind Symptome, welche der
tuberkulösen Phthisis der Lungen nicht zukommen , und
jederzeit den Verdacht einer tuberkulösen Entartung der
Bronckialdriisen und Beeinträchtigung des N. vagus erwecken
müssen. Diese Diagnose wurde auch durch die Section in
allen Fällen bestätigt. Man fand den Vagus, den Stamm
oder seine abtretenden Bündel, von der entarteten Drüsen-
masse umgürtet, comprimirt, abgeplattet, dünn, atrophisch,
oder dergestalt mit ihr verschmolzen, dass es unmöglich war,
die Nervenfasern weiter zu verfolgen.
Einige ausgewählte Fälle mögen als Beispiele des Ge-
sagten dienen.
1. Ein vierjähriger Knabe wurde mit lividem, ödematös
angeschwollenem Gesicht, heftigem, mit B eklemmungs-
anfällen und pfeifender Inspiration verbundenem
Husten in die Klinik gebracht. Dieser Zustand bestand be-
reits seit mehreren Monaten, hatte sich aber, nachdem das
Kind von den Masern befallen worden, bedeutend verschlim-
mert. Rasselgeräusche verschiedener Art, besonders aber
feuchte, Hessen sich im ganzen Umfange des Thorax hören.
Die bedeutende Abmagerung und Erschöpfung der Kräfte
machte die Prognose höchst ungünstig, und nach dem bald
1GG
erfolgten Tode des Kindes fand man, nebst den Zeichen einer
chronischen Bronchitis in beiden Lungen, die Tracheal- und
Bronchialdrüsen stark angeschwollen, viele tuberkulös. Die
beiden N. recurrentes' wurden von diesen Drüsen dergestalt
umschlossen, dass es nicht möglich war, sie aus denselben
heraus zu präpariren.
2. Bei einem fünfjährigen Mädchen stellte sich drei
Monate vor dem Tode ein kurzer Husten, abendliches Fieber
und vollkommene Aphonie ein, so dass man anfangs zur
Annahme einer chronischen Laryngitis geneigt war. Bald ge-
sellten sich jedoch die charakteristischen, von schrillenden
Inspirationen b e gleitet enE r stickun gs anfäll e hinzu,
die Abmagerung machte reissende Fortschritte und copiöse
Durchfälle beschleunigten den Tod des Kindes. Bei der
Section fand man vor der Luftröhrentheilung, besonders nach
der rechten Seite hin, ein ovales, anderthalb Zoll langes und
einen Zoll dickes Convolut angeschwollener Bronchialdrüsen, die
beim Einschnitt theils einfache Hypertrophie, theils Ablagerung
von zum Theil schon in Erweichung übergegangenen Tuber-
keln zeigten. Der N. recurrens der rechten Seite war mit
dieser Masse fest verwachsen und durch dieselbe dergestalt
comprimirt, dass seine normale Structur sich durchaus nicht
mehr erkennen liess.
3. Ein anderthalbjähriges , aufgefüttertes Mädchen litt
seit sechs Monaten an einem trockenen Husten, zu welchem
sich ein starkes Röcheln beim Athemholen gesellte. Als das
Kind in der Klinik vorgestellt wurde, war es bereits in
hohem Grade abgemagert, der Bauch stark aufgetrieben
und bei der Percussion tympanitisch tönend, der Stuhlgang
bald hartnäckig verstopft, bald sehr copiös und wässrig.
Auffallend war der Contrast des starken Röchelns mit den
langsamen Respirationsbewegungen und dem ruhigen Gesichts-
ausdruck des Kindes. Von Zeit zu Zeit traten Anfälle von
Orthopnoe ein, wobei nach der Beschreibung der Mutter
ein pfeifender Ton, wie in der Tussis convulsiva, gehört
wurde. Die Vorderfläche der rechten Brust gab bei der Per-
167
cussion einen matten Ton, und das Respirationsgeräusch
fehlte auf dieser Seite gänzlich. Auch bemerkte die Mutter,
dass das Kind nur auf der rechten Seite liegen konnte. Drei
Monate später erfolgte der Tod. Die rechte Limge aclhä-
rirte mit ihrem obern und mittlern Lappen an der Costal-
pleura. Eine tuberkulöse Excavation von der Grösse eines
Hühnereies, mit zerflossener Tuberkelmasse zum Theil ange-
füllt, hier und da von Strängen obliterirter Gefässe und ver-
ödeter Lungensubstanz brückenartig durchzogen, hatte den
obem Lappen fast vollständig zerstört und erstreckte sich
noch in den mittlern hinein. Der untere Lappen und die
linke Lunge waren der Sitz einer zahllosen Menge cruder
Tuberkeln. Die Cervicaldrüsen längs des Verlaufs des N.
vagus waren auf beiden Seiten mässig angeschwollen. Vor
der Bifurcation der Trachea, mit dem obern Lappen der rech-
ten Lunge und dem Pericardium fest verwachsen, lag ein
hühnereigrosses Convolut tuberkulöser Bronchialdrüsen, wel-
ches den rechten Bronchus comprimirte, und den Vagus und
Recurrens derselben Seite so fest umschloss, dass ihre nor-
male Textur in der rings umgebenden käsigen Entartung
völlig untergegangen war.
Entzündungen der Pleura kamen sowohl im acu-
ten, als chronischen Zustande sehr häufig zur Behandlung.
Die Lnterscheidung derselben von rheumatischen Aifektionen
der Brustmuskeln und des Periosteumist indess nicht in allen
Fällen so leicht, als man gewöhnlich zu glauben geneigt ist,
und selbst die physikalische Untersuchung giebt nicht immer
genügenden Aufschluss. Zum Beweise des Gesagten diene
der Fall eines kräftigen Tagelöhners, welcher nach einer star-
ken Anstrengung, wobei er dem Zugwinde ausgesetzt war,
heftige Schmerzen in der linken Seite mit erschwertem
Athemholen bekam. Nachdem dieser Zustand drei Wochen
hindurch bestanden hatte, meldete sich der Kranke in der
Klinik. Er empfand noch immer lebhafte Schmerzen im
untern seitlichen Theile der linken Brust, die durch äussern
Druck noch bedeutend gesteigert wurden, und wenn auch
168
dieser letzte Umstand im Verein mit der Schmerzhaftigkeit
bei Bewegungen des linken Arms eine Affektion der Brust-
muskeln vermuthen liess , . so schien doch andrerseits der
dumpfe Percussionston, und die auffallende Schwäche des
cellularen Athmungsgeräusches an der genannten Stelle
eine circumscripte Pleuritis mit massigem Exsudat anzuzei-
gen. Die nach dieser Ansicht eingeleitete antiphlogistische
Behandlung hatte . indess nicht den geringsten Erfolg, viel-
mehr nahm trotz wiederholter Blutentleerungen und der Applica-
tion eines Vesicators die Empfindlichkeit gegen äussem Druck,
besonders im Verlaufe der Kippen selbst, auffallend zu, so
. dass der Verdacht einer rheumatischen Affektion der Mus-
keln, und selbst des Periostcum der Rippen immer festeren Fuss
fasste. In dieser Voraussetzung, wurde zum innern Gebrauch
der Sublimat verordnet, und in die schmerzhafte Stelle die
Sublimatsalbe (Hydrarg. mur. corros. Jß, Axung. Pore. 3ß)
bis zur Blasenbildung eingerieben, worauf schon nach acht
Tagen bedeutende Besserung eintrat, und nach dreiwöchent-
licher Fortsetzung dieser Kur der Kranke als vollständig
geheilt entlassen werden konnte. Der dumpfe Ton bei der
Percussion und die Schwäche des Respirationsgeräusches an
der schmerzhaften Stelle sind wahrscheinlich als Folgen die-
ser Schmerzhaftigkeit zu deuten, wodurch die freie Ausdeh-
nung der Brustwandung und des entsprechenden Theils der
linken Lunge beschränkt wurde, eine durch Schmerz bedingte
Immobilität, die überhaupt nicht selten vorkommt.
Auch Fälle von E m p y e m gehörten zu den häufiger
beobachteten Krankheiten. Nirgends zeigte sich der Werth
der physikalischen Untersuchungsmethode, in einem glänzen-
deren Lichte, als bei solchen Kranken, deren Beschwerden
zuweilen nur in einem lästigen, trocknen Husten, und einem
geringen Grade von Dyspnoe bestanden, gegen welche indess
von andern Aerzten nach blosser Erwägung der functionei-
len und reactionellen Symptome eine Reihe der verschieden-
sten Mittel ohne Erfolg gebraucht worden war, während schon
die erste in der Klinik angestellte Exploration der Brust das
0 '
169
Vorhandensein eines Empyems nachwies. Vor allen verdient
liier der Fall eines sechszigjäluigen Mannes Erwähnung,
welcher einige Monate vor seiner Anmeldung in der Polikli-
nik an einer acuten Brustaffektion, die durch eine antiphlo-
gistische Behandlung bekämpft worden, gelitten hatte, seit
dieser Zeit aber von einem anhaltenden trockenen Husten und
Athembeschwerden, die sich vorzugsweise bei Bewegungen
kund gaben, gequält wurde. Alle bisher verordneten Mittel
waren erfolglos geblieben, und die stete Zunahme seiner Lei-
den veranlasste den Kranken endlich, in der Klinik Hülfe zu
suchen. Die Untersuchung liess an dem Vorhandensein ei-
nes Empyems in der buken Brusthälfte keinen Zweifel auf-
konnnen : Stillstand der Athembewegungen auf dieser Seite?
Mangel der Vibration beim Sprechen, stärkere Wölbung der
linken Brust, deren Umfang den der rechten um zwei Zoll
übertraf, matter Percussionsschall auf der hintern und vordem
Fläche, und gänzheher Mangel des Atlnnungsgeräusches wa-
ren die imzweideutigen Symptome. Das Herz war nach der
rechten Seite dislocirt. Der Allgemeinzustand des Kran-
ken, das abencUich exacerbirende Fieber, die ödematöse An-
schwellung der untern Extremitäten und des Scrotums Hessen
eine zweifelhafte Prognose stellen, und nur die früher kräftige
Gesundheit des Mannes, zumal seine Versicherung, bisher
niemals an Krankheiten der Brustorgane gelitten zu haben,
gab ein einigermassen günstiges Moment ab. Die Behandlung
bestand in dem inneren Gebrauche eines Infus. Hb. Digital,
purp, mit Terr. fobat. Tart., und in Aufpinselungen der Tinct.
Jodi auf die leidende Brusthälfte. Trotz einer reicldich ver-
mehrten Diurese bewirkte aber die Digitalis narkotische Er-
scheinungen, Schwindel, Flimmern vor den Augen, und ein
eigentümliches Gefühl der Formication längs des Rückens,
so dass sie nach acht Tagen mit Pillen aus Gummi Guttae
und Extr. Rad. Scillae vertauscht werden musste. Die öde-
matöse Geschwulst des Scrotums und der untem Extremitä-
ten war vollständig verschwunden, da« Exsudat in der Brust-
höhle jedoch ungeachtet eines starken, durch die Jodtinctur
170
bewirkten Erythems noch nicht vermindert. Acht Tage später
jedoch gab der obere Theil der linken Brust bis zur vierten
Rippe hinab schon einen hellen Ton bei der Percussion und
auch das vesiculäre Athmungsgeräusch stellte sich in diesem
Umfange wieder her; der Kranke konnte, was bisher nicht
möglich gewesen, ohne Beklemmung auf der linken Seite
liegen, und auch sein Allgemeinbefinden hatte sich wesentlich
gebessert. Um die Abschilferung der gebräunten Oberhaut
abzuwarten, waren die Aufpinselungen der Jodtinctur mehrere
Tage ausgesetzt worden. Diese wurden nun wiederum be-
gonnen, und zum innern Gebrauche von neuem die Digitalis
verordnet. Unter dieser Behandlung besserte sich der iGanke
von Tag zu Tag, die Resorption der ergossenen Flüssigkeit ging
kräftig von Statten, und so konnte man nach vierzehn Tagen
mit Rücksicht auf das Daniederliegen der Kräfte denUeber-
gang zur roborirenden Methode machen : es wurde ein Decoct.
Chinae, animalische Kost, und der Genuss eines bittem Biers mit
so gutem Erfolge verordnet, dass der Kranke zwei Monate,
nachdem er sich in der Klinik gemeldet, sein gesundes blü-
hendes Aussehn wiedererlangt hatte ; Husten und Beklemmung
waren verschwunden ; das Herz pulsirte wieder an der normalen
Stelle, und nur ein matter Ton am untersten seitlichen Theile
der linken Brust, wo auch noch das Athmungsgeräusch vermisst
wird, so wie der tiefere Stand des linken Schulterblatts, und
die schwächeren respiratorischen Bewegungen der linken Brust-
hälfte geben noch Kunde von der wichtigen Krankheit.
In ganz ähnlicher Weise wurde die Behandlung auch in
den übrigen Fällen geleitet, nur statt der Jodtinctur öfters
Einreibungen des Unguent. Kali hydriodici täglich zu einer
bis zwei Drachmen verordnet. Zur Paracentese der Brust
war niemals eine Indication vorhanden: doch verdient der
Fall eines jungen Mannes erwähnt zu werden, welcher vor
mehreren Jahren durch die Operation vom Tode errettet
worden war, und mehrmals in der Klinik vorgestellt wurde,
um an demselben die allmählig wiederkehrende Permeabilität
des Lungengewebes anschaulich zu machen.
171
Bei einem sehr kräftigen 30 jährigen Maurer war in Folge
einer verkannten und homöopathisch behandelten Pleuritis ein
Erguss in die rechte Brusthöhle eingetreten. Da die Consti-
tution des Kranken durch ein schon sechs W ochen bestehen-
des Tertianfieber gelitten hatte, bildeten sich nach einiger Zeit
Anasarca und Ascites, womit die Atlnnungsbeschwerden den
i
höchsten Grad erreichten , und nur durch die wiederholten
Einreibungen der Sublimatsalbe gemildert werden konnten.
Die Diurese war fast ganz unterdrückt und konnte selbst
durch die stärksten urintreibenden Mittel nicht vermehrt
werden. Die Anschwellung nahm trotz wiederholter Punc-
tion des Scrotums und der untern Extremitäten von Tag zu
Tag zu, und war bereits bis zu den Winkeln der Schulter-
blätter gestiegen, als das Wildunger Wasser (eine Flasche
täglich) imd der im Ascites überhaupt sehr wirksame Syrup.
Spinae cervinae verordnet wurde (Syr. dornest., Aq. Menth,
pip. ää 5üj> Spir. nitr. dulc. 3j. M. D.S. dreistündlich einen
Esslöffel voll zu nehmen). Es erfolgten sehr reichliche Stuhl-
entleerungen, zuweilen mit eiterähnlichen Massen vermischt,
die Diurese wurde allmählig vermehrt, imd in demselben
!Maasse nahm auch die hydropische Anschwellung der untern
Extremitäten, des Rumpfs und des Unterleibs ab. Selbst nach
dem Aussetzen des Purgirmittels dauerten reichliche brei-
artige Stuhlgänge noch fort. Jetzt nach einer drei Monate
fortgesetzten Behandlung sind die hydropischen Erscheinun-
gen bis auf ein leichtes Oedem der Unterschenkel ganz
geschwunden, und zugleich ist der pleuritische Erguss in der
rechten Brusthöhle vollständig resorbirt. Sehr auffallend ist
jedoch die während der Kur stattgefundene Bildung eines
ähnlichen Exsudats in der linken Brusthälfte, gegen welche,
bei der übrigens guten Gesundheit des Kranken, nur die
Aufpinselungen der Jodtinctur, mit Ausschluss aller innern
Mittel, angewendet werden.
Unter clen organischen Krankheiten des Herzens kamen
Hypertrophieen des linken Ventrikels mit Erweiterung
am häufigsten vor. In einigen Fällen, namentlich im kind-
lichen Alter und in der Periode der Pubertät, liess sich die
Entstehung der Krankheit auf kein bestimmtes Causalmoment
zurückführen : im vorgerückteren Lebensalter wurde nicht
selten ein entzündliches Brustleiden oder besonders ein vor-
ausgegangener Gelenkrheumatismus als Ursache nachgewie-
sen. Beispiele der letztem Art fehlten incless auch bei Kin-
dern nicht. Ein zwölfjähriger Knabe hatte ein Jahr vor
seiner Meldung in der Klinik einen heftigen Anfall von Ge-
lenkrheumatismus überstanden, welcher Palpitationen, Dyspnoe,
die bei Bewegungen zunahm, Schmerzen in der Herzgegend
zurückliess. Bei der Untersuchung zeigte sich der Impuls
des Herzens ausserordentlich verstärkt und über einen grossen
Theil der linken Brustwand verbreitet. Die Percussion er-
gab eine grössere Ausdehnung des dumpfen Schalles als im
Normalzustände, besonders nach der linken Seite hin, die
Auscultation einen sehr gedämpften ersten Herzton, der von
einem, dicht unterhalb der linken Brustwarze am deutlichsten
wahrnehmbaren Blasebalggeräusche begleitet war. Nächtliches
Aufschrecken aus dem Schlafe mit lautem Schreien und An-
fällen von Orthopnoe, Schwindel, und wiederholt eintretendes
Nasenbluten, Flimmern vor den Augen vervollständigten das
Bild der Krankheit, deren Diagnose auf Hypertrophie des
linken Ventrikels mit Insufficienz der Mitralklappe gestellt
wurde. Ein halbes Jahr später erfolgte unter grossen Qua-
len und unter Hinzutritt allgemeiner hydropischer Erschei-
173
mmgen der Tod des kleinen Kranken. Bei der Section fand
man nebst einem bedeutenden Ascites und Ilydrotborax, den
anderthalb Linien dicken Herzbeutel in seinem ganzen Um-
fange so fest mit dem Herzen verwachsen, dass eine Tren-
nimg mittelst des Messers nicht möglich war. Das ITerz
war um das Doppelte vergrössert, beide Ventrikel erweitert,
die Wände des linken beträchtlich hypertrophisch. Die Val-
vula mitralis war ebenfalls verdickt, corrugirt, und unfähig
das Ostimn venosum des linken Ventrikels bei der Systole
vollständig zu schliessen. Li diesem Falle hatte, wie man
mir Gewissheit annehmen kann, der vor einem Jahre statt-
gehabte Anfall von acutem Gelenkrheumatismus eine entzünd-
liehe Affektion des Peri- und Endocardiums zur Folge gehabt,
woraus sich die Verwachsung des Herzbeutels mit dem Her-
zen imd die Desorganisation der Mitralklappe erklären lässt,
zwei Zustände, wovon schon ein jeder für sich, vollends aber
beide im Verein, Hypertrophie der Herzsubstanz nach sich
ziehen müssen.
Hypertrophieen des Herzens, die sich im kindlichen Le-
bensalter bilden, gleichen sich nicht selten in der Pubertäts-
periode wieder aus. Als das wichtigste Mittel, diese Rück-
bildung zu fördern, welches auch bei reinen Herzhypertro-
phieen im Jünglings- und Mannsalter dringend zu empfehlen
ist, bewährt sich das Haarseil in der Herzgegend. Nur er-
warte man keine schnelle Wirkung von demselben, vielmehr
muss es Jahrelang getragen werden, ehe der Einfluss auf das
erkrankte Organ sich deutlich kund giebt. Auf diese Weise
gelang es in zwei Fällen nicht allein eine wesentliche Mil-
derung der Zufälle zu erzielen, sondern bei einem dieser
Kranken, einem jungen Manne von siebenzehn Jahren, kann
auch schon durch die physikalische Untersuchung eine Ab-
nahme des Herzumfanges nachgewiesen werden. *)
*) Auch meine Erfahrung in der Privatpraxis bestätigt die treffliche
Wirkung des lange unterhaltenen Haarseils in Herzkrankheiten. Den
besten Erfolg sah ich in reinen Hypertrophieen, zumal im jugendlichen
Lebensalter. Gegenwärtig ist ein 18jäliriger Fremder von scrofulöser
174
Bei S ä u f e r n wurden zuweilen Erscheinungen beobach-
tet, welche mit denen der Hypertrophie des Herzens grosse
Aehnlichkeit hatten. Die Kranken klagten nämlich überPal-
pitationen und heftige Schläge in der linken Brust, die sich
vorzugsweise beim Liegen auf der linken Seite zu grosser
Qual steigerten, im Stehen aber und durch starke Bewegun-
gen gemildert wurden. Drückendes Angstgefühl, besonders
zur Nachtzeit, schwere Träume, Aufschrecken aus dem
Sclilafe, Dyspnoe beim Treppensteigen, Schwindel und Flim-
mern vor den Augen, wurden nicht vermisst. Diese beun-
ruhigenden Symptome werden indess immer von anderen in
der Sphäre der Digestionsorgane begleitet, welche über die
wahre Natur der Affektion Aufschluss geben. Mangel des
Appetits, heftiger Durst, Ekel, Vomituritionen, gewöhnlich
auch heftige Schmerzen in der Magengrube fehlen nie, und
Constitution hier wieder zum Besuche, dessen Herz, mit dem Plessimeter
gemessen, einen noch einmal so grossen Umfang hatte wie im normalen
Zustande. Der Impuls war erschütternd, die Palpitationen stiegen be-
sonders bei Bewegungen zu einer ausserordentlichen Intensität. Durch
ein zweijähriges Tragen des Ilaarseils hat sich das Volumen des Her-
zens auf die Hälfte verringert, der Herzstoss unterscheidet sich fast nicht
von dem gewöhnlichen, und Bewegungen haben so wenig Einfluss, dass
selbst anhaltendes Tanzen keine Palpitationen hervorruft. Bei fortbe-
stehender rheumatischer Diatliesis verhütet das Haarseil als Exutorium
schlimmere Folgen, Veränderung der Klappen u. s. f. Allein auch wo
dieselben schon eingetreten sind, lässt sich hei jugendlichen Individuen
vom Setaceum noch Gutes erwarten. Vor sieben Jahren war ich von
meinem verewigten Collcgen Df. Thaer zur Behandlung eines sechszehn-
jährigen Predigersohns hinzugezogen worden, bei welchem sich nach vor-
angegangenem aentem Rheumatismus eine heftige Entzündung der fibrös-
serösen Herzmembranen entwickelt hatte. Durch energische Antiplilogose
wurde zwar die Lebensgefahr abgewandt, jedoch das Zustandekommen
einer Insuffieienz der Mitralklappe und Hypertrophie des linken Ventri-
kels nicht verhindert. Rauhes Aftergeräusch, unregelmässiger Rhythmus,
Palpitationen, Dyspnüe nahmen bei Bewegungen des Körpers zu. Vier
Jahre wurde das Haarseil getragen, mit solchem Erfolge, dass der Kranke,
jetzt Prediger, allen Anstrengungen gewachsen ist, zu turnen, schwim-
men ohne alle Beschwerden vermag. So empfehlenswert!) das Setaceum
in diesen Zuständen ist, so wenig leistet es bei Dilatationen der rechten
Herzhälfte, und ist bei Theilnalime der Leber, bei gesunkenen Kräften,
und im höheren Alter zu widcrratlien. R.
175
dienen zur Unterscheidung von einem organischen Herzlei-
den, die noch durch das periodische Auftreten der Symptome,
durch das freiere Intervall , durch den Mangel aller krank-
haften Erscheinungen bei der Localuntersuchung des Herzens
erleichtert wird. Die Behandlung dieser Indigestio po-
ta torum bestand in dem Gebrauche eines Infus. Hb. Digi-
talis mit Jj Extr. Trifol. fibrini, worauf die Palpitationen
nachliessen, und der Rhythmus der Herzbewegung regelmässig
wurde. Nach vollendeter Heilung wurde zur Stärkung der
Digestion die Hb. Trifol. fibr. noch längere Zeit fortge-
braucht.
Auch die sogenannte Hypochondria c a r d i a c a wurde
in mehreren Fällen, vorzugsweise bei jungen kräftigen Indi-
viduen, die eine sitzende Lebensweise führten, beobachtet.
Am ausgeprägtesten waren ihre Erscheinungen bei einem
22jährigen Seidenwirker, welcher nicht allein die funktionel-
len Merkmale einer organischen Herzkrankheit, sondern auch
eine vermehrte Stärke und grössere Verbreitung des Herz-
impulses darbot. Die Erleichterung nach erfolgtem Stuhl-
gänge, die auffallende Milderung aller Zufälle nach starken
Bewegungen, die Zunahme derselben während der Ruhe, so
wie die ängstliche Aufmerksamkeit, mit welcher der Kranke
sieh selbst beobachtete, machten die Annahme einer consensuel-
len Steigerung der Herzthätigkeit sehr wahrscheinlich, was
auch durch den guten Erfolg der auf den Unterleib gerich-
teten Behandlung (mittelst drastischer Abführmittel) bestätigt
wurde.
Desorganisation der Aorta wurde nur bei einem Kran-
ken gefunden. Ein 39jähriger Tischler hatte zuei’st vor vier
Mouaten über einen fixen Schmerz in der Mitte der Brust
geklagt, der sich bis in die Schultern und den linken Arm
hinein erstreckte. Zu diesen Symptomen gesellte sieh bald
Husten mit geringem klebrigem Auswurf, und starke Dyspnoe,
welche die Rückenlage unmöglich machte. Bei der Unter-
suchung zeigte sich eine pulsirende, bei der Percussion matt
tönende Hervortreibung am obem Theile der rechten Brust
i
176
dicht am Sternalrande , in welcher mittelst des Stethoskops
der Doppelton, wie im Herzen, jedoch kein Aftergeräusch,
zu hören war, während das Herz selbst keine Abnormitäten
ergab. Das Schlucken war erschwert, und jede Inspiration
von einem schnarrenden, tief aus der Brust hervortönen-
den Geräusche begleitet. Die genannten Zufälle steigerten
sich im Laufe der nächsten Monate zur furchtbarsten Qual,
die Beklemmung ging in Orthopnoe über, es trat vollstän-
dige Dysphagie ein , Oedem des Gesichts und der obem
Extremitäten gesellte sich hinzu, und reissende, bis in die
Fingerspitzen der linken Hand hinabschiessende Schmerzen
tobten von Zeit zu Zeit in der Brust des Kranken. Die 2-4
Stunden nach dem Tode angestellte Sektion ergab eine massige
Hypertrophie des linken Ventrikels, imd eine sackartige Er-
weiterung der aufsteigenden Aorta von ihrem Ursprünge an
bis zur Mitte des Bogens. Der Sack, etwa anderthalbmal so
gross, als das Herz, war rechterseits mit den Knorpeln der
zweiten und dritten ßippe, und mit dem Sternoclaviculargelenk
leicht verwachsen, seine Wandungen stark verdickt, die innere
Fläche mit Auflagerungen und frischen Faserstoffgerinnungen
bedeckt. Nur der Ursprung der Aorta, etwa anderthalb Zoll
über dem Herzen, zeigte gar keine Auflagerung, buchtete
sich aber nach hinten zu einem secundären Aneurysma aus,
welches mit frischen Concretionen bedeckt und mit dem
rechten Bronchus fest verwachsen war. Die Ursprünge der
grossen Arterien, so wie die absteigende Aorta waren normal,
der Oesophagus aber comprimirt, seine Muskelhaut an der
betreffenden Stelle in der Länge von zwei Zollen verdickt und
blass. Der obere Lappen der rechten Lunge enthielt vor-
zugsweise an der Spitze zahlreiche Tuberkeln, welche zum
Theil schon in Erweichung übergegangen waren.
Bemerkungswerth ist, dass in diesem Falle die ste-
thoskopische Untersuchung der pulsirenden Geschwulst nur
den Doppelton des Herzens, nicht das gewöhnliche aneu-
rysmatische Geräusch ergab. Der schnarrende, keuchende
Ton der Inspiration liess eine Beeinträchtigung des N. vagus
177
durch die Geschwulst vermuthen, die bei Aneurysmen
nicht selten .vorkommt. Allein eine sorgfältige anatomische
Untersuchung stellte den Ungrund dieser Vermuthung her-
aus. Der rechte Vagus und Recurrens lagen ganz ausser
dem Bereich der Geschwulst. Der linke Recurrens aber
schlang sich gerade an derselben Stelle um den Aortenbo-
gen herum, wo die aneurysmatische Erweiterung ihr Ende
erreichte, war mithin dem Drucke derselben nicht ausgesetzt.
Die Ursache des schnarrenden Einathmens lag vielmehr in
der Compression des rechten Bronchus durch das secundäre
Aneurysma, dessen Wandungen an dieser Stelle bis zur Durch-
sichtigkeit verdünnt waren. Wahrscheinlich hätte bei längerer
Dauer der Krankheit liier eine Ruptur stattgefunden. Endlich
ist noch auf die Complication des Aneurysma mit Lungen-
tuberkulose aufmerksam zu machen, ein Befund, welcher mit
Rokitansky’s Erfahrungen im Widerspruche steht.
1 2
Krankheiten der Haut.
lb ür die Behandlung der chronischen HautafFektionen musste
das Causalverhältniss die Hauptindication abgeben, und dem-
gemäss wurde, zumal bei Kindern, die antiscrophulöse Me-
thode , nächst derselben die antisyphilitische am häufigsten
angewendet.
Die häufigste Form, unter welcher die Syphilis bei
neugeborenen Kindern auftrat, war die eines maculösen
Exanthems. Diese Form erhielt sich indess nur selten in
ihrer ganzen Reinheit, ging vielmehr im weitem Verlaufe
mannigfache Veränderungen ein, wodurch sie sich zur squa-
mösen oder ulcerösen umgestaltete. Die Flecke selbst waren
in der Regel rund, von einer dunkelrothen , ins Gelbliche
spielenden Farbe, standen an den Gliedmassen, auf den Wan-
gen, der Stirn, dem Rumpfe mehr isolirt, flössen aber in der
Gegend der Genitalien, des Afters, der Lippen und Gelenk-
biegungen zu grösseren erythemartigen Ausschlägen zusam-
men. Auf den isolirt stehenden Flecken sah man häufig eine
massige kleienförmige Abschilferung, die erste Andeutung
eines Uebergangs dieser Form in die Psoriasis syphili-
tica: in diesem Falle erheben sich die Flecke gewöhnlich
über das Niveau der umgebenden Haut, fangen an zu nässen,
und werden, vorzugsweise an den der äussern Luft ausge-
setzten Stellen, schuppig, während sich in den Hautfalten,
am After, an den Genitalien, m den Weichen, durch die
stete gegenseitige Reibung der nässenden Stellen Geschwüre,
nicht selten auch condylomatöse Excrescenzen entwickeln.
Diese Psoriasis syphilitica neonatorum unterscheidet sich
schon durch ihre fahlrothe blässere Farbe, durch die feinen,
179
mehr gelblichen Schuppen wesentlich von der aus andern Ur-
sachen stammenden Psoriasis, die überhaupt in so zartem
Alter fast nie beobachtet wird.
Unter diesen beiden Formen kam die Syphilis bei wei-
tem am häufigsten im kindlichen Lebensalter vor: seltener
waren andere Exantheme, wofür folgender Fall als Beispiel
thenen maff. Bei einem neun Monate alten Kinde hatte- sich
seit sechs Wochen ein Ausschlag entwickelt und unter ver-
schiedenen Formen über den ganzen Körper verbreitet. Auf
dem behaarten Theile des Kopfes sah man auf geröthetem
Grunde gelblich - grüne , feuchte, weiche Grinde, die einen
dem Katzenurin ähnlichen Geruch verbreiteten. Nase und
Oberlippe waren erodirt, das linke Ohr erythematös, die Mu-
schel desselben Sitz eines kleinen runden Geschwürs mit
gelbem, speckigem Grunde. Ein papulöser Ausschlag, dem
Lichen lividus ähnlich, zeigte sich auf dem Rücken der Hände
imd Füsse, während die Haut der Sexualtheile dunkel gerö-
thet, mit kleinen Bläschen besetzt, und die grossen Schaam-
lippen bedeutend angeschwollen waren. Auf den untern Ex-
tremitäten sah man zahlreiche mit Papeln untermischte dun-
kelrothe Flecke, hie und da abschilfernd, an einzelnen Stellen
tiefe, runde, scharf ausgeschnittene Geschwüre mit speckigem
Grunde und lebhaft gerötheten, stark verhärteten Rändern.
Zwei dieser Geschwüre zeigten sich auch am Daumen und
in der V ola der rechten Hand. Das ganze Ansehn des Aus-
schlags, die Anamnese, so wie der schnelle günstige Erfolg
der eingeleiteten spezifischen Behandlung setzten die syphi-
litische Natur desselben ausser Zweifel. Bei einem andern,
zehn Wochen alten Kinde gab sich die syphilitische Haut-
affektion nur durch drei runde Geschwüre mit speckigem
Grunde und rothen callösen Rändern kund, die an der hintern
Fläche des rechten O bersch enk eis ihren Sitz hatten.
Ausser den genannten Exanthemen findet man die Haut
der Lippen eigentlnimlich gespannt, roth, oft rissig und ge-
spalten, die Fusssohlen glänzend roth mit Spannung der Flaut,
wie sie auch am Perinäum, Scrotum, an den Nates und an
/ 12 *
%
180
der innern Fläche der Oberschenkel vorkommt, und von
Goejlis unter dem Namen Cutis tensachronica beschrie-
ben worden ist. Fast in allen Fällen schnüffeln die Kinder, als
ob die Nase verstopft wäre, in Folge einer Coryza syphilitica,
die nicht selten das erste Symptom der drohenden Syphilis
bei Neugeborenen ist, und sich erst nach acht- oder vierzehn-
tägigem Bestehen mit Ilautaffektionen verbindet. Gewöhnlich
ist dabei die Nasenwurzel eingesunken, was im Verein mit der
erwähnten Spannung und rissigen Beschaffenheit der Lip-
pen der Physiognomie des Kindes einen charakteristischen
Ausdruck giebt. Fast alle an Syphilis leidende Neugeborene
sind bedeutend abgemagert: ihre Haut ist welk, schlaff, von
blassem, kachektischem Anselm. Die sorgfältige Beachtung
dieser Neigung zur Atrophie, die man als eine Folge der
Blutentmischung betrachten muss, ist um so wichtiger, als
die therapeutische Berücksichtigung derselben dringend erfor-
dert wird.
Primäre syphilitische Geschwüre wurden nur bei einem
Kinde auf der Lippen- und Mundschleimhaut beobachtet:
sie waren durch das Saugen an einer schankrösen Brustwarze
entstanden. Von der Syphilis connata, die beim Durchgänge '
durch die inficirten Geburtstheile der Mutter entstehen soll,
kam kein Beispiel vor. Die hereditäre Syphilis erschien
meistens im zweiten, dritten Monate nach der Gekurt ; nur
bei einem Kinde zeigte sich von der Geburt an auf der hin-
tern Fläche des rechten Oberschenkels ein Convolut dunkel-
rother, etwas erhabener Flecken, die sich im Anfänge des
dritten Monats allmählig in Schankergeschwüre verwandelten.
Weit seltener ist die Entwickelung der hereditären Syphilis
zur Zeit der zweiten Dentition. Wenn auch die Möglichkeit
einer frischen Lifection Beobachtungen dieser Art immer et-
was zweifelhaft macht, so scheint doch der Fall eines acht-
jährigen Mädchens hierher zu gehören, welches sich im De-
zember 1844 mit schmerzhaften Empfindungen im Mimde,
vorzugsweise beim Schlucken , in der Klinik meldete. Auf
der Schleimhaut des harten Gaumens sass ein breites, ober-
181
flächlich cxulcerirtes Condylom von der Grösse eines halben
SilberoTOschens ; ein zweites kleineres befand sich an der
vordem Fläche des Gaumensegels oberhalb der Uvula. Ue-
brigens liess sich am ganzen Körper kein syphilitisches Symp-
tom wahmehmen. In diesem Falle war die Annahme der
hereditären Syphilis um so wahrscheinlicher, als auch die
Mutter vor einem halben Jahre an syphilitischen Anschwel-
lungen des Stirn- und Schienbeins in der Klinik behandelt
worden war. Die primäre Affektion der Mutter lag wohl
zehn Jahre zurück, doch ging aus ihren Aussagen hervor,
dass sie während der Schwangerschaft mit diesem Kinde an
secundären Symptomen gelitten hatte. Hätte das Kind Ge-
schwüre im Munde gehabt, so würde man noch eher zur
Annahme einer neuen unmittelbaren Ansteckung versucht
gewesen sein; allein Condylome pflegen nur der Ausdruck
der Lues zu sein, und so blieb die Annahme einer ererbten,
hier aber erst im achten Lebensjahre auftretenden Syphilis
immer noch das Wahrscheinlichere.
Die in der Poliklinik übliche Behandlung bestand in der
Darreichung der mildern Mercurialpräparate, des Calomeis
oder des Mercur. solubil. Hahnemanni, zu | bis i Gr. Mor-
gens und Abends. In einem Falle bewirkte jede Dosis des
letztem einmaliges Erbrechen, doch ohne schlimme Folgen.
Gleichzeitig wurden, um der Atrophie zu begegnen, tonisi-
rende Mittel, besonders ein Decoct. Chinae, und lauwarme,
mit aromatischen Kräutern oder Malz bereitete Bäder verord-
net. In einigen Fällen, wo Abmagerung und Erschöpfung
bereits einen sehr hohen Grad erreicht hatten, bediente man
sich mit trefflichem Erfolge des Tokayenveins zur Unter-
stützung der Kur. In der Kegel genügten wenige Wochen
zur Heilung, doch wurde durch Recidive eine Wiederholung
der Behandlung nicht selten nothwendig.
Die Kur der scrophu lösen, meist in Pustelform auf-
tretenden Exantheme wurde in der Regel durch einige Ab-
führpulver aus Calomel mit- Rad. Jalapac eingcleitet, welchen
man die Antimonpräparate (besonders eine Verbindung des
182
Aethiops antimonialis und mineralis) oder das Oleum Jecoris
Aselli folgen Hess.
0 ♦
Es kommen indess nicht selten Ausschlagsformen vor,
für welche man trotz einer sorgfältig angestellten Anamnese
kerne bestimmte Dyskrasie als Grund auffinden kann. Dazu
gehören besonders die verschiedenen Formen des Ekzema,
der Prurigo, oft auch der Psoriasis. In diesen Krank-
heiten wird mit den Abführmitteln ein grosser Missbrauch
getrieben : sie nützen nicht allein nichts , sondern schaden
auch noch durch Störung der Funktionen des Darmkanals.
Bei weitem angemessener erscheint in solchen Fällen die Be-
thätigung eines andern Secretionsorgans, der Nieren, die schon
von der Natur zur Ausscheidung fehlerhafter Stoffe aus der
Blutmischung bestimmt sind. Dieser Idee gemäss wurde in
der Klinik die diuretische Behandlung, und zwar meh-
rentheils mit glücklichem Erfolge angewandt. Die verordne-
ten Mittel waren ein einfacher diuretischer Thee (aus Bad.
Levist.., Bacc. Junip.), womit in hartnäckigeren Fällen, um un-
mittelbar auf die Blutmischung einzuwirken, der Gebrauch
des Acidum muriaticum, in steigender Dosis von acht bis
sechszehn Tropfen in Zuckerwasser (bei Kindern von drei
bis sechs Tropfen) dreimal täglich, verbunden wurde.
Diese Methode ist um so mehr zu empfehlen, als sie
die Ausschläge nie schnell unterdrückt, was namentlich bei
u
Kindern von der grössten Wichtigkeit ist. So wurde z. B.
ein dreijähriges Kind behandelt, welches seit zwei Jahren an
einem über den ganzen Körper verbreiteten Ekzema litt.
Der Ausschlag war bereits mehrmals spontan abgetrocknet,
worauf indess jedesmal Anfälle von Eclampsie eintraten,
die erst mit dem Wiedererscheinen des Exanthems verschwan-
den. Mit Rücksicht auf diesen Umstand wurde gleichzeitig
mit der diuretischen Behandlung das Unguent. Tartan eme-
tici in den Nacken und Rücken des Kindes bis zur Pocken-
bildung eingerieben, und nach vierzehn Tagen war der Aus-
schlag, ohne dass sich ein beunruhigendes Symptom zeigte,
vollständig verschwunden.
183
Eine andere Modification des angegebenen Verfahrens
lehrt der Fall eines 19jährigen Mädchens, welches erst drei-
mal, imd zwar sehr schwach menstruirt gewesen. Seit einem
halben Jahre litt sie an einem Ekzema des Gesichts, welches
alle vier Wochen unter Hinzutritt von Kreuz schmerzen und
Völle des Unterleibs eine bedeutende Steigerung verrieth.
Hier winde zu dem cliuretischen Thee ein Zusatz von Herb.
Sabinae gemacht, und der innere Gebrauch der Pilulae ape-
rientes Stahlii verordnet, worauf die Periode bald regelmässig
eintrat, und der Ausschlag nach kurzer Zeit für immer ab-
trocknete.
Es muss jedoch bemerkt werden, dass diese einfache
Behandlung keineswegs stets den erwünschten Erfolg hatte.
Unzureichend zeigte sie sich vorzugsweise gegen Psoria-
sis inveterata. In solchen Fällen bewährte sich der Ge-
brauch eines bisher noch wenig benutzten Mittels, des Theers
(Pis liquida), welcher in der Mehrzahl der Fälle Heilung
herbeiführte. Man lässt in einer Schüssel ein Pfund Theer
mit einem Quart kalten Wassers übergiessen, 24 Stunden
an einem kühlen Orte ruhig stehen, davon jeden Morgen ein
Bierglas abschöpfen, durch Löschpapier filtriren, und dasselbe
nüchtern trinken; gleichzeitig werden die von der Psoriasis
befallenen Theile mit diesem Wasser zwei- bis dreimal tag-
lieh gewaschen. Der Gebrauch dieses Mittels ist im Anfänge
dem Kranken allerdings widerlich: er gewöhnt sich indess
bald daran, und das Mittel kann dami Monate lang olme
nachtheilige Folgen fortgesetzt werden. Die einzige Wir-
kung, die man in Gelen Fällen beobachtet, ist eine massig
vermehrte Diurese. Folgende Fälle mögen als Beispiele der
Heilkraft der Aqua picea in dieser Krankheit dienen.
1. Eine 26 jährige Frau hatte schon als Kind an Pso-
riasis guttata gelitten; nach ihrer Verheirathung verschwand
dieselbe, trat aber nach dem Wochenbette beim Wiederer-
scheinen der Katamenien von neuem auf, und bestand zur
Zeit der \ orstellung der Kranken bereits seit zwei Monaten,
vorzugsweise an den untern Extremitäten. Nach dem acht-
184
wöchentlichen Gebrauche des Theer wassere war die Kranke
vollständig geheilt.
2. Eine 48jährige Frau wurde nach dem Aufhören
der Katamenien von vagen Gliederschmerzen befallen: gleich-
zeitig entwickelte sich eine Psoriasis, die zur Zeit ihrer Vor-
stellung in der Klinik seit sechs Monaten bestand. Ein
fünfwöchentlicher Gebrauch des Theerwassers genügte, den
Ausschlag für immer zu beseitigen.
3. Ein 20jähriges Mädchen litt seit sechs Jahren an
einer Psoriasis diffusa der Unterschenkel und des Rückens.
Bemerkenswerth ist, dass die vor zwei Jahren cingetretenen
Katamenien auf den Ausschlag durchaus keinen Einfluss
gehabt hatten. Durch den Gebrauch des Theers wurde sie
in zwei Monaten völlig davon befreit.
4. Ein Mann von 48 Jahren litt schon zehn Jahre an
einer Psoriasis diffusa der obern und untern Extremitäten
und des Rückens. Nach drei Monaten war durch das Theer-
wasser, wenn auch noch keine radicale Heilung, doch eine
entschiedene Besserung herbeigeführt worden: die Schup-
penbildung wdr vollständig verschwunden, und nur noch ge-
röthete, zuweilen juckende Flecken als Spuren des Ausschlags
zurückgeblieben.
5. Ein 23jähriges Mädchen, seit sechszehn Jahren an
einer sehr starken Psoriasis diffusa der untern Extremitäten
leidend, welche den bewährtesten Mitteln Trotz geboten hatte,
wurde durch den neunmonatlichen Gebrauch des Theerwassers
vollständig hergestellt. Sie ist jetzt verheirathet, und bietet
keine Spur des Ausschlags mein- dar.
6. Eine 50jährige Frau litt bereits seit zwanzig Jahren
an Psoriasis gyrata des rechten Oberarms und Rückens,
welche besonders in der Bettwärme heftiges Jucken imd
Brennen erregte. Alle angewandten Mittel waren erfolglos
geblieben, und erst dem beharrlichen, fünf Monate hindurch
fortgesetzten Gebrauch der Aqua picea gelang es, die Krank-
heit gründlich zu heilen. In diesem Falle hatte das Mittel
eine sehr vermehrte Diurese zur Folge, und der bisher braun-
185
rothe, nicht selten stark sedimentirende Urin wurde klar und
hellgelb.
Diese Andeutungen mögen genügen, um die Aufmerk-
samkeit einem Mittel zuzuwenden, welches in Betracht seiner
Wirksamkeit und völligen Unschädlichkeit grosses Zutrauen
verdient, zumal in einer Krankheit, gegen welche die ver-
schiedensten, und keineswegs indifferenten Mittel, wie die
Cantharidentinctur und die FovvLEii’sche Solution, oft ohne
allen Nutzen angewendet werden. Es darf jedoch nicht uner-
wähnt bleiben, dass auch das Theerwasser in einem Falle,
wo die Psoriasis seit sieben Jahren bestand, ganz erfolglos
blieb.
Von den übrigen schuppenförmigen Ausschlägen kam
die Pityriasis am häufigsten vor. In dem sechsten der
unter Psoriasis angeführten Fälle bestand sie gleichzeitig mit
der Psoriasis gyrata, und nahm hier unter der Form der von
Willaiv benannten Pityriasis versicolor die vordere Fläche
der Brust und des Halses ein. Das Theerwasser, welches
sich gegen die Psoriasis so wirksam zeigte, hatte auch auf
die Pityriasis einen heilsamen Einfluss : sie verschwand mit
der Psoriasis, und machte einer gelinden Prurigo Platz, die
durch den Gebrauch der Salzsäure und eines diuretisehen
Thees beseitigt wurde.
Ichthyosis ward nur einmal, und zwar in gelindem
Grade, an den untern Extremitäten beobachtet. Eine Be-
handlung wurde bei der Geringfügigkeit der Affektion nicht
eingeleitet , da der jugendliche Kranke nur im Sommer, wo
die schuppenförmige Abschilferung vorzugsweise stark von
Statten ging, an einem massigen Jucken litt.
Was die vesiculärcn Exantheme betrifft, so ist das Ekzema
bereits oben erwähnt worden.
Scabies kam nicht minder häufig vor, und zeigte sich
vorzugsweise bei Kindern in einer degenerirten Gestalt an
den untern Extremitäten. Es fanden sich hier thcils die cha-
rakteristischen Geschwüre, theils blau- und braunrothe runde
I lecken, mit Bläschen und Pusteln untermischt. Starke
186
Ableitungen auf den Dannkanal und Bäder mit Kali sulphu-
ratum wurden in solchen Fällen mit gutem Erfolge ange-
wendet.
Obwohl die Ansichten über die Natur des Zoster noch
sein- gethcilt sind, möge derselbe dennoch, in Betracht seiner
Bläschenform , hier eine Stelle finden. Man hat in neuerer
Zeit den Zoster zn den rosenartigen Affektionen rechnen
wollen, weil man beobachtet haben wollte, dass Störungen des
Digestionsapparats demselben in der Regel zu Grunde lägen.
So viele Fälle dieser Krankheit nun auch in der Poliklinik
zur Behandlung kamen, konnte doch nur in sehr wenigen
eine derartige Basis, die Gelleicht richtiger als Complication
zu deuten ist, aufgefunden werden.
In den meisten Fällen war das Exanthem ohne alle fie-
berhafte Reaktion hervorgebrochen, und die Kranken befanden
sich vollkommen frei von allen gastrischen Symptomen. Der
Sitz des Ausschlags war am häufigsten, sowohl auf der rechten
als linken Seite, die eine Hälfte des Unterleibes, demnächst
der Brust und des Rückens, seltener die Extremitäten ; indess
kamen doch mehrere Fälle vor, wo der Oberarm und der
Oberschenkel befallen .waren, so dass der Ausschlag einem
Gürtel ähnlich dieselben vollständig umkreiste. Nur in zwei
Fällen zeigte sich der Zoster im Gesichte : Beide gehörten
dem weiblichen Geschlechte an ; bei der einen brachen grup-
penweis zusammenstehende Bläschen auf rothem Grunde an
der linken Seite der Stirn hervor, nachdem in der Nacht fieberhafte
Symptome vorausgegangen waren. Bei der zweiten waren die
rechte Seite der Stirn, die rechte Wange, imd die rechte Seite
des Halses und Nackens der Sitz des Ausschlags, so dass
vorn die Mittellinie des Halses, hinten die Processus spino-
si der Cervicalwirbel die Gränze desselben bildeten. Bei
einem zweijährigen Knaben entwickelte sich der Zoster auf
dem linken Oberschenkel während des Verlaufs der Tussis
convulsiva, ohne auf dieselbe irgend einen Einfluss auszu-
üben.
Wenn man den gastrischen Ursprung des Zosters in der
187
Wahrheit nicht begründet findet, so möchte vielleicht eine
andre Anschauungsweise mehr Aufklärung über diese noch
dunkle Aftektion versprechen. Bei Neuralgieen kommt Röthung
der befallenen Theile öfters vor : auch sind Fälle beobachtet
worden, wo bei Nervenverletzungen Röthung und Bläschen-
bildung in der Bahn des Nerven erfolgte. Dem Zoster gehen
nicht selten schmerzhafte Empfindungen an der betreffenden
Stelle voraus ; die den Ausschlag selbst begleitenden Schmer-
zen sind von ungemeiner Heftigkeit, so dass sie sich aus der
äussem Erscheinung des Leidens kaum erklären lassen ; end-
lich bleiben auch, nachdem Bläschen und Röthe längst ver-
schwunden sind, nicht selten sehr lebhafte Schmerzen in dem
befallenen Theile zurück, die ganz den Charakter der neural-
gischen tragen, und gegen welche der Gebrauch des kohlen-
sauren Eisens, des Oleum Terebinth. aeth. sich wirksam zeigt.
In einem Fall blieb nach dem Abtrocknen der Bläschen nicht
Schmerz, sondern ein auffallendes Kältegefühl an der betref-
fenden Stelle zurück. Soll nun auch damit noch nicht aus-
gesprochen sein, dass man den Zoster als Neuralgie zu be-
trachten habe, so fordern doch solche Betrachtungen dazu auf,
der Beziehung des Nervensystems zu jener Krankheit eine
grössere Aufmerksamkeit zuzuwenden, als bisher geschehen ist.
Pemphigus wurde mehrmals beobachtet. In zwei
Fällen trat er bei halbjährigen aufgefütterten Kindern auf.
Bei dem ersten erschienen die Blasen an den Händen und
Füssen, bei dem zweiten am Rumpf und Kopf, und zwar
vorzugsweise auf der rechten Seite, so dass der Ausschlao-
# Ö
sich vom rechten Oberschenkel bis zur rechten Seite der
Stirn erstreckte. Das erste Kind wurde das Opfer einer
gleichzeitig bestehenden Enteritis, deren anatomische Erschei-
nungen auch bei der Section gefunden wurden : die Nieren,
deren Beziehung zum Pemphigus unverkennbar, boten jedoch
keine wahrnehmbaren Veränderungen dar. Im zweiten Falle
veranlasste der strenge, scharfe Geruch und die schwärzliche
Färbung der Windeln eine genaue Untersuchung des Urins,
welche Herr Dr. IIeintz zu übernehmen die Güte hatte.
188
Die einzige Abnormität, die sich im Urin vorfand, war eine
geringe Menge eines blauen Pigmentes, welches sich abfil-
triren liess, und den Alkohol, mit welchem es digerirt wurde,
schwach bläulich färbte. Dr. Heintz ist geneigt, diesen
Färbestoff für das schon öfter aufgefundene Cyanurin zu
halten. Um nicht durch Medicamente die Beschaffenheit des
' Urins zu verändern, war die Behandlung dieses Falls ganz
indifferent geblieben, zumal ein früher stattgehabtes Erbre-
chen nach dem Erscheinen des Ausschlags verschwunden
war. Auch verlor sich derselbe nach Verlauf von zwei bis
drei Wochen von selbst und der Urin nahm seine normale
Beschaffenheit wieder an: zugleich aber zeigte sich eine pa-
pulöse, mit dunkelrothen Flecken imtermischte Eruption auf
der linken Körperhälfte, welche in V erbindung mit glänzender
Röthe und Spannung der Fusssohlen den Verdacht einer
syphilitischen Basis zu rechtfertigen schien, wenn auch die
Eltern bei ihrer Aussage, niemals krank gewesen zu sein,
beharrten. Der Gebrauch des Calomel veranlasste ein bal- •
diges Schwinden des Ausschlags, und nachdem das wieder
eingetretene Erbrechen durch eine V erbindung von Aq. Calcis
mit Aq. Foeniculi beseitigt worden, konnte man das Kind als
geheilt aus der Behandlung entlassen.
Die dritte Beobachtung betrifft ein erwachsenes , am
Pemphigus chronicus leidendes Frauenzimmer, welches
bereit s von dem verewigten Prof. Osann in der Klinik behandelt
worden war. Dr. Schulze hat diesen merkwürdigen Fall
zum Gegenstände seiner Inauguraldissertation gewählt, und
auch die Resultate der vom verstorbenen Dr. Simon ange-
stellten Analyse des Contentum der Pemphigusblasen mitge-
theilt (Observationes et disquisitiones pathologicae et chemi-
cae circa pemphigum hystericum. 1840).
M. R. ein 26jähriges Mädchen von zartem Körperbau,
dunklem Haar und Auge, und kleiner Statur, stammte aus
einer im Ganzen gesunden Familie: nur gab sie an, dass die
Mutter vor sechs Jahren in einem Anfall von Manie verschie-
den sei, und ihre einzige Schwester an einem chronischen
189
Flechtenausschlage leide. In ihrer frühesten Jugend wurde
sie von den gewöhnlichen Kinderkrankheiten, und nach den-
selben von einer Tinea capitis befallen, welche trotz der An-
wendung der bewährtesten Mittel, sowohl im eigenen Hause,
als auch im Charite - Krankenhause, hartnäckig fortbestand
imd erst um ehe Zeit der Pubertät von selbst verschwand.
Vierzehn Jahre alt, verfiel sie in Chlorose, und wurde beson-
ders von heftigen Palpitationen belästigt ; nach einem Jahre
stellte sich auf den Eintritt der Menstruation die Gesundheit
•wieder her. Schon damals aber gab sich eine Neigung zu
Unregelmässigkeiten der Menses kund, die bald mehr bald
weniger bis zum heutigen Tage fortbestand. Dunkele Farbe
des Menstruationsbluts wechselte mit blasser, geringer Menge,
fast Suppression desselben mit profusem, einer Metrorrhagie
ähnlichem Ausflusse ab, wobei sich nicht selten hysterische
Erscheinungen (Globus u. s. w.) geltend machten. In den
folgenden Jahren wurde der Gesundheitszustand auf mannig-
fache Meise getrübt: sie überstand ein gastrisch - nervöses
Fieber, verfiel später in die Influenz, endlich auch in die
Cholera asiatica, wobei die hysterischen Symptome, Krämpfe,
zuweilen selbst ecstatische Zufälle mehr oder minder fortbe-
standen. Trotz dieser vielfachen Leiden concipirte die Kranke
imd gebar in ihrem siebzehnten Jahre eine Tochter, wovon
sich eine noch jetzt bestehende mässige Induration des Mut-
terhalses herschreibt. Sei es nun, dass der gesunkene Kräf-
tezustand eine Rückwirkung auf die psychische Energie
ausübte, ;oder dass erbliche Anlage und Uterinstörungen
begünstigend hinzutraten, gewiss ist, dass die Kranke, nach-
dem sie im 22sten Jahre durch eine profuse Hämoptysis
noch mehr erschöpft worden war, Störungen der geistigen
Funktionen verrieth. Nach einer starken Gemiithsbeweguhg
und darauf folgender Suppression der Katamenien empfand
sie dumpfe drückende, mit dem Gefühl der Schwere und
heftigem Jucken verbimdene Schmerzen in allen Gliedern
und längs der \\ irbelsäule, wobei ein starker Andrang des
LI utes nach dem Kopfe unverkennbar war, und heftige Pal-
190
pitationen des Herzens stattfanden. Damit verbanden sich
die der Hysterie angehörenden Erscheinungen, Globus, Con-
vidsionen, endlich Anfälle von Mania furibunda, in denen
die Kranke gegen sich und ihre Umgebung wüthete, und
welche sich täglich zwischen sieben und zehn Uhr Abends
wiederholten. Nachdem dieser Zustand drei Wochen ge-
dauert hatte, trat eine neue Reihe nervöser Symptome auf,
die sich deutlich als Catalepsie aussprachen: die Kranke
wurde plötzlich des Bewusstseins beraubt, und blieb mit stie-
rem Blick unbeweglich in derselben Stellung, die sie beim
Eintritt des Anfalls einnahm. Simulation war in diesem
Falle nicht wohl anzunehmen, da sie in einem solchen Pa-
roxysmus, der sie auf der Strasse befiel, fast übergefahren
worden wäre, und ein anderes Mal sich mit einem» heissen
Eisen, welches sie im Moment des Anfalls in der Hand trug,
stark verbrannte, ohne das mindeste Zeichen von Empfindung
zu geben. Allem auch diese Zufälle hinderten die Kranke
nicht, von neuem schwanger zu werden und ein zweites Kind
in die Welt zu setzen, welches sich gleich dem ersten bisher
einer trefflichen Gesundheit zu erfreuen hatte. Während ei-
nes Jahrs blieb sie von neuen Zufällen verschont, und nur
Stuhlverstopfung, zu welcher sie immer Neigung gehabt hatte,
erforderte von Zeit zu Zeit die Anwendung eröffnender Mit-
tel. Plötzlich erfolgte im Jahre 1S37 ohne alle Veranlassung
eine allgemeine Eruption des Pemphigus, die sich bis zum
Jahre 1840 achtmal und zwar in nachstehender Reihenfolge
wiederholte :
erste Eruption
zweite
dritte
vierte
fünfte
sechste
siebente
achte
September 1837
October
November
December
gegen Ende dess. Mon.
Januar 1838
März
Juni 1839
Die Dauer der einzelnen Eruptionen wechselte von vier bis
191
vierzehn Tagen, doch so, dass sechs bis sieben Tage die ge-
wöhnliche Frist bildeten. In der dritten waren die Pemphi-
gusblasen am grössten, und enthielten ein dickeres, dunkleres
imd eiweisshaltigeres Fluidum, als in den übrigen Anfällen.
Im Januar 1S4Ü erfolgte die neunte Eruption des Ausschlags.
Gastrische Störungen, heftige Kopfschmerzen, Abgeschla-
genlieit der Glieder und Schmerzen in der Lendengegend,
die theils aufwärts bis zum Nacken, theils dem Laufe der
Ureteren entsprechend abwärts strahlten, gingen etwa acht
Tage lang der Eruption voraus. Die Haut war trocken, der
Urin sehr sparsam, dick, roth gefärbt, mit weisslichem Sedi-
mente. Die Katamenien waren supprimirt. Zu diesen
Symptomen gesellten sich Fieberbewegungen, leichte Zuckun-
gen und intensive Schmerzen in den Gliedern , wobei die
Kranke das Gefühl hatte, als würde siedendes Wasser über
ihre Knochen gegossen. Vier und zwanzig Stunden nach
dem Eintritte des Fiebers entstanden auch an der Oberfläche
des Körpers, da, wo später der Pemphigus erschien, die
heftigsten Schmerzen brennender Art, das Fieber steigerte
sich, exacerbirte bedeutend gegen Abend, und verband sich
mit Schlaflosigkeit und Delirien. Am folgenden Tage zeigte
sich bereits eine fleckige Ilöthe in der Magengrube, die
Heftigkeit des Fiebers Hess etwas nach und zwölf’ Stun-
den später war der Pemphigus auf der Brust entwickelt.
Die Blasen hatten meistens eine runde,' seltener eine ovale
Gestalt, und variirten von der Grösse einer Erbse bis zu der
eines Hühnereies und darüber: ja eine Blase, die durch das
Zusammenfliessen mehrerer entstanden war, erstreckte sich
von der Pars acromialis des einen Schlüsselbeins bis zu der
des andern und von der halbmondförmigen Incisur des Brust-
beins abwärts bis zur Gegend der Brustwarzen, so dass sie
wohl ein Viertelpfund Flüssigkeit entleerte. An den fol-
genden Tagen verbreitete sich nim der Ausschlag über den
Nacken, den Rücken und die obera Extremitäten , während
die zuerst entstandenen Blasen auf der Brust bereits im Ab-
trocknen begriffen waren. Auf diese Weise hatte man Gele-
192
genlieit, die verschiedenen Entwickelungsstufen des Pemphigus
zu gleicher Zeit zu beobachten. Die im Gesicht aufschiessen-
den Blasen standen den übrigen an Grösse nach , eben so
diejenigen, welche die Schleimhaut der Mundhöhle zu ihrem
Sitze wählten. Allmählig wurden auch die untern Körper-
theile befallen, die Haut des Bauches, der Schenkel, endlich
auch der Füsse; nicht einmal die Schleimhaut der Genitalien
blieb verschont; in der Vagina bildeten sich mehrere Blasen,
eine von der Grösse eines Hühnereies, so dass sie von Flüs-
sigkeit strotzend aus der Scheide heraushing. Schon glaubte
man die Krankheit abgelaufen, als am siebenten Tage nach
dem Erscheinen der ersten Blasen auf der Brust plötzlich ein
neuer Ausbruch im Gesicht erfolgte. Jetzt beschränkte sich
der Pemphigus aber nicht blos auf Wangen und Lippen,
sondern ergriff noch die untern Augenlider, die behaarte Haut
des Kopfs, und erregte vorzugsweise in der Mundhöhle die
peinigendsten Beschwerden. Die Schleimhaut der Wangen,
des Gaumens, der Zunge waren mit grossen, von Flüssigkeit
strotzenden Blasen besetzt, welche eine profuse Salivation
zur Folge hatten. Das Fieber hatte während des Ausschlags
bedeutend nachgelassen, die Schmerzen waren verschwunden,
und m den letzten Tagen war eine bedeutende Photophobie,
als Folge der Affektion der Augenlider und Conjunctiva,
nebst der Salivation das einzige lästige Symptom, worüber
die Kranke zu klagen hatte. Am zehnten Tage zeigte sich
endlich ein Stillstand des Ausschlags, und die Stellen, welche
der Sitz desselben gewesen waren, desquamirten.
Dr. Franz Simon’s Untersuchung der in den Blasen
enthaltenen Flüssigkeit ergab folgendes Resultat:
Die Flüssigkeit ist durchsichtig, gelblich gefärbt, ohne
eigentliümlichen Geruch; beim Erwärmen entwickelt sich in-
dess ein solcher, und zwar säuerlicher Art, der ohne Zweifel
von freier Essigsäure herrührt. Das auf dem Boden des
Gefässes befindliche schleimige Sediment zeigt bei der mi-
kroskopischen Untersuchung zahlreiche Schleimkörperchen.
Das spezifische Gewicht der Flüssigkeit ist 1,018, also
193
schwerer als dasjenige ähnlicher Fluida, wo es zwischen 1,006
und 1,014 variirt.
Gegen die verschiedenen Reagentien verhält sich diese
Flüssigkeit nicht anders, wie lymphatische Flüssigkeiten über-
haupt; besonders bemerkenswerth ist ein bedeutender Gehalt
an Albuinen, welches sich beim Zusatz von Salpetersäure,
Sublimat, essigsaurem Blei, schwefelsaurem und essigsaurem
Kupfer und salpetersaurem Quecksilber ergab. Beim vor-
sichtigen Einträufeln von Essigsäure oder Liquor Ammonii
caustici zeigte sich keine Trübung, vielmehr wurde die Flüs-
sigkeit noch klarer als zuvor. Das Cyaneisenkalium bewirkte
einen reichlichen, weissen Niederschlag; das Vorhandensein
des Globulins liess sich jedoch nicht nachweisen.
Beim Erhitzen der Flüssigkeit coagulirte das Eiweiss, und
es blieb ein weisses, salzig schmeckendes Residuum zurück,
welches das blaue Lakmuspapier nicht röthete, ein Beweis,
dass die Säure durch das Kochen ausgetrieben war.
Das trockne Residuum wurde nun in Aether aufgelöst,
und um das F ett zu entfernen, mit Spiritus Vini alcoholisatus
so lange gekocht, als es noch von diesem aufnahm: dann
wurde es abermals mit Wasser gekocht, und auf diese Weise
der Rückstand an Eiweiss erhalten. Nachdem das Decoct
bis zum geringsten Rückstände abgedampft war, wurde so
lange Spir. Vini alcohol. zugesetzt, als sich noch ein Boden-
satz bildete, den man, um die Quantität der Salze zu be-
stimmen, verbrannte. Nach dieser Untersuchung enthielten
mm 100 Theile der Flüssigkeit:
Cholesterinhaltiges Fett 0,260
Extractivstoff, in Spiritus löslich, mit milchsaurem und
salzsaurem Natron und chlorsaurem Kali . . . 0,650
In Wasser lösliche und dem Speichel ähnliche Materie 0,190
Eiweiss mit phosphorsauren Salzen 4,800
Wasser 92,000
Essigsäure und Schleimkörperchen unbestimmt.
Die Pemphigusfiüssigkeit zeichnet sich mithin aus:
1) durch eine grosse Menge von Schleimkürperchen,
2) durch freie Säure,
13
194
3) durch eine so grosse Menge fester Bestandteile, wie
sich in keinem andern pathischen Secrete findet.
Harnstoff liess sich trotz der sorgfältigsten Untersuchung
in der Flüssigkeit nicht auffinden.
Bereits vierzehn Tage nach dem Abtrocknen der Blasen
erfolgte plötzlich ein neuer Ausbruch, der vorzugsweise die
Mundschleimhaut zum Sitze wählte. Die Zunge war in ih-
rem ganzen Umfange von einer Blase umgeben, welche den
Raum der Mundhöhle bedeutend verengte, und suffocatorische
Zufälle hervorrief. Fast gänzliche Suppression der Urinab-
sonderung, heftige Congestionen nach dem Kopfe, starkes
Fieber mit sehr vollem Pulse begleiteten diesen Zustand, und
machten eine antiphlogistische Behandlung, selbst ein Aderlass
nothwendig. Im Stadium der Desquamation fielen nicht al-
lein die Haare der Augenbrauen und die Cilien, sondern auch
fast alle Kopfhaare aus.
Ganz ähnlich war der eilfte Airfall der Krankheit, der
im Jahre 1841 eintrat. Die bisher angewandte Behandlung
hatte weniger eine Radicalkur, als vielmehr eine palliative
Linderung der einzelnen Ausbrüche bezweckt, und bestand
daher meistens in der Darreichung secretionsbefördernder, na-
mentlich diuretischer und abführender Mittel. Im Juni 1842
meldete sich die Kranke von neuem in der Klinik. Nach
vorausgegangenen Fieberbewegungen und ähnlichen Sympto-
men, wie sie bereits geschildert worden sind, hatte sich vor
einigen Tagen der Pemphigus zum zwölften Male, und zwar
vorzugsweise im Gesicht, der Mundhöhle und an den obem
Körpcrtheilen entwickelt. Aussehn und Verlauf des Aus-
schlags unterschieden sich nicht von dem des neunten und
O
zehnten Anfalls. Die kleineren Blasen schrumpften gewöhn-
lich durch Verdunstung ihres flüssigen Inhalts zusammen,
die grösseren platzten und entleerten ein nicht corrodirendes
Fluidum, worauf sich schon nach wenigen Tagen eine neue
zarte Epidermis bildete. Bei der Unwirksamkeit aller bisher
gebrauchten Mittel und dem völligen Mangel jeder Kausal-
indication, entschloss man sich, im Vertrauen auf die gute
195
Wirkung des Mittels bei inveterirter Psoriasis, zur Anwen-
dung der Aqua picea. Mit Hintenansetzung jedes andern
Mittels wurde das Theerwasser, in der bereits näher ange-
gebenen Weise , von der Kranken fast sechs Monate lang
gebraucht. Seit dieser Zeit hat sich der Pemphigus nur
einmal, und zwar in sehr milder Form gezeigt, indem um1
auf der Zunge und dem rechten obern Augenlide Blasen
aufschossen, der übrige Körper aber völlig verschont blieb.
Dieser leichte Anfall fand im Winter 1843 statt und veran-
lasste die Wiederholung der Theerkur, welche so guten Er-
folg hatte, dass sich bis jetzt keine Spur der lästigen Krank-
heit wieder gezeigt hat.
Ein andei’er Krankheitsfall reihe sich hier an, dessen
ausführlichere Darstellung durch die Seltenheit der Krank-
heit gerechtfertigt wird. Herr Dr. Becker, welcher als
Praktikant der Klinik den Kranken behandelte, hat in seiner
Dissertation : Commentatio inauguralis de Lepra Arabum tu-
berculosa. Marburgi 1843., eine gelungene Beschreibung
desselben geliefert.
Georg F l esch neu, 56 Jahre alt, aus Berlin gebürtig, und
von gesunden Eltern abstammend, hatte in seiner Kindheit und
Jugend an scrophulösen Geschwülsten der Cervicaldrüsen,
welche nicht selten in Abscesse übergingen, gelitten. Wie
gering seine Disposition zu Hautkrankheiten war, ging aus
dem Umstande hervor, dass er, ohne je geimpft worden zu
sein, mit seinem von den Blattern befallenen Vetter bis zu
dessen Tode in einem Bette schlief, und dennoch von der
Krankheit verschont blieb. Während der Feldzüge bekam er
im südlichen Frankreich die Krätze, welche schnell unter-
drückt wurde. Obwold den Freuden der Liebe und des
Weins ergeben, leugnet er doch jede syphilitische Infection ;
auch liess die wiederholte Untersuchung der Genitalien und
der Rachenschleimhaut nicht die geringste Spur früherer sy-
philitischer Affektionen entdecken. Nach der Rückkehr aus
dem Felde setzte er die gewohnte ausschweifende Lebens-
weise fort. Eine mit seiner sonst gesunden Frau erzeugte
13*
196
Tochter starb in ihrem 23sten Jahre an Phthisis pulmonaliß.
F. trat nnn in das Amt eines Kassendieners, und erfreute
sich bis vor anderthalb Jahren einer ungetrübten Gesundheit,
als er einen kleinen Knoten in der Gegend der rechten Sub-
maxillardrüse bemerkte , welcher nach seiner Aussage durch
einen Schnitt beim Rasiren entstanden sein sollte. Dass dies
jedoch nicht der Fall gewesen, erhellt schon daraus, dass
gleichzeitig in der rechten , später auch in der linken Knie-
kehle ähnliche Knoten zum Vorschein kamen, die sich nach
kurzer Zeit auch auf den Armen, der Brust und im Gesichte
zeigten, schnell an Umfang Zunahmen, und den Kranken so beun-
ruhigten, dass er am 12. Mai 1842 in der Poliklinik Hülfe suchte.
Die gelb-röthliche Gesichtshaut war durch zahlreiche
grössere und kleinere, in Gruppen beisammenstehende und
verschiebbare Hauttuberkeln uneben, hart und knotig ; tiefe
Längsfurchen durchzogen die Stirn und erstreckten sich zu
beiden Seiten der Nasenflügel bis hinab zu den Mundwinkeln.
Hierdurch, so wie durch die schlaffen, lang herabgezogenen
Ohren, durch die kleinen, in unstetem Feuer glühenden Au-
gen, in welchen sich der Ausdruck der Lüsternheit nicht
verkennen liess, durch die struppig hervorstehenden Bart-
haare bekam das Gesicht einen satyrartigen Ausdruck. Aber
auch der behaarte Theil der Kopfhaut war nicht verschont
geblieben; auf dem Hinterhaupte zeigte sich eine den be-
schriebenen ähnliche Geschwulst, welche von Haaren fast
entblösst, grauweiss und von tiefen gewundenen Furchen
durchzogen, fast das Anselm des Gehirns darbot, zumal sie
von weisslicher, nicht wie die Knollen im Gesicht von gelb-
rother Farbe war. Auf der rechten Seite des Halses, vom
Ohrläppchen bis in die Nähe des Kinns lag eine harte, kno-
tige, 4 Zoll lange und an ihrem obern Ende 2 Zoll breite
Anschwellung, welche von gelbröthlicher Farbe war, aus ei-
nem Convolut von Hauttuberkeln bestand, und so wie eine
ähnliche kleinere und flachere Geschwulst auf der linken Seite
des Halses , allnfählig in die ' lederartige knollige Metamor-
phose der Halshkut überging. Auf der Oberfläche dieser
197
Knoten, vorzugsweise der linken Seite, zeigte sich eine feine,
weisse Abschilferung. *)
Die Untersuchung des von Kleidungsstücken entblössten
Körpers ergab eine Broncefarbe des ganzen Rumpfes und der
Extremitäten, mit Ausnahme der von der Krankheit völlig
verschonten Hände und Füsse. Farbe, Temperatur, Sensi-
bilität und Motilität derselben waren unverändert, an den Na-
gelgliedem der Finger und Zehen nicht die geringste Abnor-
mität wahrzunehmen. Nur über anhaltende und nicht zu
beseitigende Kälte der Hände und Füsse wurde oft geklagt.
An allen andern Theilen war die Haut lederartig verhärtet ;
hier imd da zeigten sich Knoten in derselben, vorzugsweise
aber in den zur Achselhöhle sich hinziehenden Falten und
an den Gelenken, wo man ganze Convolute wahrhafter, nicht
verschiebbarer Hautknollen wahrnahm. Die Achsel- und
Leistendrüsen , vorzugsweise die erstem, waren bedeutend
vergrössert, von fast scirrhöser Härte, und standen durch sehr
entwickelte Lymphgefässe mit ähnlichen Geschwülsten an
den Ellbogen- imd Kniegelenken in Verbindung. Mit Aus-
nahme der normal beschaffenen Eichel und Vorhaut nahm
auch die Haut der äussem Geschlechtstheile an der allge-
meinen krankhaften Färbung und Entartung Theil. Achsel-
höhle, Brust und Schaamberg zeigten keine Spur der ihnen
zukommenden Behaarung, indem nach Aussage des Kranken
seit dem Beginne der Krankheit die Haare nach und nach
sämmtlich ausgefallen waren.
Trotz dieser Entartimg der Haut war doch die Sensi-
bilität derselben nicht im geringsten beeinträchtigt. Ihre Se-
cretion war bedeutend vermehrt , klebrig imd von so saurer
Beschaffenheit, wie sie kaum im Rheumatismus acutus ge-
funden wird. Diesem Umstande muss man wahrscheinlich
den heftigen Pruritus zuschreiben, welcher dem Kranken keinen
Augenblick Ruhe gönnte und sich zur grössten Qual steigerte,
sobald er die entblösste Haut dem unmittelbaren Einflüsse
*) Vergl. das Portrait des Kranken auf der zwntcn Tafel.
198
der Luft aussetzte, während die Wärme seine Leiden min-
derte. Aus diesem Grunde pflegte er sich selbst im heissen
Sommer übermässig warm zu kleiden.
Bei genauerer Untersuchung bemerkte man auf der Haut
des Rückens livide Flecke, welche mit der allgemeinen gelb-
rothen Farbe ab wechselten. Die Ursache dieses Farbenspiels
lag in der grossem oder geringem Entwicklung der venösen
Capiüargefässe, welche vorzugsweise im Umkreise der entste-
henden Hauttuberkeln schon mit dem unbewaffneten Auge, noch
mehr aber mit Hülfe einer Lupe wahrgenommen werden konnten.
In naturgemässem Verhältniss zu der gesteigerten Haut-
thätigkeit stand die Menge des entleerten Urins. Der Kranke
urinirte nur sehr wenig, höchstens 3 — 4 ^ täglich, der Ham
selbst war sehr dunkel, nicht sedimentirend, und von auffal-
lend saurer Beschaffenheit. Die Functionen des Genitalien-
systems waren wesentlich gestört, indem nicht allein vollkom-
mene Impotenz, sondern sogar entschiedener Widerwille gegen
die Ausübung des Beisclüafs stattfand. In Widerspruch mit
der kräftigen Muskulatur und dem starken Knochenbau des
Kranken stand die grosse Abgeschlagenheit und Trägheit,
die sich in allen seinen Handlungen aussprach. Mit Aus-
nahme einer bedeutenden Abnahme des Gedächtnisses, die sich
seit dem Beginne der Krankheit eingefunden, und einer
ungewöhnlichen Reizbarkeit, waren keine andre krankhafte
Symptome aufzufinden.
Schon der erste Anblick des Kranken genügte, um die
Diagnose sofort auf Lepra Arabum tuberculosa (Ele-
phantiasis) zu stellen. Damit war zugleich auch die
Prognose gegeben: denn wenn auch die Krankheit an sich
nicht den Tod herbeiführt, so gesellte sich doch in den mei-
sten bisher beobachteten Fällen allgemeiner Hydrops, oder
Phthisis laryngea hinzu.
Die von andern Aerzten bisher versuchten Mittel, meist
urintreibende und abführende, waren ganz erfolglos geblieben.
Um daher sogleich kräftig auf die Constitution des Kranken
einzuwirken, wurde in der Poliklinik der Gebrauch des
199
ZiTTMANN’schen Decocts verordnet und vier Wochen fortge-
setzt. Diese Kur bewirkte nicht allein einen Nachlass der
starken Schweisse und des so lästigen Juckens, wobei gleich-
zeitig die Quantität des stark sedimentirenden und noch immer
sehr sauren Urins beträchtlich zunahm, sondern hatte auch
ein Schwinden der Hauttuberkeln an den Extremitäten und
ein Abschwellen der Achsel- und Leistendrüsen bis fast zu
ihrem normalen Umfange zur Folge. Auch die Abschilferung
der Hautknollen im Gesicht und am Halse verlor sich. Da-
o-eo-en liess sich nicht verkennen, dass, während die Krankheit
o o
an den Extremitäten sich zurückzubilden schien, die auf dem
Kopfe, im Gesicht und am Halse befindlichen Knoten an
Umfang bedeutend Zunahmen, imd an mehrern Stellen näs-
sende Einrisse bekamen, so dass die Entstellung des Gesichts
imd das Volumen des Kopfes um ein Bedeutendes vermehrt
wurde. Auffallend war dabei die Trägheit des Darmkanals,
indem in der letzten Zeit der Kur das Decoct und die stärk-
sten Dosen Calomel (es wurden einmal acht Gran pro dosi
gegeben) kaum im Stande waren, einmalige Leibesöffnung
hervorzurufen. Erst einer Verbindung des Calomel mit star-
ken Dosen Sapo jalappin. gelang es, einige breiartige, saure,
die Umgebung des Afters corrodirende Stuhlgänge zu be-
wirken. Nach achttägiger Kühe wurde nun zu Ende des
Monats Juni die Solutio Fowleri in folgender Form verordnet:
Solut. Fowleri, Acp destill. ää 5j , Tinct. thebaicae 3j.
M. D. S. zweimal täglich sechs Tropfen zu nehmen, womit
der Gebrauch eines Thees aus Spec. pro Decoct. Lignor. ver-
bunden wurde. Kaum war jedoch der Gebrauch des Arseniks
begonnen, als eine beunruhigende Steigerung aller Krankheits-
erscheinungen das Wiederaussetzen desselben dringend gebot.
Die Geschwülste im Gesicht und am Halse erreichten das
Doppelte ihres frühem Umfangs, so dass das rechte Auge und
der Gehörgang derselben Seite ganz; geschlossen wurden ; eine
von brennendem Gefühl begleitete Röthe überzog die Ge-
schwülste, deren nässende Falten und Risse Fliegen und
anderes Ungeziefer herbeilockten, welches die Leiden des
200
Kranken auf den höchsten Grad steigerte. Das heftige Jucken
veranlasste den Kranken, mehrere sich bildende Knoten auf-
zukratzen, wobei sich eine geringe Menge dünner, zäher,
gelblich- weisser I lüssigkeit ergoss. Bei der mikroskopischen
Untersuchung derselben fand Herr Dr. Becker Epidermis-
zellen imd eine beträchtliche Menge von Blut- und Fettkü-
gelchen. Die Vervollständigung der Untersuchung durch die
chemische Analyse war bei der geringen Quantität der er-
haltenen Flüssigkeit unmöglich. Da der Kranke den Mund
nicht mehr öffnen konnte, so musste man sich zur Unter-
suchung der rissigen lederartigen Zunge des Fingers bedienen,
den man nach Art eines Keils in den Mund hineindrängte.
Gleichzeitig schwoll der ganze rechte Arm an, gab aber der
untersuchenden Hand überall nur das Gefühl einer gleich-
mässigen Härte. Trotz aller dieser Erscheinungen blieb der
ganze Zustand auch jetzt noch vollkommen fieberlos. Ein
starkes Abführmittel aus Infus. Fol. Sennae mit Syr. domestic.
ermässigte zwar die Hitze und Röthe des Gesichts, so dass
nach dreitägigem Intervall der Gebrauch des Arseniks wieder
begonnen werden konnte; allein alle Bemühungen blieben nun
erfolglos : die Gesichtsgeschwülste nahmen mehr und melfr
zu, die jauchige Secretion ihrer Furchen wurde stärker,
neue Knollen bildeten sich am Rumpf und an den Extremi-
täten, die Leisten- und Axillardrüsen schwollen von neuem
an, die Schleimhäute der Augenlider und der Mundhöhle
bedeckten sich mit einem dicken, weissgelben Schleim, so dass
nach acht Tagen, zumal da heftige Leibschmerzen eintraten,
die Solut. Fowleri mit dem Kali hydriodicum, in einem Inf.
Fol. Sennae aufgelöst, vertauscht wurde. Allein auch dieses
Mittel vermochte nicht die Fortschritte der Krankheit aufzuhal-
ten: die Mitleidenschaft der Schleimhäute trat von Tag zu
Tag mehr hervor, so dass ein dicker eiterartiger Scldeim fort-
während aus dem Munde floss, und ein entschieden blennor-
riioischer Zustatid der Conjunctiva, vorzugsweise auf dem
rechten Auge, sieh entwickelte. Eine mühsame, beschleunigte,
sonore Respiraticn und starke Schlingbeschwerden bekunde-
201
ten die Theilnahme der Bronchial- und Schlundschleimhaut.
Die Stimme hatte einen rauhen, heisem Ton angenommen.
Ein fötider Geruch umgab das Lager des Kranken, dessen
Bett durch die anhaltenden sauren Schweisse im eigentlichen
Sinne des Worts durchnässt wurde. Bemerkenswerth war
der Mangel aller febrilen Symptome und die Integrität der
psychischen Functionen. Die unerträglichen Leiden Hessen
den Kranken selbst seinen Tod sehnlichst herbeiwünschen.
So blieben die Erscheinungen der Krankheit bis zum 21. Juli,
als sich plötzlich die Geschwulst des Gesichts verminderte,
der Mund wieder geöffnet werden konnte, und die jauchende
Secretion der Geschwülste abnahm: dafür entwickelte sich
aber Anasarca der rechten Körperhälfte und Ascites: auch
im Thorax schien sich seröses Exsudat zu bilden; doch liess
sich dies nicht mit Sicherheit ermitteln, da der Kranke sich
der Anwendung der physikalischen Untersuchungsmethoden
hartnäckig widersetzte. Auch Fieber mit starken abendlichen
Exacerbationen bildete sich jetzt aus, und ein tief eindringen-
der Decubitus beschleunigte die Auflösung des Kranlien,
die unter suffocatorischen Zufällen am 30. Juli erfolgte.
Am folgenden Tage wurde die Section von Herrn Prof
Schlemm gemacht.
Beim Einschneiden der Brustbedeckungen zeigte sich
das Fett im Unterhautzellgewebe total geschwunden und durch
eine seröse Flüssigkeit ersetzt. Dieselbe Bemerkung gilt
von dem Fettzellgewebe an allen übrigen Körpertkeilen. Die
Haut selbst war verdickt und verhärtet, so dass sie erst durch
wiederholte Incisionen getrennt werden konnte. Im vordem
Mediastinum fand sich eine bedeutende Menge milchig -se-
röser Flüssigkeit. Die Lungen adhärirten, besonders in der
linken Thoraxhälfle und mit ihrer hintern Fläche mehr oder
weniger fest an der Costalpleura : auch zeigte sich im hintern
obem Theile der Anken Brusthöhle eine ziemlich beträchtliche
Menge coagulirter Lymphe. Beide Brusthöhlen enthielten
viel wässrige gelbliche Flüssigkeit, deren Menge in der linken
wohl zwanzig Unzen betragen mochte. Die peripherischen
14
i
Berlin, gedruckt bei J. F. Stare lce.
Z,JÄ . FuaZ p.S.Dei&niejrs in,J3&r&rz/.